Montag, 7. Mai 2007

Doppelherrschaft in Brasilien

Abmachungen mit dem Terror - Zurückweichen vor krimineller Gewalt


Mafia-Angriffe in Sao Paulo wurden nach fünf Tagen abgebrochen


Von Karl Weiss


In Brasilien existiert faktisch eine Doppelherrschaft. Einerseits gibt es die Herrschaft des Präsidenten Lula mit seinem Staats- und Gewaltapparat und den dahinter stehenden Kräften, andererseits die Herrschaft von bewaffneten kriminellen Mafia-Banden, die sich immer mehr ausweitet. Die beiden Herrschafts-Gruppen haben sich miteinander arrangiert und vereinbarungen geschlossen, ja, sie haben in einigen Fällen bereits eine Personalunion von beiden Seiten hervorgebracht (gleiche Personen, die zu beiden Gruppen gehören).

Ein Beispiel dafür waren die bewaffneten Angriffe der Mafia-Bande "Primeiro Commando da Capital" (PCC) auf Polizeistationen in São Paulo vor Jahresfrist.

Die Angriffe wurden mit Bomben, Schnellfeuergewehren und Maschinenpistolen auf Polizeireviere durchgeführt, ebenso wie mit gezielten Schüssen auf offenbar vorher ausspionierte Polizisten in Zivil und auf Polizeiautos, darunter eines, das auf einer belebten Brücke in der Stadt São Paulo fuhr.

So plötzlich, wie sie begonnen hatten, wurden die Angriffe nach fünf Tagen eingestellt. Nach etwa 250 bewaffneten Angriffen, einige auch außerhalb des Staates, und nach Aufständen in praktisch allen Gefängnissen des Bundesstaats São Paulo, nach insgesamt über 125 Toten, davon ein großer Teil Polizisten und andere Sicherheitskräfte, wurde offenbar eine Abmachung mit den Verbrechern geschlossen.

Die Terrorbande hätte die Angriffe nach allen seriösen Einschätzungen noch lange weiterführen und das Leben der 20-Millionenstadt São Paulo zum Erliegen bringen können, so wie dies am zweiten Tag der Angriffe schon der Fall war(tagsüber konnten die Menschen ihre Arbeitsstelle nicht erreichen, weil fast keine Omnibusse fuhren, nachts hatten die Banditen eine inoffizielle Ausgangssperre verhängt, die fast vollständig eingehalten wurde).

Doch das offizielle São Paulo dementiert energisch, daß man verhandelt habe und mit Terrororganisationen Verträge schließt. Der neue Gouverneur (entsprechend dem Ministerpräsident des Bundeslandes) wie auch der alte negieren, daß es eine Vereinbarung gegeben habe, deren Bruch zu den Terrorüberfällen geführt habe, wie auch, daß es jetzt eine neue Vereinbarung gebe.

Sie konnten aber nicht erklären, warum die Angriffe plötzlich begannen und plötzlich abgebrochen wurden, bzw. ihre Erklärungen waren nicht schlüssig. Die Umstände waren völlig eindeutig.

Der mutmassliche Anführer der kriminellen Mafia-Bande PCC sitzt ein und war zwei Tage vor Beginn des Terrors in ein Hochsicherheitsgefängnis 620 km von der Hauptstadt entfernt gebracht worden. Daraufhin begann die Terrorwelle.

Einer der Anwälte des mutmaßlichen Anführer der gefangenen Mitglieder der Mafia wurde nach dem Wochenende mit verringerter Terrortätigkeit mit dem Polizeihubschrauber (!) nach Presidente Wenceslau geflogen und konnte mit ihm sprechen, obwohl das Gefängnis-Statut des Hochsicherheitsgefängnisses ihm dies Recht erst nach 7 Tagen im neuen Gefängnis zugesteht. Bei diesem Gespräch war ein hoher Polizeioffizier des Staates zugegen. Wenige Stunden nach dem Gespräch waren alle Angriffe eingestellt und alle Revolten in den Gefängnissen waren friedlich zu Ende gegangen, etwas, was normalerweise Wochen von Verhandlungen dauert.

Corcovado von Botafogo aus

Ein Teil der Presse und zwei Fernseh-Stationen in Brasilien gehen davon aus, daß eine Vereinbarung erzielt wurde, deren Inhalte aber nicht bekannt sind. Wichtige Zeitungen, wie die größte Tageszeitung Brasiliens, die „Folha de São Paulo" sprechen offen über die Vereinbarungen. Selbst die „New York Times" hob in ihrem Artikel die vermuteten Vereinbarungen hervor.

Inzwischen ist es auch schon kein Geheimnis mehr, daß offenbar vorher bereits durch den alten Gouverneur eine Vereinbarung, genannt Waffenstillstand, geschlossen worden war. Nach Angaben der "Folha" wurden der Terrororganisation in diesem Vertrag zugestanden, daß seine Mitglieder, wenn sie gefasst werden, in Gefängnisse in der Nähe ihrer Wohnorte kommen und daß sie dort Handys zur Verfügung haben, um ihre „Geschäfte" vom Gefängnis aus führen zu können.

Einem Monat vorher war der Governeur von São Paulo, Alckmin, zurückgetreten, weil er als Kandidat seiner Partei, der PSDB, für die Präsidentenwahlen später im Jahr aufgestellt worden war. Seitdem war sein Stellvertreter Gouverneur. Der wusste entweder nichts von den Vereinbarungen mit der Verbrecherbande oder wollte Muskeln zeigen und begann die Gefangenen des PCC zu verlegen, was diese wohl als Bruch der Vereinbarungen auslegen mußte.

Nun zeigte die Terrorbande ihrerseits Muskeln und hätte dies wohl Wochen und Monate fortsetzen können. Nach Schätzungen der Medien hat das PCC etwa 5000 Mann zur Verfügung, nicht gezählt die Tausende von Helfern. Nach eigenen Angaben sind es 20.000. Damit aber ist zumindest deutlich geworden, daß es in Brasilien bereits eine Doppelherrschaft gibt, in der die Macht zwischen der Regierung einerseits und den Drogen-Terrorbanden andererseits geteilt ist, wobei beide Seiten mit Drohungen und Vereinbarungen das zerbrechliche Gleichgewicht zu halten versuchen.

Rio de Janeiro, Zuckerhut und Corcovado von Niteroi aus

Wie bereits gemeldet, war vorher schon eine Auseinandersetzung zwischen Staatsmacht und einer Terrorbande nach einem Waffenraub aus einer Militärkaserne in Rio de Janeiro mit einer Vereinbarung abgeschlossen worden, wie Presseorgane berichteten. Auch damals war die Vereinbarung dementiert worden. Man konnte aber auch in jenem Fall die Umstände nicht zufriedenstellend erklären.

Es gab in São Paulo erneut nächtliche Attacken einen Tag nach dem Ende der Angriffswelle und nachdem es eine Nacht ruhig geblieben war. Neben einer Anzahl verbrannter Omnibusse gab es u.a. einen Angriff auf eine Schule, einen auf ein Gebäude der Wasserversorgung und einen auf das Rathaus von Osasco, einer der Städte im Bereich Groß-São Paulo. Insgesamt wurden in dieser Nacht 17 Tote gezählt.

Beim genaueren Hinsehen stellt sich aber heraus, daß keiner der Angriffe mehr als Sachschaden verursachte, während alle 17 Toten angeblich Angreifer waren, die von der Polizei erschossen wurden. Ein Polizeisprecher nannte die Angriffe dieser Nacht ‚Surf’ von Amateuren, also Leuten, die auf einer Woge mitschwimmen. Dazu kam dann offensichtlich die ‚Nacht der langen Messer’, das Ritual von Polizisten immer, wenn Polizisten ermordet wurden: Statt die Verbrecher zu fangen, werden wahllos Leute in den Armenvierteln umgebracht und dann als „Angreifer" bezeichnet.

Inzwischen gibt es auch bereits andere Kriminelle, die im Gefolge des PCC ihre tödlichen Abrechnungen durchführen. So hatte nach Polizei-Angaben ein Massaker mit 10 Toten in dieser Nacht in Guarulhos im Großraum São Paulo keinen Zusammenhang mit dem PCC.

Eine Anzahl von Presseorganen und Fernsehstationen in Brasilien unterdrückte völlig alle Meldungen über die Vereinbarungen mit den Verbrechern, so als ob dies nicht offensichtlich wäre. Sie berichteten einfach nur, die Angriffe hätten aufgehört, ohne eine Begründung zu suchen. Offenbar ist man sich bewußt, daß es weitreichende Konsequenzen hat, wenn ins öffentliche Bewußtsein eindringt, daß die brasilianische Oligarchie mit Terrorbanden gemeinsame Sache macht.

Zwei Tage nach dem Ende der Attacken kam die Meldung, der Anführer der gefangenen PCC-Mitglieder, ein gewisser Cartola, werde aus dem Hochsicherheitsgefängnis zurückverlegt werden. Ein weiterer Beweis für das geleugnete Abkommen.

Offenbar war der Staat nicht bereit, in einen Krieg mit den Verbrechern einzutreten und machte stattdessen Zugeständnisse. Fragt sich, was genau der Grund dafür ist.

Die Regierung versucht den Schein aufrechterhalten, sie sei an der Macht und nicht das PCC.

Die "Folha" spekuliert, der Gesichtsverlust der Regierung, wenn man wochenlang nichts gegen die Terrorherrschaft einer Kriminellenbande unternehmen hätte können, wäre offenbar als so groß angesehen worden, so daß die Vereinbarung das kleinere Übel zu sein schien. Bleibt aber weiter die Frage, warum man dann nicht einen Krieg in vollem Umfang gegen die Terrorbande geführt hat, wenn wirklich eine so grosse Gefahr von ihr ausging.

Oder ist es etwa schon so, dass eine solche Kriegführung gar nicht möglich war, weil ein wichtiger Teil der brasilianischen Oligarchie bereits mit den Terrorbanden verknüpft ist und den Krieg sabotiert hätte (und bereits damit gedroht hat). In diesem Fall gibt es in Brasilien nicht nur eine Doppelherrschaft, sondern eine, in der sich die Regierung Ultimaten von Verbrecherbanden beugen muss.

Auch die vorherige Vereinbarung dürfte bereits in einer solchen Situation der Drohung zustande gekommen sein. Nach außen hin dementiert man einfach.


Dieser Artikel verwendet Teile eines früheren, der im direkten Zusammenhang mit den Ereignissen vor etwa einem Jahr erschienen war. Zu jener Zeit war aber eine umfasssende Analyse nocht nicht möglich. Darum wird dies hier noch einmal aufgegriffen. Das hat auch eine wichtige Bedeutung angesichts der Anklagen, die "Amnesty International" gegen die brasilianische Regierung vorgebracht hat, nicht konsequent gegen das organisiertes Verbrechen vorzugehen.

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