Zinsknechtschaft
Von Elmar Getto
Brasilien hat erneut den Leitzins erhöht und liegt mit jetzt 17,75% an der Spitze aller Länder. Ja, ja, genau jener Zins, der in der EU bei 2% liegt. Für die Brasilianer heißt das Tag und Nacht schuften und doch weniger verdienen als man zum Leben braucht. Brasilien zahlte im Jahre 2003 etwa 50 Milliarden Dollar (‚50 Billion Dollars’) allein an Zinsen seiner Schulden, ohne damit auch nur 1 Cent der Schulden zurückgezahlt zu haben. Die Zahlen von 2004 dürften diesen Rekord noch überbieten.
Die Zinsknechtschaft war eine Einrichtung in den Zeiten des Feudalismus, bei der die Offensichtlichkeit der Unterdrückung und Ausbeutung etwas geringer war als bei der Leibeigenschaft. Das zu bebauende Land wurde dem Bauern als „Lehen“ gegeben und er mußte „Zinsen“ durch Abgabe eines Teils der Ernte leisten. Dies hatte viele Vorteile für die Feudalen gegenüber der Leibeigenschaft: Es konnten höhere Anteile als 10% der Ernte für sie erzielt werden (die Leibeigenen brauchten ja nur „den Zehnten“ von ihrer Ernte abgeben; in vielen historischen Orten gibt es heute noch die „Zehntscheuer“), der Feudalherr war nicht mehr für die Verteidigung der Bauern zuständig und bei schlechten Ernten gingen seine Einnahmen nicht zurück, der Bauer mußte dann eben einen weit größeren Anteil von seiner Ernte abgeben.
Die neokoloniale Ausbeutung der Entwicklungsländer heute ist ebenfalls zum Teil auf einer Zinsknechtschaft basiert.
Die heutigen kapitalistischen Volkswirtschaften haben die Einrichtung des Leitzinses (Basis-Zinssatzes oder Referenz-Zinssatzes) geschaffen, der von den Regierungen oder Zentralbanken festgelegt wird. Das ist der Zinssatz pro Jahr, zu dem Banken sich bei der Zentralbank „refinanzieren“ können, also Geld leihen können.
Die Ökonomen ziehen von diesem Zinssatz die jährliche Inflationsrate ab und kommen dann auf den realen Leitzins oder „realen Jahreszins für die Refinanzierung“. Dieser Real-Leit-Zins ist in allen imperialistischen Ländern nahe bei Null gelegen, das heißt der Zinssatz für Refinanzierung liegt in etwa bei der jährlichen Inflationsrate. Banken und auch die Finanzabteilungen größerer Firmen können Geld praktisch ohne reale Zinszahlungen bekommen.
Diese Sicht, bei der die Inflationsrate von den Zinsen abgezogen wird, ist offensichtlich die Sicht der Kreditnehmer, in diesem Fall also der ‚Finanzagenten’ (Banken, Broker, Finanzabteilungen der großen Firmen). Sie müssen ja bei der Rückzahlung außer den Zinsen den Nennwert des Kredites zurückzahlen, der um die Inflation an wirklichem Wert verloren hat. Hat, wie im Moment, Europas Zentralbank 2% Leit-Zinsen und in etwa 2% Inflation, hat das, was man nach einem Jahr zurückzahlt, praktisch den gleichen Wert wie das entliehene Geld. Für die Zentralbank – und damit für den Staat – ist die Rechnung ja umgekehrt. Sie bekommt nach einem Jahr das Geld mit den Zinsen zurück, doch zusammen repräsentiert das lediglich den Wert, den man entliehen hat – man erhält also in Wirklichkeit keine Zinsen. In anderen Worten: Der kapitalistische Staat offeriert den Finanzagenten und damit vor allem den Banken und großen Unternehmen umsonst Geld.
Nicht so in den Entwicklungsländern. Dort sind meistens positive Realzinsen vorhanden, z.T. sogar hohe. Das wird damit begründet, daß in diesen Ländern das Risiko von angelegtem Kapital höher sei. Deshalb müsse ein ‚Risikozuschlag’ an die Kapitaleigner gezahlt werden.
In der Praxis ist die Höhe des Leitzinses eine der Auflagen, die der Internationale Währungs-Fond (IWF, dessen Chef Bundespräsident Köhler bis kurz vor seiner Wahl war) den Entwicklungsländern macht, wenn sie wieder einmal „frisches Geld“ brauchen, um z.B. eine fällig werdendes Lot von Anleihen zahlen zu können. Andere solche Auflagen sind üblicherweise Austerity-Massnahmen im Land, das ist das, was man als neo-liberale Politik bezeichnet.
Dazu gehören vor allem der Abbau von öffentlichen Beschäftigten bzw. Kürzungen der Entlohnungen, aber auch Erhöhung von Konsumsteuern (Benzinsteuern, Tabaksteuern, Mehrwertsteuern). Weiterhin gehören dazu der Ausgleich des Staatshaushaltes (das heisst Streichen von Sozialleistungen), die Erhöhung des „primary superavit“ (das heisst Aufschieben dringender Infrastrukturmassnahmen, erneute Erhöhung von Abgaben und Streichen des letzten Restes von Sozialleistungen) und das Einbringen und Annehmen bestimmter Gesetze in den Parlamenten, die z. B. Privatisierungen vorsehen und den multinationalen Monopolen den Zugang zu den Unternehmen des Landes erleichtern. Es werden „Vereinbarungen“ (in Wirklichkeit sind das Diktate) geschlossen, in denen sich dasjenige Land zu bestimmten Maßnahmen und Zinsen verpflichtet und der IWF dann Gelder ‚freigibt’.
Sollte es ein Entwicklungsland entgegen den Auflagen des IWF wagen, seinen Refinanzierungs-Zinssatz auf „imperialistisches Niveau“ zu senken, würde sofort alles ausländische Kapital abgezogen, die lokale Währung würde gegenüber den Leitwährungen ins Bodenlose fallen, alle Produkte aus dem Ausland würden fast unbezahlbar werden und die Inflation in die Höhe schießen. Damit würde die lokale Wirtschaft zusammenbrechen. Außerdem würde das Land auf die Liste der „Schurken-Staaten“ gesetzt oder jedenfalls damit gedroht.
Von Zeit zu Zeit wird die Kraft der Ökonomie eines Entwicklungslandes überschätzt und die Anforderungen übersteigen, was das Entwicklungsland aufbringen kann. Dann ist die Regierung nicht in der Lage, fällig werdende Zahlungen (Zinsen oder Rückzahlungen von Schulden) aufzubringen. Das Land tritt in eine Krise ein. Es muß dann die Landeswährung drastisch gegenüber den Leitwährungen abwerten (was die Auslandsschulden im gleichen Maß in die Höhe schnellen läßt, denn die sind natürlich nicht in Landeswährung), der IWF machte neue und schärfere Auflagen, um Geld freizugeben, damit die Zahlungsfähigkeit wieder hergestellt wird und die Bevölkerung des jeweiligen Entwicklungslandes muß schwere Restriktionen ‚schlucken’.
Dies geschah z.B. mit mehreren Ländern Asiens bei der Asienkrise des Jahres 1998, mit Brasilien im Jahre 1998/1999 und mit Argentinien im berühmten Dezember 2001, dem „Argentinazzo“.
In Brasilien wurde in der Woche vor Weihnachten der Leitzins (Refinanzierungs-Zinssatz) angehoben auf 17,75% pro Jahr. Damit liegt Brasilien bei einem realen Refinanzierungs-Satz von etwa 11,1% jährlich, dem höchsten auf der Welt.
Den zweiten Platz hält die Türkei mit etwa 10,9%.
Danach kommen Südafrika mit 7,1%, dann Mexico mit 4,4%, danach Israel (4%), Ungarn (3,6%) und die Philippinen (3,4%).
Das bedeutet in der Praxis, daß sogenannte Finanzagenten (das sind Beauftragte von Banken, größeren Firmen und Superreichen) in diesen Ländern Staatsanleihen erwerben können, auf die diese realen jährlichen Zinsen in der Landeswährung gezahlt werden. Wenn z.B. die Deutsche Bank bei der Bundesbank 1 Milliarde Euro aufnimmt (zu Zinssätzen, die real – minus Inflation - etwa bei Null liegen) und an ihre Filiale in der Türkei überweist, kann die dort das Geld in Landeswährung wechseln und solche Regierungs- oder Zentralbanks-Anleihen kaufen. Nach einem Jahr kann sie das Geld zurückholen und hat über 100 Millionen Euro gewonnen, ohne irgendeine Leistung erbracht zu haben! Macht die Deutsche Bank das gleiche mit 100 Milliarden Euro, so gewinnt sie über 10 Milliarden Euro usw. Man nennt so etwas „Spekulation“, aber da ist nichts spekulatives dran, es ist einfaches „Absahnen“. Die Gesamthöhe ist natürlich durch den Gesamtumfang der von dem jeweiligen Staat ausgegebenen Anleihen (oder Bonds) begrenzt.
Wo kommt dieses Geld her? Es muß von den Regierungen dieser Länder aus deren Werktätigen herausgepreßt werden in Form von Steuern und Abgaben.
In Brasilien z.B. ist der Anteil der Steuern und Abgaben am Brutto-Sozialprodukt (Gesamt-Wert aller erbrachten Leistungen) im Jahre 2004 über die 40%-Marke gestiegen, das dürfte Weltrekord sein und hängt natürlich mit dem oben gennten Weltrekord an Zins zusammen. Es braucht nicht weiter erwähnt zu werden, daß zu diesen 40% die internationalen Großkonzerne und Banken im Land wenig beitragen, sondern daß dies im wesentlichen von den arbeitenden Menschen aufgebracht werden muß sowie von Kleinst-, Klein- und Mittelbetrieben.
Es ist deutlich, dass diese Zahlen nichts mit „Risiko“ zu tun haben. Sie sind schlicht und einfach durch die Menge von Werten bestimmt, die aus dem jeweiligen Land herauszuholen sind, ohne daß dessen Wirtschaft sofort zusammenbricht. Bestimmende Faktoren sind:
- - Brutto-Sozialprodukt (Brasilien ist das Entwicklungsland mit dem höchsten Brutto-Sozialprodukt),
- Ausbildungsgrad und Produktivität der auszubeutenden Arbeiter (Türkei, Israel, Ungarn),
- Größe der Industrie und der Industriearbeiterschaft (Brasilien, Türkei),
- Anzahl der auszubeutenden Bevölkerung (Brasilien ist das fünft-bevölkerungsreichste Land der Erde),
- Landwirtschaftlich genutzte Fläche (Brasilien, Mexico, Philippinen),
- Bodenschätze (Südafrika, Brasilien)
Allerdings ist diese ‚Zinsknechtschaft’ keineswegs das einzige Ausbeutungsinstrument für Entwicklungsländer. Wenn z.B. der heute weltweit größte Konzern, die Shell (mit vollem Namen: Royal Dutch – Shell), ein Ölfeld im Golf von Mexico auf mexikanischem Gebiet ausbeutet, so macht sie Profite zunächst natürlich mit dem dort gewonnenen Rohöl. Sie muß zwar für die Genehmigung, das dort zu tun, eine Lizenz vom mexikanischen Staat erwerben und dann für jeden geförderten Barrel Rohöl einen kleinen Prozentsatz des Wertes, die sogenannten ‚Royalties’, an Mexiko zahlen, der aber im Vergleich zu dem Gewinn aus der Nutzung des Erdöls minimal ist.
Aus dem oben Gesagten geht hervor, daß sie sich diese kleine „Abgabe“ auch noch über die ‚Zinsknechtschaft’ von Mexiko wiederholen kann – und noch viel mehr.
(Quelle für die oben genannten Zahlen: INVERTIA - Brasilien, Veröffentlichung im Internet auf Portugiesisch)
Dieser Artikel erschien in der "Berliner Umschau" (damals Rbi-aktuell) am 27.12 2004. Die exakten Zahlen von damals sind heute etwas anders, aber das Schema ist und bleibt das gleiche.