Brasilien: Gegen alle Medien
Von Karl Weiss
Das ist ein fast unglaubliches Phänomen: Die Beliebtheit von Präsident Lula in Brasilien ist ungebrochen, obwohl hier alle, wirklich alle Medien ohne Unterlass gegen ihn hetzen. Seit Jahren hat Lula eine Zustimmung von etwa 80% in den Umfragen. Könnte Lula für eine dritte Amtszeit kandidieren, würde er mit einem Rekordergebnis gewählt. Er hat seine „Kanzleramtsministerin“ Dilma Roussef als Kandidatin „der Fortsetzung“ gekürt und sie führt in allen Umfragen zur Wahl. Am Sonntag wird in Brasilien gewählt.
Seit dem Amtsantritt Lulas vor 7 einhalb Jahren hat die Presse und das Fernsehen in nicht abreißender Folge Korruptionsskandale seiner Partei und seiner Regierung ans Tageslicht gebracht. Gerade jetzt vor der Wahl wurde ein neuer Skandal um die Nachfolgerin von Dilma Roussef als „Kanzleramtsministerin“ (hiesige Bezeichnung "casa civil") aufgedeckt.
Doch Lula bleibt weiterhin beliebt. Ein Präsident am Ende von 2 Amtszeiten mit 80% Zustimmung in der Bevölkerung dürfte einmalig auf der Welt sein.
Die designierte Nachfolgerin wird in Fernsehen und Presse als „Terroristin“ gebrandmarkt, weil sie während der Militärdiktatur in Brasilien in einer Oppositionsgruppe mitarbeitete und alle Diktatoren natürlich jegliche Opposition als „Terrorismus“ denunzieren.
Trotzdem kann Dilma, wie sie hier nur kurz genannt wird, auf fast 50% der Stimmen rechnen, während der Kandidat der brasilianischen Oligarchie, Serra, bei etwa 27% in den Umfragen liegt.
Wie ist so etwas möglich. Wie konnten die Medien in Brasilien so an Einfluss verlieren?
Weil das erste Mal in der Geschichte der Republik Brasilien von mehr als 100 Jahren ein Präsident nicht NUR an der persönlichen Bereicherung und der seiner Familie und Freunde gearbeitet hat, sondern auch einige Brosamen für das Volk hat fallen gelassen.
Während die erste Amtszeit noch gemischt mit neoliberalen „Reformen“ war, hat Lula in der zweiten Amtszeit konsequent die Massenkaufkraft gestärkt un d damit einen anhaltenden Boom ausgelöst. Die sozialen Programme wie „Bolsa familia“ (Familien-Stipendium) und andere haben den Ärmsten der Armen in Brasilien zumindest soviel zukommen lassen, dass sie keinen Hunger mehr leiden müssen. Die Erhöhung des Mindestlohn, Jahr für Jahr und immer einen Monat früher, hat zu einer Verdoppelung dieses monatlichen Mindestlohns auf heute 510 Reais (etwa 230 Euro) geführt.
Daraus ergab sich eine Injektion von Millionen von Reais in die Geldbeutel der nicht ganz so Armen. Diese Gelder gehen praktisch vollständig in den Konsum und drücken damit von unten in die Gesellschaft. Das führt zum Anwachsen der vorher kaum vorhandenen Mittelschicht. Auch massive Einstellungen im Staatsdienst und deutliche Lohnerhöhungen für die Staatsbediensteten trugen dazu bei.
Die Opposition und mit ihr der Monopol-Fernsehsender Globo und alle Zeitungen und Magazine spucken Gift und Galle: Die Staatsausgaben seien unverantwortlich aufgebläht, die Staatsquote zu hoch und wie alle die Glaubensbekenntnisse der „Wirtschaftswissenschaften“ noch heißen.
Vergleicht man aber die Staatsverschuldung mit der Deutschen, kommt die Überraschung: In Brasilien ist die Verschuldung nicht höher als die Devisen-Reserven, man ist also praktisch schuldenfrei. In Deutschland dagegen, wo alle Regeln eingehalten wurden, ist die Staatsschuld bereits unbezahlbar geworden.
Die Mittelschicht in Brasilien wird nach Schätzungen von Fachleuten in einer Anzahl von Jahren an die 50 Millionen Menschen herankommen, also die Größenordnung der gesamten Bevölkerung Großbritanniens.
Dazu trug nun auch das Wirtschaftswachstum bei, das im ersten Halbjahr bei 8,8% lag im Vorjahresvergleich, während im Vorjahr noch ein leichtes Minus zu verzeichnen war. Für das ganze Jahr rechnet man mit 7% Wachstum, was selbst für ein Schwellenland sehr hoch ist. Man kann ohne Übertreibung von einem Boom sprechen, was natürlich unter den gegebenen Umständen stark der Bevölkerung zu gute kommt.
Und die Bevölkerung merkt das und lohnt es mit der hohen Zustimmung zum Präsidenten.
Auch wenn 98 von Hundert schweren Problemen Brasiliens weiterhin nicht gelöst sind, erkennen die Menschen die Lösung zumindest zweier Probleme an: Der Hunger und die Staatsverschuldung.
Brasilien ist weiterhin ein Land mit einem praktisch nicht vorhandenen Gesundheitssystem für die breiten Massen, mit einer Rate der Gewalt-Kriminalität mit über 40 000 Toten pro Jahr, mit einer mörderischen Polizei, mit Gefängnissen, die mehr Hölle als sonst etwas sind, mit schwersten Umweltproblemen (Vernichtung des Regenwaldes), mit einem völlig ungelösten Verkehrsproblem, mit Favelas (Slums) in allen Großstädten
und fast ohne Kläranlagen, aber die Fortschritte sind trotzdem sichtbar für den „kleinen Mann“.
Ein wesentlicher Teil der positiven Zukunftsaussichten für Brasilien kommt aber aus den großen Ölfunden im Meer weit vor der brasilianischen Küste. Die halbstaatliche Petrobras hat soeben die größte Kapitalerhöhung einer Firma aller Zeiten durchgezogen mit etwa 70 Milliarden Euro und konnte alle neuen Aktien problemlos absetzen und am nächsten Tag noch eine Erhöhung des Aktienpreises um 2% feiern.
Diese riesigen Geldsummen braucht die Petrobras für die Erschließung der Ölfelder „Pre-Sal“ über 100 km vor der Küste in 2000 bis 3000 Meter Meerestiefe unter einer Salzschicht von über einem Kilometer Dicke. Die Bohrung und Erschließung solcher Ölfelder ist extrem aufwendig und lohnt sich eigentlich erst mit einem Ölpreis über 90 Dollar pro Barrel, aber die Petrobras ist zuversichtlich, der Ölpreis wird dorthin tendieren.
Speziell ist diese Erschließung weit aufwendiger als im Golf von Mexiko vor der US-Küste, weil dort praktisch keine Sicherheitsvorkehrungen vorgeschrieben sind, wie man an der Katastrophe der BP-Plattform „Deepwater Horizon“ sehen konnte. In Brasilien müssen dagegen die international anerkannten Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden.
Heute ist die Petrobras von der Kapitalisierung her die zweitgrößte Firma der Welt, nur hinter der Exxon-Mobil.
Nach Schätzungen der Financial Times Deutschland könnte Brasilien in 15 bis 20 Jahren die fünftgrösste Volkswirtschaft der Erde sein, nur hinter den Vereinigten Staaten, China, Japan und Deutschland.