Vorbeugender Todesschuss in der EU offiziell eingeführt
Die Ermordung von Jean Charles Menezes wird ungesühnt bleiben
Von Karl Weiss
Der Fall Jean Charles Menezes: Am 1. November ist in London der zweifelhafte Ersatzprozess zu einem Schuldspruch gekommen, den die britische Justiz gegen “die Polizei” statt gegen die verbeamteten Mörder veranstaltet hat. Scotland Yard wurde für schuldig erklärt. Der Richter erklärte in seiner Zusammenfassung der Ermittlungsergebnisse, die Polizei führte ihre Operation so schlecht durch, dass das Publikum in Gefahr war und Jean Charles erschossen wurde. Folgerungen: keine!
Mit Scheinattentäter verwechselt
Am 22. Juli 2005, zwei Wochen nach den Terroranschlägen in der Londoner U-Bahn mit vielen Toten und einen Tag nach einem Schein-Attentat (Nachahme-Täter ohne funktionierenden Sprengstoff) von vier jungen Leuten, wurde Jean Charles, ein Brasilianer, der legal in Großbritannien lebte und als Elektriker arbeitete, mit einem der vier Verdächtigen des Scheinattentates verwechselt.
Hier sei in Gedenken an den Ermordeten sein Bild eingestellt
Als er sich in der U-Bahn gesetzt hatte, stürmten Polizisten einer sogenannten Elitetruppe in Zivil in den Waggon, ohne anzukündigen, sie seien Polizisten. Sie riefen nur „down!, down!“ und schienen in diesem Moment für die Zeugen eine bewaffnete Bande zu sein, die einen Überfall durchführte.
Exekution eines bereits Überwältigten
Jean Charles reagierte so wie andere Passagiere. Er erhob sich und ging in die entgegengesetzte Richtung. Er wurde von insgesamt fünf Polizisten überwältigt und festgehalten. Obwohl er nicht einmal mehr den kleinen Finger rühren konnte, schossen die Polizisten ihm insgesamt acht Mal in den Kopf. Das gesamte Gesicht wurde weggeschossen. Eine Identifizierung war erst Tage später durch einen DNA-Test möglich.
Es wurde also genau das durchgeführt, was Innenminister Schäuble auch bereits für Deutschland gefordert hat: Der vorbeugende Todesschuss bei Terrorverdacht.
Welches Niveau des Verdachts ist notwendig?
Nur hatte Jean Charles absolut nichts mit Terrorismus zu tun. Er hatte nur das Pech, im gleichen Häuserblock wie einer der Verdächtigen zu wohnen. Da kommen wir auch schon zu einem der entscheidenden Punkte: Es wird, wenn von Terrorverdächtigen gesprochen wird, so wie das der Präsident des BKA, der Innenminister, Beckstein und eine Horde weiterer Politiker zu tun pflegen, nie vom Niveau des Verdachtes gesprochen.
Ist er mit höchster Wahrscheinlichkeit in die Vorbereitung eines Teroranschlages verwickelt? Gibt es konkrete einschlägige Zeugenaussagen gegen ihn? Wie ist die Zuverlässigkeit der Zeugen einzuschätzen?
Der Fall Menezes zeigt, nein, man legt sich keineswegs auf wirklich heisse Fährten fest. Ein so minimaler Verdacht wie der, im gleichen Häuserblock wie eine Verdächtiger (nicht etwa eines Terroranschlages, sondern eines Scheinanschlages) zu wohnen, reichte bereits aus, um den vorbeugenden Todesschuss einzusetzen.
Jeder kann unschuldig in Verdacht geraten!
Sie, ich, jeder von uns kann so völlig ohne konkrete Verdachtsmomente innerhalb von Minuten zu einem „potentiellen Terroristen“ werden, denn man in den Kopf schiessen muss, weil er sonst eventuell noch den Sprengstoffgürtel auslösen könnte, den Terroristen ja immer am Körper tragen.
Damit ist auch die landläufige Gegenargumentation widerlegt, wer nichts getan habe, brauche auch nichts zu befürchten. Jean Charles Menezes, nicht mehr erkennbar wegen des fehlenden Gesichtes, winkt uns aus seinem Grab zu: Jeder, jeder kann unschuldig in Verdacht geraten!
Lügen und erschreckende Details
Die Meldungen hier in Brasilien zu dieser Schein-Verurteilung der englischen Polizei beziehen sich meist auf Details, die währenddes Prozesses ans Tageslicht kamen bzw. die als Erfindung der Polizei entlarvt wurden:
Er hätte trotz eines warmen Sommertages eine dicke Jacke getragen, unter der ein Sprengstoffgürtel hätte stecken können. Das war eine Polizeilüge. Er hatte eine leichte Jeans-Jacke an, unter der kein Sprengstoff zu verstecken war. Er sei auf der Flucht vor den Polizisten über eine Absprerrung der U-Bahn gesprungen. Das Video zeigte: Er schlenderte völlig unbedarft in den Bahnhof, holte sich eine Zeitung aus dem Automaten, kaufte ein Ticket, ging ganz ruhig durch die Sperre und bestieg den U-Bahn-Zug.
Andere Polizei-Erfindung: Er sei illegal in England gewesen, deshalb sei er vor Polizisten geflüchtet. In Wirklichkeit hatte er eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Er flüchtete auch überhaupt nicht.
Ebenso wurde deutlich: Er wurde von seinem Haustor bis zur U-Bahn von vielen Zivil-Polizisten überwacht, die über Funk mehrfach die Einsatzleiterin fragten, ob sie ihn nicht ansprechen oder überwältigen sollen. Nach den Aussagen wurde immer wieder Anweisung gegeben, ihn nur zu beobachten.
Die Ausrede für dies unverständliche Verhalten der Einsatzleitung war, man befürchtete, er habe eine Sprengstoffgürtel an und würde ihn zünden, wenn man ihn stoppt. Nur war aber die Behauptung mit der dicken Jacke schon widerlegt und es wurde unhaltbar, weiterhin vom Sprengstoffgürtel zu sprechen. Auch hat noch nie ein Terrorist ausserhalb des Nahen und Mittleren Ostens einen Sprengstoffgürtel benutzt.
Bewusstes Hinlenken auf neue Katastrophe?
Es wird deutlich, es handelte sich darum, man wollte den Zwischenfall bewusst zuspitzen, indem man wartete, bis die „Elitetruppe“ den Verdächtigen erreicht hatte. Das war nämlich erst in jener U-Bahn-Station der Fall. Hier, ausgerecht am Ort mit der grössten Menschenansammlung, liess man nun die Truppe auf den Verdächtigen los.
Pleiten, Pech und Pannen? Nicht unbedingt. Die andere Theorie ist, man wollte, soweit möglich, eine neue zugespitzte Situation schaffen, die dann eventuell endgültig die ganze Bevölkerung dazu gebracht hätte, dem völligen Aussetzen aller bürgerlichen und demokratischen Rechte zuzustimmen.
Laut den Zeugenaussagen hätte Jean Charles, wäre er wirklich ein Terrorist mit Sprengstoffgürtel gewesen, nämlich sehr wohl noch Zeit gehabt, eine Sprengung auszulösen, bevor er überwältigt wurde – in einer vollbesetzten U-Bahn!
Kaltblütiger Mord
Eine Erklärung, warum man ihn, nachdem er keinen Sprengstoffgürtel gezündet hatte und von fünf Polizisten überwältigt und festgehalten war, dann noch erschossen hat (kaltblütiger Mord)– und warum mit so einem Overkill von 8 Schüssen in den Kopf – gibt es nicht. Die Einsatzleiterin hat in mehreren Aussagen in Abrede gestellt, den Tötungsbefehl gegeben zu haben. Die wahrscheinlichste Deutung ist, die „Elitetruppe“ hat den generellen Auftrag, keine Zeugen für ihr Vorgehen zu hinterlassen – auch wenn das in einer vollbesetzten U-Bahn-Station ein wenig absurd ist.
Aber was ist schon nicht absurd an diesem Fall.
Die Mitglieder der „Elitetruppe“ (wenn das die Elite ist, dann stelle man sich die anderen vor!) bekamen vor Gericht das Recht, ihre Aussagen hinter einem dunklen Vorhang und unter einem Code-Namen zu machen. Auch das widerspricht bereits einem rechtsstaatlichen Prozess.
Einmaliger Ausrutscher?
All diese vielen absurden Details lenken aber eigentlich von dem Hauptpunkt ab: War dies ein einmaliger Ausrutscher? Hat man sich entschuldigt und für die Zukunft dafür gesorgt, dass so etwas nicht wieder geschehen kann? Nein, im Gegenteil.
Bereits damals hat der Premier Blair ausdrücklich betont, er werde sich nicht hierfür entschuldigen, denn man hätte so handeln müssen, es hätte sich ja um einen Terroristen mit Sprengstoffgürtel handeln können. Es gab aber gar keine dicke Jacke, unter der ein solcher Gürtel hätte versteckt werden können. Er hatte also in Wirklichkeit einen anderen Grund, denn er benutzte eine Ausrede, wie sich dann ja herausstellte.
Selbstverständlich hat er auch später jegliche Entschuldigung abgelehnt.
Keinerlei Entschuldigung
Auch der andere Verantwortliche, der damalige Chef von Scotland Yard, der zufällig auch Blair hiess, hatt Gleichlautendes gesagt. Alles sei korrekt abgelaufen, kein Polizei-Fehler, nur eine tragische Verwechslung.
Auch der englische Innenminister hat immer wieder betont, gegen mutmassliche Terroristen müsse man so vorgehen. Es handele sich um einen tragischen Unglücksfall, aber das Vorgehen sei völlig korrekt gewesen.
Justiz stützt Vorgehen - keine Straftat
Dazu kommt nun, die englische Justiz hat genau diese Auslegung gestützt, indem sie die Eröffnung eines Verfahrens gegen die verbeamteten Mörder von Jean Charles ablehnte und dies dann auch in der Revisionsinstanz bestätigte. Stattdessen hat sie nun das unwürdige Schauspiel eines Prozesses durchgezogen, der die Polizei verurteilte, nur gibt es keinerlei Konsequenzen.
Vorbeugender Todesschuss offiziell eingeführt
Damit ist der vorbeugende Todesschuss auf eventuell Terrorverdächtige, auch wenn bestenfalls winzigste Hinweise gegen die Person vorliegen (wie das Wohnen im gleichen Häuserblock wie ein Verdächtiger), zur offiziellen EU-Politik geworden. Umso mehr gilt dies natürlich für weniger weitgehende Massnahmen, wie das „Verschwinden-lassen“ (Festnehmen ohne Anklage, ohne Benachrichtigung der Angehörigen und ohne Recht auf einen Anwalt und in Folterhöhlen stecken).
Der grosse Bruder von jenseits des Atlantik hat es uns vorgemacht, nun wird es Zeit, dies auch hier zu praktizieren.
Kein Gesetz nötig
Man braucht nämlich, so hören wir Verteidigungsminister Jung sagen, dafür überhaupt keine Gesetze. Dort in England gab es ja keineswegs ein Gesetz, das den vorbeugenden Todesschuß erlaubt hätte. In einem „übergesetzlichen Notstand“ ist der Regierung und ihren Polizisten und Soldaten immer alles erlaubt – und wer den übergesetzlichen Notstand feststellt, ist natürlich die Regierung – dazu ist sie ja Regierung – verstanden? Na endlich.
Veröffentlicht am 2. November 2007 in der Berliner Umschau
Originalartikel