Fachkräftemangel?Pustekuchen!Unterbezahlung!
Von Karl Weiss
Es ist schon fast traditionell: Industrie und Dienstleister, immer tatkräftig vertreten durch die Industrie- und Handelskammern, beklagen einen Fachkräftemangel, der sogar ständig am Steigen sei und zu ernsten Mangelerscheinungen schon in einigen Jahren führen könnte. In Wirklichkeit ist das genaue Gegenteil der Fall. Die ARGEn Deutschlands sind voll mit erfarenen Fachkräften, die man nur anstellen müsste. Was in Wirklichkeit mangelt, ist die Bereitsschaft, Fachkräfte auch fachkräftig zu bezahlen.
Mehrere Zigtausend, bald bereits Hunderttausende von Fachkräften würden fehlen, so beklagt man in Industrie-Kreisen. Warum gelingt es den Firmen denn nicht, Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben?
Seit dem 1. Mai ist die Freizügigkeit in der EU Wirklichkeit – es war bereits die Überflutung mit Millionen von Ausländern an die Wand gemalt worden - und es gibt gerade einmal ein paar Handvoll von EU-Ausländern, die seitdem den Weg nach Deutschland gefunden haben. Und das betraf nicht nur Fachkräfte, sondern auch ungelernte Arbeiter.
Die Ursache ist recht einfach: Warum soll man ins Ausland gehen, wo man eine andere Sprache spricht, wenn man zu Hause mehr verdient?
Die deutsche Lohnsumme pro Beschäftigtem ist nominal heute auf dem Stand von 1991, dem Jahr nach der Wiedervereinigung. Das ist jetzt 20 Jahre her. Und das ist nominal, da ist die Inflation also gar nicht berücksichtigt. Wenn wir die auch in Rechnung stellen, sind wir am Anfang der 80er Jahre angelangt und wenn dann noch die grosse Mehrwertsteuererhöhung der ebenso grossen Koalition in Betracht gezogen wird, für die es ja nie einen Ausgleich gab, so sind wir bei der Lohnhöhe der 70er-Jahre angelangt.
Oder mit anderen Worten gesprochen, alle Verbesserungen in der Bezahlung, die es je seit den 70-Jahren gegeben hat, das sind also 40 Jahre, wurden den deutschen Beschäftigten bis heute schon abgeknöpft und wie die Dinge stehen, wird man dort nicht stehen bleiben, sondern uns zurück in die Fünfziger Jahre befördern, das war (ich kann mich noch erinnern), als die meisten Deutschen sich noch keinen Fernseher leisten konnte. Die Fussballfans mussten sich vor die Schaufenster von Radio-Fachgeschäften stellen (und dort bildeten sich riesige Trauben), wo ein Fernseher aufgestellt war, um eine Spielübertragung zu sehen.
Um das konkretisieren zu können – vor allem darin, was das ausmacht, habe ich einen Bekannten darüber befragt, was heute ein Chemiker wie ich als Eingangsgehalt bekommt, was er nach etwa 2 Jahren bekommt, was er im Schnitt nach 14 Jahren in der Industrie hat und schliesslich, auf was er in etwa nach 25 Jahren in der Industrie kommt.
Die Antworten (ich kann nicht genau abschätzen, ob die richtig sind, aber vielleicht können die Leser auch etwas dazu beitragen):
Eingangsgehalt für einen Chemiker Diplom-Ingenieur (FH): Etwa 1200 bis 1600 Euro brutto; nach zwei Jahren etwa 1500 bis 2000 Euro brutto; nach 14 Jahren etwa 3000 bis 3500 Euro Brutto; nach 25 Jahren etwa 5000 bis 6000 Euro brutto – und das alles natürlich nur, wenn er laufend befödert wird und nach 25 Jahren bereits Direktor in einer kleineren Fabrik oder Bereichsleiter in einer mittleren oder Abteilungsleiter in einer grossen Fabrik ist.
Das sind so ziemlich genau die Hälfte jener Zahlen, die der Bürgerjournalist auch in seiner Karriere bekommen hat, nur waren es DM und nicht Euro. Rechnet man nun noch die Inflation in diesem langem Zeitraum dazu (nehmen wir also der Einfachheit als mittlere Inflation eine von 100 % über diesen langen Zeitraum), so liegen die Euro-Zahlen etwa bei einem Viertel dessen, was man da damals bekommen hat oder umgerechnet, da es ja DM waren, etwa bei der Hälfte.
Damit kommen wir also in der Betrachtung der beiden Statistiken auf etwa die gleichen Ergebnisse: Fachkräfte werden heute in Deutschland mit etwa der Hälfte dessen bezahlt, was da in den Siebziger- Achtziger- und Neunziger Jahren bezahlt wurde, d.h sie erhalten nominal in Euro etwa ein Viertel von dem damals.
Mein Bekannter hat hierzu noch angemerkt: „Wer eine so lange Zeit in der gleichen Firma blieb, kommt typischerweise nicht auf diese Zahlen, sondern liegt darunter, denn deutliche Sprünge im Gehalt macht man meist nur dann, wenn man die Firma wechselt und dort höher einsteigt als man ausgestiegen ist. Ausserdem: Heute sind praktisch alle Karrieren in Deutschland (ausser denen auf ganz hohen Ebenen) mit 50 Jahren oder etwas mehr beendet. Ab 50 wird entweder geschasst oder frühpensionert oder nach unten „weggelobt“. Fast jeder findet sich dann mit 55 oder in ähnlichem Alter arbeitslos oder wieder bei Einkommen, wie er sie 20 oder 30 Jahre vorher hatte.“
Damit sind wir also mittels der Statistiken über die Lohnsumme pro Beschäftigten und durch das Durchspielen eines speziellen Beispiels auf genau das gekommen, was oben gesagt wurde: Nicht nur die Leiharbeiter, Teilzeitarbeiter und unterbezahlten Hilfskräfte, auch die Fachkräfte werden heute massiv unterbezahlt.
Hier zu passt die Aussage in einem Artikel der „telepolis“, der über die Abwanderung von Fachkräften ins Ausland geht, hier
http://www.heise.de/tp/blogs/10/150053 :
„ ... Hunderttausende gut ausgebildete Deutsche haben in den letzten Jahren das Land verlassen, um im Ausland zu arbeiten und vielfach auch dauerhaft dort zu bleiben. Dabei ist auffällig, dass die Hauptzielländer allesamt Staaten mit hohen Einwanderungshürden sind. Somit kann man durchaus davon ausgehen, dass die deutschen Abwanderungsverluste in diese Staaten überwiegend von hochqualifizierten Fachkräften verursacht werden.“
Der Bürgerjournalist ist ja auch einer von ihnen.
Speziell geht es aber auch um die noch in Ausbildung befindlichen Fachkräfte:
„ ... auch die zukünftigen Fachkräfte, wollen vielfach Deutschland den Rücken kehren. Eine aktuelle Studie des Reemtsma Begabtenförderungswerkes (Link im Originalartikel), die unter 2.968 Studenten durchgeführt wurde, zeigt auf, dass gerade die besten Studenten ihre Zukunft oft im Ausland sehen. 64% aller Studenten ziehen eine Tätigkeit im Ausland in Betracht. Gut 20% sind fest entschlossen, Deutschland nach ihrem Studium zu verlassen. Als Gründe werden häufig günstigere Karrieremöglichkeiten (40%) und besserer Verdienst (39%) angegeben. Dabei ist auffällig, dass gerade die Höchstqualifizierten gehen wollen. Von den angehenden Doktoranden sind es 22% und bei den Stipendiaten sogar 25%. Weitere 50-54% dieser Gruppe geben an, dass ein Wegzug ins Ausland für sie ebenfalls in Frage kommen könnte.“
Wir sprechen also der deutschen Industrie und den deutschen Dienstleistern einen herzlichen Glückwunsch aus: Sie haben es geschafft!
Sie haben es geschafft, aus einem Land, das magische Anziehungskraft hatte auf Arbeiter und Fachkräfte aus ganz Europa und aus der ganzen Welt, ein Land zu machen, das kaum mehr Attraktion hat auf ausländische Beschäftigte und auch schon die einheimischen vergrault!
Alle Hochachtung für diese Leistung! Wahrscheinlich sind sie sogar noch stolz darauf.
In diesem Zusammenhang sei auch noch auf diesen Erfahrungsbericht eines Personalers hingewiesen, auch wenn das schon ein paar Jährchen zurückliegt:
„Ein Personalchef packt aus“
( http://karlweiss.twoday.net/stories/5712700/ )
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