Oskar Niemeyer ist 100 - und arbeitet noch jeden Werktag
Von Karl Weiss
Er ist eine lebende Legende. Der wichtigste lebende Architekt wurde am 15. Dezember 2007 100 Jahre alt – und Niemeyer ist weiterhin aktiv. Er entwirft weiterhin Montag bis Samstag Gebäude, Denkmäler, Statuen, Inneneinrichtungen und ganze Gebäudegruppen einschließlich Landschaften, er skizziert, formt, zeichnet und malt. Nach Aussagen eines seiner wichtigsten Mitarbeiter ist er kreativer denn je.
Er ist das Menetekel an der Wand der deutschen Manager, die ihre Unternehmen von fast allen über 50 gesäubert haben, weil die angeblich weniger leisten.
Er ist mit internationalen Preisen überhäuft worden. Er ist – ähnlich wie Le Corbusier, mit dem er viele Jahre zusammengearbeitet hat, das Vor- und Leitbild von Generationen von Architekten.
Sein Büro in Rio de Janeiro, seiner Heimatstadt, ist weiterhin mit Aufträgen ausgelastet. Man kann auswählen, welche man annimmt.
Kurz vor seinem 100. Geburtstag hat ihn der Reporter Tom Dyckhoff von der britischen Times interviewt und dies Begegnung mit einem Giganten genannt. Er vergleicht Niemeyer mit Rodin und Picasso. Der Titel seines Artikels in der Times ist „Der König der Kurven“.
Er hat dem Journalisten, nach der Bedeutung seines 100. Geburtstages gefragt, geantwortet: „Dies Datum ist nicht wichtig. Das Alter ist nicht wichtig. Die Zeit ist nicht wichtig. Ich fühle mich nicht besonders wichtig. Wichtig ist ruhig zu bleiben und optimistisch.“
Und er sagt, was ihn jeden Morgen dazu bringt aufzustehen und an die Arbeit zu gehen: „Der Kampf, schlicht und einfach der Kommunismus.“
Niemeyer ist Kommunist und betont das auch immer wieder, ebenso wie sein Brasilianer-Sein. Wäre das nicht, wäre er eine der großen Glamour-Figuren der Jetzt-Zeit, der man auf Schritt und Tritt folgen würde wie Paris Hilton. Immerhin ist er eine der bedeutendsten lebenden Personen. Aber die westlichen Massenmedien sind nun einmal auf den Antikommunismus eingeschworen und so wird Niemeyer höchstens einmal erwähnt, wenn er Hundert wird, während dem Gegacker der Hotelerbin fast wöchentlich Aufmerksamkeit gezollt wird.
Auch die nicht abreissende Kritik an seinem Werk hat keine sachliche Begründung, sondern nur eine ideologische. So nennt zum Beispiel Jörg Häntzschel in der „Süddeutschen“ Niemeyer einen Vertreter der „heroischen Moderne von der Mitte des 20. Jahrhunderts“. Sein Werk, die brasilianische Hauptstadt Brasilia, bezeichnet er als „gescheitert“.
Nichts steht Niemeyer ferner als Heroik. Ganz im Gegenteil, durch die fliessenden Formen, Kurven und Bögen wird jeder noch so grosse Bau von ihm handlicher und menschlicher. Seine Bescheidenheit ist schon legendär.
Brasilia ist bis heute für jeden Besucher beeindruckend, schlicht wegen Niemeyers Architektur. Seine Formensprache für den National-Kongress zum Beispiel mit zwei schlanken Hochhäusern für die Abgeordneten in der Mitte, links das Abgeordnetenhaus-Plenum mit konvexer Kuppel und rechts das des Senats mit konkaver Kuppel ist bis heute unerreicht.
Der genannte Artikel in der „Süddeutschen“ hebt einseitig darauf ab, er würde mit seinen Kurven weibliche Formen nachfühlen. Das ist oft wirklich der Eindruck, weil seine Architektur so angenehm ins Auge fällt. In Wirklichkeit sind die Rundungen aber weitgehend der runden Form der Berge seiner Heimatstadt nachempfunden, wenn sich auch manchmal eine Anlehnung an weibliche Rundungen nicht leugnen lässt – aber das ist noch keine „architektonischer Erotismus“, nur weil es attraktiv ist.
Dabei wird Niemeyer nie Sklave der Bögen. Er hat keinerlei Ehrgeiz, wie etwa Hundertwasser, ein Haus zu schaffen, an dem nicht ein rechter Winkel vorkommt. Er verwendet Kurven als zusätzliche architektonische Ausdrucksform.
Bei fast jedem seiner Bauten fällt einem Betrachter das Wort hypermodern ein – bis heute. Das zeigt, seine Formensprache ist nicht eine überholte aus „der Mitte des 20. Jahrhundert“, sie ist aktuell wie je.
Charakteristisch das Verhältnis des brasilianischen Globo-Medien-Konzerns (mit dem bei weitem am meisten gesehenen Fernsehsender Brasiliens) zum bedeutendsten lebenden Brasilianer. Zwar wurden zum Hundertsten sowohl im Rundfunk als auch am Fernsehen fünf Minuten Niemeyer erlaubt, aber ansonsten wird er verbissen verschwiegen. Typisch dafür die jährliche Übertragung des Silvesterlaufs in São Paulo am letzten Tag des Jahres, die auch in verschiedene andere Länder geht. Der Weg dieses Laufs führt unmittelbar an einem der großen Werke Niemeyers vorbei, der „lateinamerikanischen Gedenkstätte“, die der kritische Artikel von Häntzschel so beschreibt: „Stadträume, die wie dreidimensionale surrealistische Gemälde wirkten.“ Kommen die Läufer dort vorbei, wird nicht ein einziges mal die Linse auf den Hintergrund gerichtet, um eine der wichtigen Sehenswürdigkeiten São Paulos zu zeigen, sonst müsste ja ein Kommunist gewürdigt werden.
Etwas Ähnliches haben sich die Schildbürger im Berlin umgebenden Brandenburg geleistet. Potsdam hatte ein Spassbad bei Niemeyer und Auftrag gegeben und auch schon einen Batzen Geld für den Entwurf gezahlt. Doch die CDU/FDP-Mehrheit liess das Projekt unter einem hahnebüchenen Vorwand platzen. Man wollte nicht berühmt sein für das Werk eines Kommunisten.
Wenn man einmal doch Niemeyer erwähnen darf, dann wird aber wichtiges gesagt. Ein Rundfunkkommentator in Brasilien sagte z.B. zum Hundersten: „Er hat uns alle etwas besser gemacht.“ Von wie vielen kann man schon so etwas sagen?
Fast unglaublich ist aber: Seine letzten Werke sind noch beeindruckender als viele frühere. Mit deutlich über Neunzig hat er noch eine Erfindungsgabe, die bei 90% aller Architekten völlig fehlt. Bringen andere Architekten runde Formen als Ornamente an Gebäuden an, so ist bei ihm das Gebäude ein Ornament der Stadt.
Das „Neue Museum“ von 2001 in Curitiba im brasilianischen Süden sieht aus wie ein Zyklopenauge auf einer Betonsäule. Das Museum für zeitgenössische Kunst von 1996 in Niteroi gegenüber Rio de Janeiro gleicht eindeutig einer fliegenden Untertasse
und ein Konzertsaal in Brasilia, der erst jetzt gebaut wird, obwohl er schon im ursprünglichen Projekt vorgesehen war, hat verblüffende Ähnlichkeit mit dem Saturn mit seinem Ring. Wo nimmt der Mann in dem Alter die Kreativität her? Gegenfrage: Warum sollte Kreativität mit dem Alter abnehmen?
Er hat sofort die Möglichkeiten des Stahlbetoms entdeckt und konsequent genutzt. Seine Architektur wird auf English unter dem Motto geführt: „Form follows beauty“. Sie wurde als sinnlich bezeichnet.
Er schuf den Gegenentwurf zum Baukasten-Stil des Bauhauses, die auf reine Funktionalität ausgerichtet ist: „Form follows function“. Niemeyer befreite das Bauen vom Diktat der geraden Linien.
Der Berichterstatter hat das Privileg, mit seiner Frau Sonntags zum Pampulha-See in Belo Horizonte fahren und dort am Ufer entlang dem werktäglichen Mangel an Bewegung entgegenwirken zu können. Dabei kommt man nicht nur an seinem wahrscheinlich grössten Meisterwerk, der kleinen Franziskus-Kirche vorbei,
sondern auch an einer Reihe anderer Zweckbauten von ihm – alle aus dem Anfang der Vierziger-Jahre. Es wird deutlich: Er verfolgt keinerlei festes Schema, obwohl seine Hand überall deutlich sichtbar wird. Das Prinzip ist: Überrasche den Betrachter.
So sagt Niemeyer denn auch zum Platz der drei Gewalten in Brasilia: „Wenn Sie dort stehen und vor sich das Repräsentantenhaus sehen, links das Gebäude des Obersten Gerichtshofes und rechts den Palast des Präsidenten (Palácio do Planalto), dann kann Ihnen das gefallen oder nicht. Aber Sie können auf keinen Fall sagen, so etwas hätten Sie schon einmal gesehen.“
Im Prinzip ist er ein Bildhauer-Architekt. Er lässt Gebäude nicht bauen, er formt sie. Sein Werk ist der lebendige Beweis: Kommunismus ist sehr wohl verträglich mit Schönheit, mit Eleganz und mit Individualität, aber er macht sich nicht zu deren Sklaven.
Und er hat eben Einfälle, Einfälle, Einfälle. Den Präsidentenpalast in Brasilia hat er zum Beispiel mit einer riesengrossen Rampe versehen (nicht einer Treppe). Wer den Präsidenten besuchen will, muss diese Rampe hinauf, während der Präsident die Rampe herunterkommen muss, um mit dem Volk in Kontakt zu treten.
Diese Rampe ist bereits ins Unterbewusstsein des Volkes eingetreten. „Die Rampe hinaufgehen“ oder „die Rampe herunterkommen“ sind bereits geflügelte Worte im brasilianischen Portugiesisch, die verschiedenste Anwendung finden. Architektur schafft Sprache – und Denken.
So – nun hat der geneigte Leser einen ganz leichten Eindruck von der Bedeutung des Werkes von Niemeyer bekommen. Er wird sich jetzt vielleicht auch fragen, warum er darüber nicht schon vorher mehr gehört hat. Nun, der Antikommunismus.
Beenden wir dies mit dem Schluss des kritischen Artikels von Häntzschel: „... Niemeyer stellt diese Gebäude mit der Nonchalance von jemandem in die Luft, der nach einem nachmittäglichen Bad im Meer sein Handtuch ausschüttelt. "Was wirklich zählt, sind das Leben und die Freunde und diese ungerechte Welt, die wir ändern müssen", lautet die Maxime an der Wand seines Büros. Daran hat sich auch nach 100 Jahren nichts geändert.“
Veröffentlicht am 16. Dezember 2007 in "Nachrichten - heute"
Originalartikel