Natascha Kampusch - die kapitalistische Barbarei
Von Karl Weiss
Hatte der eine oder andere vielleicht noch einen Zweifel, dass wir bereit in die ersten Bereiche der kapitalistischen Barbarei eintauchen, der mag sich den Fall Natascha Kampusch ansehen. Da bekommt selbst ein kerngesunder Mensch Schwierigkeiten, noch normal weiter zu atmen.
Natascha Kampusch ist eine Österreicherin, eine Wienerin, um es genau zu sagen, die als Kind mit 10 Jahren von einem Verbrecher entführt und für viele Jahre als Geisel (oder muss man sagen: als Sexsklavin?) gefangengehalten und wohl auch missbraucht wurde – der Fall einer unsäglichen Leidensgeschichte, die nur noch mit Fällen von Foltern aus US-gelernten Folterschulen wie Chile oder aus anderen, wie der Chinas, verglichen werden kann.(siehe zu Sexfolter von Frauen hier)
Hier die Beschreibung des Falles durch die „netzeitung“: „Die heute 19-jährige war 1998 als zehnjähriges Mädchen auf dem Schulweg im Norden Wiens entführt und danach von ihrem Kidnapper, Wolfgang Priklopil, acht Jahre in einem Verlies-ähnlichen Raum festgehalten worden. Im August 2006 gelang ihr die Flucht. Priklopil nahm sich daraufhin das Leben.“
Der Fall entfachte eine gewaltige Anteilnahme der Öffentlichkeit, speziell in Österreich, aber auch in Deutschland. Da gab es aber auch andere „anteilnehmende“ Interessen nach der gelungenen Flucht von Frau Kampusch: Bestimmte Kreise hatten ein Interesse, intime Details des Leidens von Frau Kampusch zu erfahren, speziell sexuelle Details.
Doch Frau Kampusch wurde zunächst verantwortungsbewusst vor solchen falschen „Anteilnehmern“ geschützt. Da nach dem Selbstmord des Täters (der sich im Grunde wohl des verdammenswerten Charakters seiner Tat bewusst war) auch keine Notwendigkeit bestand, zum Zwecke der Strafverfolgung irgendwelche intimen Einzelheiten an die Öffentlichkeit zu bringen, schien der Leidensweg des Opfers zunächst wirklich zu einem Ende gekommen zu sein.
Doch jene Kreise, die genaueres aus den schmuddeligen Details der Sexsklavin-Haft wissen wollten, gaben nicht so schnell auf.
So wurde Natascha Kampusch nach einer Zeit der „Besinnung“ gezwungen, in Aussagen vor der Polizei ausführlich Einzelheiten zu erzählen, obwohl dies für absolut nichts nutze war, es sei denn, dass sich perverse Personen daran aufgeilen könnten.
Kurz nach ihrer Flucht hatte Natascha Kampusch ausfürlich einer jungen Kriminalbeamtin erzählt, was ihr widerfahren war, aber die Wiener Staatsanwaltschaft/Polizei hatte in einem Akt bemerkenswerter Weisheit dies Protokoll vernichtet und das einzige Exemplar an das Opfer ausgehändigt. Das gleiche geschah mit dem Tagebuch, das die gequälte junge Frau in der Geiselhaft geschrieben hatte: Es wurde dem Opfer der Tat ausgehändigt, so dass niemand die Chance hätte, irgendwelche Einzelheiten einsehen zu können.
Doch danach hat man aus unerklärlichen Gründen das Opfer gezwungen, nun erneut ausführlich der Polizei Details zu erzählen. Zwar wurde ihr zugesichert, dies seien selbstverständlich Polizeiprotokolle, die niemals von Unbefugten eingesehen werden könnten, aber da lag der Hase im Pfeffer.
Als nämlich jene gewissen Kreise Wind bekamen von diesen Protokollen, sannen sie darauf, wie man in den Besitz solcher pikanter Einzelheiten kommen könnte. Gesagt – getan: Es wurde unter einem Vorwand ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingerichtet, der sich mit solchen Dingen zu beschäftigen haben würde und natürlich Einblick in solche Protokolle haben müsste. Der Vorwand war, man wollte untersuchen, ob der Täter eventuell Komplizen gehabt haben könnte.
Nicht zufällig spielten die Politiker vom äussersten rechten Rand, in Österreich nennen sie sich FPÖ, eine entscheidende Rolle beim Einsetzen dieses Ausschusses. Die extreme Rechte, die immer die „Werte der Familie“ beschwört, ist traditionell heuchlerisch und besonders geil auf schwülstige Details. Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses ist Peter Fichtenbauer von der FPÖ.
So kam es, wie es kommen musste: Kaum war das Protokoll der Polizei an den Ausschuss übergeben worden, kamen seitenweise Auszüge an die Öffentlichkeit. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Leck beim Ausschuss lag oder bei der Polizei, die jene Gelegenheit wahrgenommen haben mag: Irgendjemand bekam Geld zugeschustert, um diese intimen und schmerzvollen Privat-Erlebnisse von Frau Kampusch an einen Verlag weiterzugeben, der dies dann in Wien in ein sogenanntes Anzeigenblatt beförderte, kostenlos verteilt, damit sich Hunderttausende oder Millionen an den sexuellen Einzelheiten verlustieren konnten.
Das ist das klassische Szenario der beginnenden kapitalistischen Barbarei. Der Schutz von Verbrechensopfern muss natürlich hinter dem „Interesse der Öffentlichkeit auf Information“ zurücktreten.
Der Verlag des Anzeigenblattes konnte selbstverständlich für die auf insgesamt fünf Seiten veröffentlichten schmierigen Details viele neue Anzeigen aquirieren, und das, appellierend an die niedrigsten Instinkte der Menschen, zu einer genussvollen Umsatzsteigerung machen und natürlich vor allem zu einer geilen Profitsteigerung.
Wie bei den Mohammed-Karikaturen, die ebenfalls mit den Rechtsaussen in Verbindung stehen, wird Dreckschweinerei als "Meinungsfreiheit" ausgegeben.
Was wird nun in der kapitalistischen Barbarei mit den Verantwortlichen dieses Verlags passieren? Deportation nach Guantanamo oder Diego Garcia? Langsame und schmerzvolle Todesstrafe? Lebenslang? Millionen-Entschädigungen? Langjährige Gefängnisstrafen? Gefängnisstrafen auf Bewährung?
Nun, der geneigte Leser weiss bereits die Antwort: Nichts dergleichen! Man wird weitermachen wie gehabt.
Der Chefredateur, der diese Möglichkeit aufgetan hätte, würde vielmehr einen speziellen Bonus bekommen und man wird auf den nächsten sensationellen Fall aus sein – wenn möglich, mit sexuellen Details.
Wie gut, dass es Verbrechen gibt - und speziell Verbrechen mit Sex!
Das ist das normale Vorgehen in der kapitalistischen Barbarei. Würde man den Verantwortlichen im Verlag befragen, er würde sagen, man habe diese Gesellschaft ja nicht erfunden, man bediene nur Wünsche dieser Gesellschaft.
Ja, im Grunde hat er recht. Diese Gesellschaft nennt sich Kapitalismus und sie muss so schnell wie möglich abgeschafft werden, speziell jetzt, da sie schon immer deutlicher in die Barbarei übergeht.
Dann werden wir auch wieder in der Lage sein, Verbrechensopfer würdig zu behandeln oder besser: Verbrechen nach und nach ganz abzuschaffen.
Veröffentlicht am 21. April 2008 in der Berliner Umschau
Originalartikel