Fussball: Libertadores und Brasilien-Meisterschaftsrunde
Von Karl Weiss
Wie immer im Mai, hat die brasilianische Fußball-Meisterschaft begonnen, die bis Dezember laufen wird. Es gibt keinen herausragenden Favoriten. In der Copa Libertadores, dem südamerikanischen Gegenstück zur Champions Leage, haben die Achtel- und Viertelfinale stattgefunden und die Begegnungen der Halbfinale stehen fest.
Alle Fotos in diesem Artikel sind vom Rückspiel des Viertelfinals der Libertadores zwischen den beiden brasilianischen Clubs Fluminense und São Paulo im gefüllten Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro
Zunächst zur Libertadores, wo es überraschende und erwartete Ergebnisse gab und wo auf höchstem Niveau gespielt wird, auch wenn man die Champions Leage zum Vergleich heranzieht. Allerdings sind die Spiele in Südamerika weit interessanter, weil es viele Torszenen gibt und kein zehn- oder zwanzigminütiges Mittelfeld-Geplänkel.
In den Achtelfinalspielen lief alles, mit einer Ausnahme, wie erwartet.
Der beste der Gruppenersten aus der Gruppenphase, Fluminense Rio de Janeiro, setzte sich wie erwartet gegen den schlechtesten der Gruppenzweiten durch, Atletico Nacional aus Kolumbien, wenn auch mit Schwierigkeiten mit einem mageren 1:0 zu Hause und einem 2:1 beim Gegner im Norden des südamerikanischen Kontinents.
Flamengo Rio de Janeiro war zwar der zweitbeste der Gruppenphase und der mexikanische Meister America Mexiko Stadt nur der zweitschlechteste der Gruppenzweiten, aber trotz der Schwächephase blieb America einer der wesentlichen Favoriten und wurde dieser Rolle in überragender Weise gerecht. Flamengo hatte völlig überraschend in Nordamerika mit 4:2 gewonnen und es schien nur noch eine Kleinigkeit zu sein, die Qualifikation im Maracanã-Stadion in Rio nach Hause zu schaukeln. Doch America traf auf ein seltsam apathisches Flamengo-Team (Unterschätzung des Gegners?) und gewann mit 3:0 auf gegnerischem Platz doch noch den Einzug ins Viertelfinale. Mit dieser Leistung steht America nun gleichberechtigt mit Boca Juniors auf dem Podest des Favoriten.
Die einzige größere Überraschung im Viertelfinale war die Qualifikation von San Lorenzo Buenos Aires gegen den Lokal- Rivalen River Plate. San Lorenzo hatte dem berühmten argentinischen Club in dessen Stadion ein Unentschieden abgetrotzt und im eigenen gewonnen. Aber Lokalderbys haben immer eigene Gesetze.
Erwartungsgemäss setzte sich Atlas Guadalajara aus Mexico gegen den anderen argentinischen Verein Lanus durch. Mit einem Sieg in Argentinien hatte man schon des Sack zugemacht und brauchte dann zu Hause nur noch ein Unentschieden.
Ebenso erwartet war der Durchmarsch von Libertadores-Favorit Boca Juniors Buenos Aiores gegen Cruzeiro Belo Horizonte, auch wenn hier in Belo Horizonte viele nicht wahr haben wollten, dass ein Klassenunterschied besteht. Boca gewann beide Spiele mit 2:1.
Es ist eine Augenweide, den Angriffswirbel von Riquelme, Palacio und Palermo zu sehen, da dürfte auch Manchester United in Schwierigkeiten kommen. Aber auch die Abwehr mit den beiden Nationalspielern Cáceres und Ayala kann sich auch international sehen lassen.
Dass der schwächste der verbliebenen argentinischen Clubs, Estudiantes La Plata , sich nicht gegen die starke Mannschaft von LDU Quito aus Ekuador durchsetzen konnte, war ebenfalls schon im Artikel vom 25. April vorhergesagt worden. 2:0 hatte LDU schon in der Höhenlage von Quito vorgelegt und konnte dann 1:2 in Argentinien verlieren und doch noch weiterkommen.
Der andere Kolumbianische Vertreter Cúcuta musste sich gegen Santos zweimal mit 2:0 geschlagen geben.
Schliesslich schied noch der einzig verbliebene Vertreter Uruguays, Nacional, gegen São Paulo aus. Einem torlosen Unentschieden in Montevideo folgte ein 2:0 im heimischen Morumbi-Stadion in Brasiliens Metropole São Paulo.
So ergaben sich fast genau die im Artikel am 25. April vorausgesagten Vietelfinalbegegnungen, ausser der Abwesenheit von River Plate:
Zwei der drei verbliebenen brasilianischen Vereine kamen gegeneinander, Fluminense und São Paulo – Pokalsieger gegen Meister - kaum eine Voraussage war möglich. Mitfavorit Amerika Mexiko kam gegen Santos aus der Stadt mit Brasiliens und Südamerikas grösstem Hafen, sicher kein leichtes Siegen. San Lorenzo Buenos Aires bekam es mit LDU Equador zu tun, das in dieser Libertadores schon viele Überraschungen geschafft hat. Schliesslich gab es das Duell von Favorit Boca Juniors gegen Atlas Guadalajara, das – bei aller Liebe – eigentlich nur den argentinischen Verein als Sieger sehen dürfte.
Entgegen der Voraussage des Berichterstatters gewann Fluminense Rio gegen São Paulo, obwohl man sich im Hinspiel mit 1:0 geschlagen geben musste. Das Rückspiel im Maracana-Stadion in Rio wurde am 21. Mai zu einem Krimi. Zunächst ging die Heimmannschaft mit 1:0 in Führung und glich den Vorteil von São Paulo aus. Dann schaffte São Paulo das Unentschieden und sah schon wie der Sieger aus, denn nun musste Fluminense gegen die geballte Abwehr des brasilianischen Meisters (nur 15 Gegentore in der ganzen Saison des vergangenen Jahres!) zwei Tore erzielen, um weiterzukommen – und es war nur noch eine Halbzeit Zeit. Flu, wie man in Rio liebevoll den Traditionsverein abkürzt, schaffte dann das 2:1, aber damit wäre São Paulo immer noch weitergekommen, denn auch in der Libertadores gelten Auswärtstore doppelt. Die reguläre Spielzeit endete und auf der Bank des brasilianischen Meisters machte man sich schon zum Jubeln fertig, da schaffte Fluminense in der 92. Minute durch einen Kopfball von Washington nach einer Ecke das 3:1 gegen den Favoriten und war qualifiziert. Der Trainer von São Paulo, Muricy Ramalho, bemerkte, er werde Monate brauchen, um das zu verdauen.
Auch die hochfavorisierte Elf von Boca Juniors konnte zunächst den Erwartungen nicht entsprechen und legte zu Hause nur ein Unentschieden 2:2 gegen Atlas aus Mexiko vor. Doch dann, am 23. Mai in Nordamerika, platzte der Knoten: Mit 3:0 auswärts wurde man der Favoritenrolle gerecht.
Die am meisten umkämpften Spiele aber ergaben sich bei den beiden Duellen von America Mexiko Stadt und Santos. Das Hinspiel im Aztekenstadion von Mexiko Stadt, älteren Fußball-Fans noch ein Begriff aus 1986, als Deutschland dort im Endspiel der Weltmeisterschaft von Argentinien mit 3:2 geschlagen wurde, war ein offener Schlagabtausch, wie es das offensive Spiel von Santos ergab. Zwar musste Santos dort zwei Tore hinnehmen, schoss aber selbst auch ein reguläres Tor, doch dieses wurde vom Schiedsrichter wegen einer vermeintlichen Abseitsstellung nicht gegeben. Santos ist bis heute empört über diese Entscheidung des argentinischen „Unparteiischen“ (natürlich, ein Argentinier!) und hat offiziell protestiert, aber wie üblich, ergab das gar nichts. Im Rückspiel am 23. Mai hatte Santos Chancen, um drei Spiele zu gewinnen, aber man schaffte nur ein 1:0, das nicht ausreichte (aber ausgereicht hätte, wäre das Tor in Mexiko anerkannt worden).
Schliesslich sind noch die Viertelfinalspiele des vierten Gespannes zu erwähnen, zwischen dem argentinischen San Lorenzo und dem Vertreter von Ekuador, LDU. Beide Spiele gingen 1:1 unentschieden aus und das fällige Elfmeterschiessen gewann in der Höhenlage von Quito der heimische Verein mit 5:3.
Damit ist seit vielen Jahren zum ersten mal die Situation eingetreten, dass weder von Brasilien noch aus Argentinien zwei Mannschaften im Halbfinale stehen. Es sind vielmehr noch vier Länder vertreten: Neben Argentinien und Brasilien Mexiko und Ekuador. Ebenfalls steht bereits fest: Entweder ein Mexikanischer oder Ekuadorianischer Verein wird im Finale stehen. Auch das, im Finale andere Vereine als Argentinier oder Brasilianer, ist bereits seit fünf Jahren nicht mehr vorgekommen.
Die beiden Halbfinal-Auseinandersetzungen sind anscheinend leicht vorherzusagen:
Zunächst (27. Mai) muss LDU (Ekuador) im mexikanischen Aztekenstadion (fast 3000 Meter Höhe) gegen America antreten, dann kommt das Rückspiel in der Höhenlage von Quito (ebenfalls etwa 3000 Meter über dem Meeresspiegel) am 3. Juni. Kaum vorstellbar, dass da LDU als Sieger hervorgeht.
Im anderen Halbfinale tritt Fluminese Rio de Janeiro, der letzte verbliebene brasilianische Verein, in Buenos Aires an (28. Mai). Zwar darf Boca in diesem Spiel nicht das eigene Stadion benutzen, sondern muss auf ein anderes Stadion in Buenos Aires ausweichen, weil beim Spiel gegen Cruzeiro Gegenstände geflogen sind und einen brasilianischen Funktionär verletzt haben, aber die Anhängerschaft von Boca wird einen kaum längeren Anfahrtweg haben, so dass hier einmal wieder das Niveau der „salomonischen“ Entscheidungen des südamerikanischen Fussballverbandes aufscheint. Das Rückspiel ist im Maracana-Stadion in Rio am 4.Juni und dann dürfte das Ausscheiden von Fluminense feststehen, denn, wie ein argentinischer Spieler richtig bemerkte: „Fluminense hat keine Tradition“. Der Club aus dem Rio-Stadtteil Laranjeiras (Orangenbäume) hat noch nie in der Libertadores Bäume ausgerissen.
Es müsste schon viel Unvorhersehbares passieren, wenn das Endspiel nicht America (Mexiko) gegen Boca Juniors (Argentinien) heissen würde. Das wäre dann auch seit fünf Jahren das erste Mal, dass kein brasilianischer Verein im Endspiel steht.
Diese Finale wäre dann aber wirklich unvorhersehbar. Boca hätte den wichtigen Vorteil, das Rückspiel zu Hause zu haben, aber man weiss nicht, wie die argentinischen Spieler mit der Höhenlage in Mexiko klarkommen. Bei Spielen mitten in der Woche zwischen Pflichtspielen gibt es ja keine Möglichkeit des Akklimatisierens. Man reist dann so kurz wie möglich vor dem Spiel an.
Währenddessen hat auch bereits die brasilianische Meisterschaft begonnen. Die ersten beiden Spieltage wurden bereits am 10./11. Mai und am 17./18. Mai ausgetragen.
Als Hauptfavorit hätte eigentlich São Paulo gelten müssen, aber das Team ist – jedenfalls im Moment – “von der Stange” und man weiss nicht, wann es sich wieder fängt. Theoretisch ist São Paulo dieses Jahr stärker als im letzten, als man Meister wurde, denn Adriano, der bullige Mittelstürmer, ist bei Inter Mailand ausgemustert worden und zu São Paulo zurückgekehrt.
Der zweite Favorit ist Palmeiras São Paulo, das eben die São –Paulo-Staatsmeisterschaft gewonnen und dabei im Halbfinale São Paulo ausgeschaltet hat. Aber gleich im ersten Spiel (auswärts bei Coritiba) musste man eine glatte 2:0-Niederlage hinnehmen. Ein dritter möglicher Favorit ist Cruzeiro Belo Horizonte, auch wenn man von Boca Juniors deklassiert wurde. Die beiden Auftakt-Siege in Bahia gegen Aufsteiger Vitória und zu Hause gegen Botafogo Rio de Janeiro haben den Spielern Selbstvertrauen gegeben. Von den Rio-Vereinen müssen hauptsächlich Rio-Meister Flamengo und Fluminense, das in der Libertadores glänzt, mit zu den Favoriten gezählt werden.
Aber die Saison ist lang und es kann noch viel passieren. Voraussichtlich wird die Meisterschaft wieder, wie in den Vorjahren, extrem ausgeglichen sein. Es ist äusserst unwahrscheinlich, dass sich einer der Favoriten früh absetzt.
Für den Abstieg kommen wohl als erste drei der Aufsteiger in Frage: Ipatinga, Vitória Salvador und Portuguesa São Paulo, aber im letzten Jahr haben einige der Aufsteiger überrascht, so wie dieses Jahr bereits Náutico Recife, das mit zwei Siegen und vier erzielten Toren an der Tabellenspitze steht.
Eine grosse Lücke hat sicherlich Absteiger Corinthians São Paulo hinterlassen, der Verein mit der zweitgrössten Anhängerschaft in Brasilien nach Flamengo, denn die Duelle mit Corinthians waren immer wieder mitreissend , sei es im gesteckt vollen Pacaembú-Stadion in São Paulo oder auch bei Auswärtsspielen, bei denen oft viele Corinthians-Anhänger anwesend sind, was dann den Reiz einer gemischten Kulisse ergibt.
Zuletzt sei noch erwähnt: Es finden die letzten Spiele des brasilianischen Pokals statt. In eines der Halbfinale haben sich Zweitligist Corinthians und Botafogo Rio durchgekämpft. Das erste Spiel in Rio ging 2:1 für Botafogo aus. Das andere Halbfinale findet zwischen Sport Recife und Vasco Rio statt, wobei Sport zu Hause ein 2:0 vorgelegt hat.
Der brasilianische Pokal hat die Besonderheit, dass er einen Platz in der Libertadores des darauffolgenden Jahres garantiert und ist deshalb besonders umkämpft.
Veröffentlicht am 24. Mai 2008 in der Berliner Umschau
Originalveröffentlichung
Zusatz zum Artikel
Wie der Berichterstatter erst nach der Veröffentlichung erfuhr, ist das Halbfinale zwischen Boca Juniors und Fluminense mehr als nur ein Halbfinale. Wird sich nämlich, wie erwartet, America Mexico Stadt gegen LDU Quito durchsetzen, so ist der Sieger des anderen Halbfinales bereits für die FIFA-Vereinsweltmeisterschaft im Dezember im Japan qualifiziert, unabhängig davon, wie das Finale ausgeht. Die Mexikanischen Vereine sind ja in der Copa Libertadores nur eingeladen, können zwar gewinnen, aber nicht den südamerikanischen Verband in Japan vertreten.
Dort wird es aller Voraussicht nach zum Endspiel zwischen Champions-Leage-Sieger Manchester United und dem südamerikanischen Vertreter kommen.
Noch eine andere Bemerkung: In der Originalveröffentlichung in der Berliner Umschau (Link oben) ist ein You-Tube-Video eingesetzt, das offenbar von fanatischen Fluminense-Anhängern aus Rio zusammengestellt wurde. Es zeigt Szenen und Fotos aus Libertadores-Spielen von Boca Junior und Fluminense. Dort kann man u.a. das phantastische 2:1-Tor von Dodô gegen São Paulo sehen, bei dem er die Flanke direkt aus der Luft nimmt und unhaltbar mit riesiger Wucht von ausserhalb des Strafraums verwandelt. Es wird aufgerufen, die "entscheidende Schlacht des Krieges" zu begleiten, das Halbfinal-Spiel gegen Boca Juniors in Rio. Das "dreifarbige Herz" solle bereitet werden.
In Brasilien werden Vereine, die nicht nur, wie üblich, zwei Vereinsfarben haben, sondern drei, wie Fluminense mit den Farben grün-weiss-rot, als "tricolor" bezeichnet. Fluminense ist der 'Tricolor Carioca' - Carioca heissen die Bewohner Rios - und der unterlegene Gegner aus São Paulo mit den Vereinsfarben schwarz-weiss-rot ist der 'Tricolor Paulista'.