Dienstag, 3. Juni 2008

UN-Berichterstatter: Rio hat Sicherheitspolitik der Ausrottung

Polizisten foltern in der Freizeit Reporter

Von Karl Weiss

Der UN-Berichterstatter für summarische, willkürliche und außergerichtliche Hinrichtungen, Phillip Alston, hat im November 2007 Rio de Janeiro besucht und hat sich über die Sicherheitspolitik der Landesregierung informiert, der die Polizei untersteht. Er legte am Montag, den 2. Juni 2008 den vorläufigen Bericht darüber auf der Eröffnungssitzung des Menschenrechtsrates der UNO in Genf vor.

Favela in Belo Horizonte

Der Autor hatte Zugang zu einer Zusammenfassung des Berichts.

Wie um seinen Bericht zu unterstreichen, wurde in der vergangenen Woche bekannt: „Milicias“, wie sich Gruppen von Polizisten und Ex-Polizisten nennen, die ähnlich wie organisierte Kriminelle Favelas beherrschen und die Einwohner tyrannisieren, haben Mitarbeiter der Rio-Zeitung „O Dia“ als Geiseln genommen, verprügelt und gefoltert.

In jener Zusammenfassung des UN-Berichts werden vor allem die „Feldzüge“ in einem bestimmten Favela-Komplex hervorgehoben („Complexo de Alemão“), die sich über etwa ein Jahr lang wiederholten. Diese Feldzüge sind mit großem Polizeiaufwand (gepanzerte Fahrzeuge, Maschinenwaffen usw.) vorgetragene Eroberungszüge den Hügel hinauf (die Favelas in Rio de Janeiro sind meistens auf Hügeln gelegen), die üblicherweise damit begründet werden, es müssten bestimmte Führer der kriminellen Banden festgenommen werden, die sich meist auf den höchsten Stellen der Hügel verschanzt haben.

In der Operation im Juni 2007 wurden 19 Personen umgebracht und danach erklärten die Verantwortlichen der Sicherheitspolitik in Rio, dies sei eine Modell-Operation gewesen. Tatsächlich entwickelte sich diese Art des Vorgehens zum Modell: Im Januar 2008 wurde wieder der gleiche Hügel in Angriff genommen, mit dem Ergebnis von sechs Toten, erneut im 3. April: 11 Tote und wieder am 15. April: 15 Ermordete.

Danach, so wird berichtet, erklärte einer der obersten Verantwortlichen, die Polizei sei das beste „soziale Insektizid“, die Ermordeten mit Insekten vergleichend.

Der Berichterstatter der UN hatte Gelegenheit, mit den Bewohnern der Favela zu sprechen, mit Opfern, mit Familienangehörigen, sozialen Organisationen, wie auch mit Polizisten, mit Verantwortlichen der Polizei und mit den politisch Verantwortlichen. Er hebt hervor, die Toten waren nicht Ergebnis des intensiven bewaffneten Widerstandes bei der Besetzung des Favela, wie die Verantwortlichen in allen Fällen behaupten. Es wurden keine Polizisten getötet und nur wenige verletzt.

Es handelte sich schlicht um das Ergebnis der Taktik, auf alles zu schiessen, was Füsse hat – und das in einer dicht mit Menschen vollgepackten Favela. Die Überprüfung der Berichte der Gerichtsmediziner über die Leichen ergab eindeutig: Der grösste Teil wurde aus nächster Nähe erschossen und viele wiesen Schüsse in den Rücken, den Nacken und den Hinterkopf auf. Diese Tatsache wurde später in den offiziellen Berichten unterdrückt.

Alston charakterisiert dies als summarische, außergerichtliche Hinrichtungen, die wegen der hohen Anzahl als „Sicherheitspolitik der Ausrottung“ bezeichnet werden müssten. Wen er dies bereits als Ausrottung bezeichnet, was würde er dann sagen, wenn er die israelischen Schlächtereien untersuchte?

Er hebt hervor, dass die Ergebnisse der mehrmaligen Einfälle in die Favela völlig unzureichend waren. Weder wurden die gesuchten Verbrecher angetroffen noch wurden irgendwelche illegalen Stoffe, wie Waffen oder Drogen in erwähnenswerten Mengen gefunden und beschlagnahmt. Trotzdem bestehen die Polizei-Oberen und die Verantwortlichen, wie der Governeur des Staates Rio, der Minister für Sicherheit und der zuständige Staatssekretär darauf, dies sei die richtige Methode des Vorgehens gegen die kriminellen Organisationen, welche die Favelas beherrschen.

Alston betont, dass diese Methode der Sicherheitspolitik sich bereits in vielen Ländern als völlig kontra-produktiv erwiesen hat. Obrigkeitsstaatliche, gelegentliche Gewaltausbrüche, die jeden treffen können, ob Krimineller oder nicht, waren schon zu den Zeiten der Obrigkeitsstaaten unsinnig im Sinne der Eindämmung der Verbrechen.

Er sagt, dass in den Fällen krimineller Gross-Organisationen, die ganze Stadtviertel beherrschen, moderne Sicherheitspolitik angebracht ist, die auf vielen Hochschulen gelehrt wird. Er bezieht sich dabei u.a. auf unabhängige Untersuchungen von Tötungen durch Polizisten, auf die Bezahlung der Polizisten, auf technische Beweissicherung, auf Schutz für Opfer und Zeugen, auf eine institutionalisierte Polizei-Beschwerde-Stelle und auf das System der Gefängnisse.

Neben der Unterdrückung und Verfolgung der Verbrecher muss eine städtebauliche Politik durchgeführt werden, die den Slum-Charakter der Stadtteile aufhebt, es müssen Arbeitsplätze fur die Bewohner geschaffen werden und es muss durch intensive Durchsetzung mit staatlichen Hilfen und den Aufbau unabhängiger eigener Sprecher und Sprecherkreise der Bewohner in den betroffenen Stadtteilen der Schild-Charakter der Einwohner genommen werden, den solche kriminellen Organisationen sich zu nutze machen.

Eine entsprechende Politik wird in Rio de Janeiro nicht einmal ansatzweise versucht.

Rio de Janeiro, Zuckerhut und Corcovado von Niteroi aus

Alston sagt, diese Art von Sicherheitspolitik durch Ausrottung sei politisch motiviert. Für die Bevölkerung, die unter den Kriminellen leidet, ist vordergründig eine Ausrottungspolitik, die sich scheinbar gegen die Kriminellen richtet, erwünscht. Die Politiker stellen sich als Männer der harten hand dar und werden gewählt bzw. wiedergewählt. Nur ist dieses Vorgehen eben nicht wirksam gegen die kriminellen Organisationen.

Tatsächlich steigt die Zahl der schweren Delikte, wie Morde, bewaffnete Raubüberfälle und Geiselnahmen, in Rio weiterhin an.

In einem Teil seines Berichtes bezieht sich Alston speziell auf den Widerspruch als Schlüsselfrage, dass sich die Polizei einerseits in solchen Vorgehen der übertriebenen und nicht effektiven Gewalt bedient, während die gleichen Polizisten in ihrer Freizeit oft Teil der organisierten Kriminalität sind.

Genau dieser letzte Punkt wurde nun, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, mit aller Deutlichkeit bestätigt.

Es haben sich in Rio de Janeiro eine Anzahl von Gruppen von sogenannten ‚Milícias‘ gebildet, die eine Widerspiegelung der bereits bekannten Exterminationsgruppen sind. Sie setzen sich aus Polizisten, Ex-Polizisten und einigen anderen zusammen. Diese haben bereits in einer beträchtlichen Anzahl von Favelas (Rio hat etwa 600 Favelas) die kriminellen Organisation vertrieben und beherrschen dort jetzt selbst die kriminelle Unterwelt mit Drogen, 'Schutzgeldern' und nicht zuletzt Geldwäsche.

In einer dieser Favelas, Batan, wurde ein Reporter der Zeitung ‚O Dia‘ überwältigt, der über die Milícia recherchierte, zusammen mit einem Fotografen des Blattes, mit deren Fahrer und einem Bewohner der Favela von mehr als zehn mit Kapuzen unkenntlich gemachten Kriminellen. Sie wurden mit Handschellen gefesselt und offiziell als verhaftet erklärt. Die Vermummten wiederholten mehrmals, sie seinen keine Kriminellen, sondern Polizisten.

Es folgte eine Sitzung vom mehreren Stunden der Folter. Allen vier Betroffenen wurde immer wieder gesagt, sie würden nun zu Tode gefoltert, weil sie die gute Arbeit der Polizei schlecht machten. Die Zeitungsleute wurden grün und blau geprügelt und wurden einer nach dem anderen Elektro-Schocks ausgesetzt. Ihnen wurden Plastiktüten über den Kopf gestülpt, bis sie keine Luft mehr hatten und ohnmächtig wurden. Dann wurden sie mit Schlägen wieder aufgeweckt.

Einige der Folterer spezialisierten sich darauf, mit schweren Stiefeln Tritte zu geben. Der Reporter wurde gezwungen, das Material zugänglich zu machen, das er bereits über die Milicia gesammelt hatte. Dort war klar zu sehen, wie die Mitglieder der Bande, Polizisten in Zivil, sich immer wieder mit Polizisten im Dienst trafen und unterhielten und bewiesen, es handelt sich nicht nur um kleine Gruppen, sondern die offizielle Polizei-Politik der Stadt. Die Vermummten waren sich klar, dies Material würde viele von ihnen identifizieren und war bereits bei der Zeitung. Nach einigen Stunden weiterer Folter wurden die vier plötzlich freigelassen.

Sie hatten nicht den Mut zur Polizei zu gehen mit ihren Verletzungen, weil sie wussten, dort würden sie mit grösster Wahrscheinlichkeit auf Verbündete ihrer Folterer treffen. Erst mehrere Monate nach der Tat wurde sie jetzt veröffentlicht, weil man sich sicher war, die Polizei bis in höchste Stellen war in diese Taten eingeweiht und würde nicht untersuchen, sondern die Anzeige unterdrücken. Man befürchtete auch Gegenanzeigen mit erfundenen Beschuldigungen.

Erst jetzt, nach einer Vereinbarung des Gouverneurs des Staates mit der Chefredaktion von ‚O Dia‘, brachte man das Geschehen ans Tageslicht.

Die eigentliche Reportage wurde bis heute nicht veröffentlicht.

Bleibt noch zu erwähnen, der Hauptverantwortliche für all dies, der Gouverneur des Staates Rio, mit Namen Cabral, ist einer der engsten und wichtigsten politischen Verbündeten von Präsident Lula.


Veröffentlicht am 3. Juni 2008 in der Berliner Umschau

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