'Ende der neoliberalen Ära'
Von Karl Weiss
In seiner Rede vor der UN-Vollversammlung in New York dekretierte der brasilianische Präsident ‚Lula‘ da Silva „das Ende der neoliberalen Ära“. Er sagte, nicht nur der normale Bürger müsse sich ethisch und ernsthaft verhalten, auch das Finanzsystem. Für jemand, der selbst ausführlich Neoliberalismus betrieben hat, ist das immerhin bemerkenswert.
Lula sparte auch sonst nicht mit Kritik, sowohl in Richtung der US-Regierung als auch gegenüber der Weltbank, dem Welt-Währungs-Fonds und den G8. „Wenn ein kleines Land in eine Krise kommt,“ so sagte er, “dann sind diese Institutionen immer schnell mit `Ratschlägen` bei der Hand, doch nun, da es die Vereinigten Staaten trifft, hört man von dort gar nichts.“
Er forderte auch – und das ging eindeutig in Richtung der USA: “Die Folgen der ungebremsten Habgier können nicht einfach straflos von allen getragen werden.“
Das „Wall Street Journal“ charakterisierte daraufhin die Politik Lulas als einen „Balanceakt zwischen orthodoxen ökonomischer Maßnahmen und Finanzierung populistischer Sozialprogramme.“
Tatsächlich war Lula bereits in seiner ersten Amtsperiode (2002 – 2006) auf absoluten Tiefpunkten in seiner Popularität angekommen, nachdem fast alle wesentlichen Politiker seiner Partei und seiner Regierung in Korruptionsskandale verwickelt waren und zurücktreten mussten. Zu jener Zeit hatte er auch eine Rentenreform durch die Legislative gebracht, die jene „orthodoxe“ Wirtschaftspolitik widerspiegelte: Erhöhung des Rentenalters, Verringerung der Rente usw. Man hätte ihn beinahe Lula Schröder nennen können. Gleichzeitig wurden die skandalös hohen Pensionen, die z.B. Richter in Brasilien bekommen, nicht angetastet.
Es wurden Telefonlizenzen für das Festnetz wie auch für Handys verkauft, die praktisch das gesamte Telefon-System Brasiliens in die Hände ausländischer Kapitaleigner legte, in diesem Fall von spanischen, italienischen und französischen Firmen.
Noch vor kurzem wurden einige der wichtigsten vierspurigen Bundesstrassen an private Firmen vergeben, die gegen den Unterhalt der Strassen das Recht haben werden, eine Maut zu verlangen, deren Erhöhung jährlich bereits garantiert ist. Darunter waren Strassen wie die „Rodovia Fernão Dias“, die São Paulo mit Belo Horizonte verbindet und die der Staat gerade erst mit einem Aufwand von Milliarden Reais vierspurig ausgebaut hatte. Die meisten der Strassen gingen an einen spanischen Konzern.
Kurz nach der Rentenreform aber begann Lula – gerade noch rechtzeitig vor den Wahlen 2006 – mit dem Programm „bolsa família“ (Familien-Stipendium), das Bedürftigen eine monatliche Zuwendung von umgerechnet etwa 25 Euros pro Person garantiert, wenn die Kinder der Familie die Schule besuchen. Dies ist bis heute bereits auf fast ganz Brasilien ausgeweitet worden und hat sich als erfolgreiche, wenn auch nicht vollständige Bekämpfung des Hungers und der schlimmsten Auswirkungen des Elends erwiesen (und auch als Anreiz, die Kinder in die Schule zu schicken).
Gleichzeitig garantierte dies Programm Lulas Wiederwahl und seine hohe Popularität heute. Er hat vor kurzem auch einen Tarifabschluss im öffentlichen Dienst mit besonderer Berücksichtigung des Militärs abgeschlossen, das bereits dieses Jahr deutliche Gehaltserhöhungen garantiert und gleichzeitig jene für die folgenden Jahre festlegt. Er schuf auch Tausende neuer Stellen im öffentlichen Dienst.
Ausserdem hat er jedes Jahr den Mindestlohn (der allerdings nicht überall in Brasilien eingehalten wird) stärker als die Inflation erhöht (im Moment auf umgerechnet etwa 160 Euro im Monat) und zusätzlich noch Jahr für Jahr die Erhöhung um jeweils einen Monat vorverlegt.
Dazu kam ein Wirtschaftsboom in Brasilien, der weiterhin anhält, so als ob die Weltwirtschaft sich nicht auf der Abwärts-Rutschbahn befände. Im letzten Jahr wuchs die Wirtschaft Brasiliens um etwa 5% (nach Abzug der Inflation) und auch dieses Jahr wird diese Marke wohl wieder erreicht werden.
Dieses Wachstum wurde zwar auch und gerade durch gesteigerte Exporteinnahmen initiiert (das Hauptexportprodukt Brasiliens, Eisenerz, unterlag in den letzten Jahren einer Preissteigerung auf das zweieinhalb-fache, das zweitwichtigste, Soja und Soja-Öl auf etwa das doppelte), konnte aber dann in einen vom Inlandskonsum getragenen Aufschwung umgesetzt werden, denn viele neue Arbeitsplätze (offizielle und inoffizielle) öffneten sich, was wiederum mehr Inlandskonsum erzeugte, was weitere neue Arbeitsplätze schuf usw.
In einer Umfrage haben über 60% der Brasilianer erklärt, heute ein besseres Lebensniveau zu haben als 4 Jahre zuvor. Die guten Noten für Lula haben bei Umfragen ein absolutes Rekordniveau erreicht, seit es Umfragen gibt: 77,7% der Befragten, während die ganze Regierung von 68 % als ‚gut‘ oder ‚sehr gut‘ eingeschätzt wird. Nicht einmal kurz nach seiner ersten Wahl, als fast das ganze Land hohe Hoffnungen in ihn setzte, wurden solch hohen Raten der Zustimmung erreicht. Das bekannte Argentinische Zeitung ‚Nación‘ spricht sogar von Lula-Manie
Natürlich hat sich Lula nicht einfach so vom Saulus zum Paulus gewandelt. Er hat vielmehr mit diesen Politikänderungen hauptsächlich auf die in ganz Lateinamerika um sich greifende revolutionäre Gärung reagiert. In Lateinamerika kann man heute nicht mehr einfach weitermachen wie bisher. Entweder man muss sich radikal auf die Seite der US-Regierung stellen und wird dann automatisch zu einem weithin verhassten Politiker wie Uribe in Kolumbien oder man muss eine Öffnung zu „linken“ Positionen betreiben.
Zum anderen hat Lula Gefallen daran gefunden, als einer der internationalen Führer der Entwicklungsländer angesehen zu werden. Dazu muss er bis zu einem gewissen Grade natürlich deren Interessen vertreten und zumindest in Worten gegen die grossen Industrieländer schiessen
Während in diesem Moment nur noch etwa 14 % der US-Bürger glauben, ihr Land befinde sich auf dem richtigen Kurs, gilt dies in Brasilien für mehr als 60%. Eine in etwa vergleichbare Umfrage in Deutschland ergab 17%.
Das ist der Unterschied zwischen Neoliberalismus und „gemässigt linken Positionen“.
Könnte Lula sich 2010 erneut zur Wiederwahl stellen, wäre sie mit Rekordergebnis gesichert. Aber es gibt in seiner Partei, der PT, keine andere bekannte und beliebte Persönlichkeit – kein Wunder, da fast alle bekannten PTler in Strafprozessen Angeklagte sind. Die mit gewisser Wahrscheinlichkeit als Kandidatin in Frage kommende Ministerin Dilma Roussef erhält im Moment in den Umfragen im günstigsten Fall 12 % der Stimmen. Tritt sie gegen die bekanntesten Kandidaten der Oposition an, sogar noch weniger. Aber das kann sich ändern bis 2010.
Veröffentlicht am 26. September 2008 in der Berliner Umschau
Originalveröffentlichung