Mittwoch, 1. Oktober 2008

Zwei politische Erdrutsche

Es wird nicht mehr so sein wie früher

Von Karl Weiss

Zwei politische Erdrutsche an zwei aufeinanderfolgenden Tagen! Der Berichterstatter hatte bereits in einigen Artikeln bewegte und interessante Zeiten vorausgesagt, aber das übertraf doch alles seit 9/11.

Beckstein

Sonntag: Eine der großen politischen Parteien in der Bundesrepublik verliert in der bayerischen Landtagswahl über 17 Prozentpunkte an Wählern (in Zahlen: 800 000 Wähler) in einer Legislaturperiode! Gegenüber den Ergebnissen der Bundestagswahl 2005 (also der letzten Wahl in Bayern vorher) verliert die CSU sogar 1,5 Millionen Wählerstimmen!

Montag: Der vom Präsidenten vorgelege und von ALLEN Parteiführern und den Präsidentschaftskandidaten BEIDER Parteien empfohlene Plan, den Finanzinstitutionen in den USA Hunderten von Milliarden Steuergelder in den Rachen zu werfen, wird in einer noch nie gesehenen Rebellion der einfachen Abgeordneten gegen ihre Parteiführer abgelehnt. Die Reaktion der Wall Street: Der Dow Jones Aktienindex, der bei weitem wichtigste der Welt, verliert an einem einzigen Tag über 777 Punkte, mehr als je zuvor. Vor allem aber bedeute dies: Verluste der Werte der dort gelisteten Gesellschaften in nie gekanntem Ausmaß: 1.2 Billionen Dollar an einem Tag!

Bush

Auf den ersten Blick haben diese beiden „land-slides“ nichts miteinander zu tun und tatsächlich ist der Zusammenhang nur indirekt. Aber es gibt einen gemeinsamen Nenner: Das kapitalistische System hat ausgedient. Es geht seinen letzten Tagen entgegen. Im ersten Erdrutsch kommt dies in der Abwendung der deutschen Bundesbürger von den bürgerlichen Parteien zum Ausdruck. Im zweiten Erdrutsch kommt dies zum Ausdruck im extremen Druck der Bevölkerung der USA auf die Abgeordneten, dies 700 Milliarden-Dollar-Geschenk für jene, die Schuld sind an der Krise, nicht durchzulassen, auch und nicht zuletzt, weil es allen vorher gepredigten Prinzipien widerspricht.

Reden wir zunächst von der deutschen Situation:

Die massiven Einbrüche der CSU in Bayern haben natürlich auch regionale Gründe, aber das riesige Ausmaß lässt sich so nicht erklären. In der ganzen Zeit des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland hat es nie seine solche Wahlschlappe gegeben. Deutlich wird dies auch daran, dass die Schwesterpartei CDU bei den Kommunalwahlen in Brandenburg am gleichen Tag ebenfalls massiv Einbußen hinnehmen musste.

Man stelle sich vor: Bei den Umfragen vorher war das schlechteste Ergebnis für die CSU 47% der abgegebenen Stimmen. Das wurde bereits als Katastrophe angesehen. In Wirklichkeit sackte man aber auf 43% ab. Die Kaffeesatzleser von den Umfrageinstituten sind angesichts solcher Pleiten sprachlos.

Das geradezu sensationelle an diesem Wahlergebnis wird aber speziell dann klar, wenn man fragt, wieviel von diesen Stimmen denn zur anderen „großen Volkspartei“, der SPD gingen. Antwort: praktisch keine. Die SPD, die bereits bei den letzten Wahlen Hunderttausende von Wählern verloren hatte, erhielt in Bayern ihr schlechtestes Ergebnis in Zeiten der Bundesrepublik mit 18,6 % der abgegebenen Stimmen. Es gab Städte wie Kempten und Lindau, wo die SPD nur noch viertstärkste Kraft ist.

Zusammengefasst: Die beiden früheren großen Volksparteien CSU (im Fall Bayern) und SPD haben noch gerade soviel Stimmen bekommen wie in der vorherigen Wahl die CSU allein.

Mit anderen Worten: Die Zeiten, als es in der deutschen politischen Landschaft zwei „grosse Volksparteien“ gab und daneben noch eine oder einige wenig bedeutenden kleinere, sind vorbei.

Die Abkehr von den bürgerlichen Parteien in Deutschland kommt in einigen Wahlen vor allem im Einbruch der Wahlbeteiligung zum Ausdruck, in anderen speziell in massiven Stimmenverlusten der SPD, in weiteren in deutlichen Rückgängen bei FDP und/oder den Grünen, aber generell gibt es seit Beginn der großen Koalition fast immer die Ergebnisse, die speziell negativ für SPD und/oder CDU/CSU sind.

Zur gleichen Zeit taucht die neu erstandene „Linke“ fast immer bei den Gewinnern auf. In Bayern hat sie auf Anhieb über 461. 000 Stimmen bekommen, wenn dies auch noch nicht für den Einzug in den Landtag ausgereicht hat.

In anderen Worten: Es gibt in Deutschland einen generellen Linkstrend. Im Gegensatz zu Österreich gibt es keine deutliche Tendenz zu extrem rechten Parteien.

Womit wir nun zu den Ereignissen in den USA kommen:

Die Hilfe für die Täter (die Finanzinstitutionen)statt für die Betroffenen (die Bürger, die ihr Haus verlieren) war so klar und deutlich, dass selbst der an extrem kapitalistische Verhältnisse gewöhnte US-Bürger begann zu rebellieren. Wie CNN am Montagabend berichtete, hat eine Website gegen diesen „bailout plan“, wie er dort genannt wird, die erst am Sonntag ins Netz gestellt wurde, innerhalb 24 Stunden 100 000 Unterschriften gegen dies Vorhaben gesammelt.

Capitol, Washington (DC)

Ein Teil der Abgeordneten, der noch das Ohr am Puls des Volkes hat, war sich bewusst: Man würde ihn in seinem Wahlkreis zerreissen, wenn er dem zustimmen sollte. So gab es parteiübergreifende Kontakte und die überwiegende Mehrheit der republikanischen Kongressabgeordneten zusammen mit einer bedeutenden Minderheit von demokratischen vereinbarten, gegen das Projekt zu stimmen und taten dies.

Der Präsident der Vereinigten Staaten, beide Präsidentschaftskandidaten und alle – ohne Ausnahme – „leader“ der beiden Parteien hatten die Annahme des Plans empfohlen. Das Argument war: Man müsse verhindern, dass die Krise der Finanzinstitutionen auf die Realwirtschaft im Lande übergeift. Sonst sei mit massiven Werksschliessungen und steil ansteigender Arbeitslosigkeit zu rechnen. Allerdings hat diese Argumentation einen Haken, den schnell Viele bemerkten: Alle Protagonisten des Plans weigerten sich zu garantieren, dies Übergreifen auf die Realwirtschaft werde mit der Annahme des Plans auf keinen Fall eintreten.

Barack Obama

Das hat einen einfachen Grund: Es wird in jedem Fall zu einer Wirtschaftskrise (also einer Krise der Realwirtschaft) kommen. Die hat nämlich als Ursache nicht das Übergreifen von Problemen der Finanzwirtschaft, sondern es ist eine Überproduktionskrise. Es werden weit mehr Güter angeboten als die Arbeiter kaufen können, denn sie erhalten fast keine Lohnerhöhungen und es bleiben viele Güter unverkauft. Es müssen die Produktionskapazitäten heruntergeschraubt werden. Viele Entlassungen, weitere Lohnkürzungen. Das ist das Einmaleins des Kapitalismus, wie es bereits Marx vor über 100 Jahren dargelegt hat.

Nun mögen die US-Bürger und die Abgeordneten keinen Marx gelesen haben, aber sie haben ein Gespür für die Dinge und sie spüren richtig. Mag am Donnerstag oder irgendwann vielleicht noch eine Mehrheit für den „bailout plan“ in irgendeiner Form zusammenkommen, der Gang in die Wirtschaftskrise ist vorgezeichnet - sie hat sogar schon begonnen.

Auf jeden Fall: In Deutschland wie auch in den Vereinigten Staaten wird nichts mehr so sein wie vor diesen zwei denkwürdigen Tagen: 28. und 29 September 2008.


Veröffentlicht am 1. Oktober 2008 in der Berliner Umschau

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