Hartz und Hunger – Vier Episoden
Von Karl Weiss
Episode 1: Sozialhilfe gekürzt – “Er hat gebettelt”
In Göttingen ist nun das passiert, auf das selbst die eingeschworensten Gegner von Hartz IV nicht gekommen wären, aber die Hartz-IV-Politiker sind unerschöpflich in ihrer Erfindungsgabe von neuen Erniedrigungen und Schikanen. Ein Sozialhilfeempfänger (das ist nun gleich auch unter Hartz IV eingestuft – jedenfalls von der Behandlung der Geschädigten her) wurde gesehen, wie er auf der Straße bettelte, um etwas zum Kauen zwischen die Zähne zu bekommen.
Prompt wurde er gestellt, das Geld nachgezählt, das er zusammengebracht hatte, dies hochgerechnet auf den Monat und ein entsprechender Betrag von 120 Euro vom monatlichen Sozialhilfebezug abgezogen – den erbettelt er sich ja und hat damit Einkommen, das angerechnet werden muss, nicht wahr?
Aufgrund der lauten Proteste aus der Bevölkerung wurde diese Entscheidung zwar später aufgehoben, aber ein Sprecher der Stadt betonte ausdrücklich, das sei Gesetz.
Wie lange wollen wir uns so ein Gesetz noch bieten lassen?
Episode 2: Suche nach Lebensmitteln in Mülleimern - Und dann noch Anzeige wegen Diebstahl
In Hoyerswerda, Sachsen wurde ein Paar von Hartz-IV-Geschädigten gesehen, wie sie bei einem Supermarkt Lebensmittel, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen war, aus den Mülleimern holten, um etwas Essbares zu haben. Ein liebenswürdiger Zeitgenosse rief die Polizei an. Die kam dann auch gleich und erwischte die beiden „auf frischer Tat“. Laut Polizeibericht wurden die Personalien aufgenommen und die beiden werden eine Verurteilung wegen Diebstahl zu erwarten haben.
Die Banker, die Milliarden in den Sand gesetzt haben und nun aus Steuergeldern unterstützt werden, haben dagegen keinerlei Anzeige zu befürchten.
Episode 3: Alle Rekorde von „Sanktionen“ gebrochen
Die gleichen Politiker, die den Banken völlig freie Hand lassen, jede noch so gemeinschaftsschädliche Handlung zu begehen, und ihnen danach noch ihre Verluste ersetzen, haben bei Hartz IV die ganze Regulierungswut angewendet, die für die Banken nicht galt. Man hat Hunderte von Regeln geschaffen, die jeder Hartz-IV-Geschädigte auswendig lernen muss, sonst hagelt es „Sanktionen“, d.h. es wird das Geld ganz oder teilweise gestrichen.
Zum Beispiel der Leinen-Zwang: Jede, auch nur kurzzeitige, Entfernung von Wohnort muss vorher von der ARGE genehmigt werden, sonst wird Geld gestrichen. Banken können völlig unreguliert Hundert Milliarden verspielen und sie anschließend vom Steuerzahler einfordern – denn sie sind ja „systemwichtig“. Hartz-IV-Geschädigte dagegen sind nicht wichtig fürs kapitalistische System. Was interessiert, sind Banken, nicht Menschen.
Das steht ja auch schon im Grundgesetz, gleich im Artikel 1: „Die Würde der Banken ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt.“
Gibt einer von den Hartz-IV-Geschädigten zum Beispiel nicht die 10 Euro an, die er verdient hat, als er einem Nachbarn half, wird ihm ein wesentlicher Teil seiner Lebensgrundlage gestrichen, versteckt eine kleine Rücklage für harte Zeiten unter seinem Kopfkissen und gibt er sie nicht als „Vermögen“ an, wupps, ist das Geld weg!
Die meisten Sanktionen aber werden vergeben wegen „Meldeversäumnis“. Ist ein gerade eben arbeitslos Gewordener so geschockt, dass er erst nach drei Tagen zum Arbeitsamt geht (Entschuldigung, das heißt auf neudeutsch natürlich ARGE) und sich arbeitslos meldet, wupps, bekommt er einen oder zwei Monate gar nichts! Diese Art von Vergehen, die mit Verhungern bestraft wird (falls der Arbeitslose nicht eine mitleidige Seele findet, die mit ihm ein Brot teilt) wurde laut Angaben der Lügenanstalt von Nürnberg allein im Jahr 2008 insgesamt 294.000 Mal sanktioniert!
Die Gesamtzahl der gestrichenen Leistungen im Jahr 2008 erreichte sogar 741.000 Fälle! Das ist absoluter Rekord. Na, da hat man ein schönes Geld gespart, nicht wahr? Musste man ja auch, denn man musste ja die Banker bezahlen!
Episode 4: Nachkriegszeit
Die ‚Volkssolidarität’ ist ein Sozial- und Wohlfahrtsverband in Mecklenburg–Vorpommern, der in der Nachkriegszeit gegründet wurde, als der Hunger in Deutschland grassierte – in allen vier Besatzungszonen. An diese Zeit fühlt sich die stellvertretende Landesvorsitzende des Verbandes, Silvia Steinbach, erinnert. Sie sagte auf einer Veranstaltung des Verbandes: "Wir sind gezwungen, zu längst überwunden geglaubten Formen der sozialen Betreuung zurückzukehren - Suppenküchen, Obdachlosenhilfe, Spendenaktionen".
Gegenwärtig wächst in der Bundesrepublik jedes vierte Kind in Armut auf, sagte der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, auf der gleichen Veranstaltung der „Volkssolidarität“. Und: . "Die Chancen, aus Armut wieder herauszukommen, haben abgenommen, Millionen Kinder wachsen ohne Perspektive auf - das sollte uns Angst machen."
Aus der Stadt Dresden wurde berichtet, dass dort inzwischen bereits 12.000 Menschen täglich auf Essen von der „Tafel“ angewiesen sind, um satt zu werden.
Aus einer Kindertagesstädte in Rostock wurde berichtet: „"Zu uns kommen Kinder ohne Frühstück und können nicht an Freizeitangeboten wie Theater, Schwimmen oder Ausflügen teilnehmen".
Wo man auch hinsieht, der Hunger oder die Drohung des Hungers breiten sich aus in Deutschland. Wie wärs, wenn wir den Hartz-IV-Parteien SPD, Grüne, CDU/CSU und FDP mal mit Aushungern drohen?
Veröffentlicht am 15. April 2009 in der Berliner Umschau
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