Entwicklungslandisierung Deutschlands
Von Karl Weiss
Wie das Oberverwaltungsgericht von Nordrhein-Westfalen in Münster in der vergangenen Woche mitgeteilt hat, ist das in Bau befindliche neue Super-Kohlekraftwerk Datteln – es soll das größte Europas werden; bereits 1 Milliarde Euro verbaut – illegal. Nun hat die Umweltschutz-Organisation BUND auf dieser Basis Antrag auf sofortigen Baustopp gestellt, der nach Aussage von Juristen hohe Wahrscheinlichkeit der Annahme hat.
Man sehe sich an, was "der Markt" wagt zu bauen, ohne eine Auflage einzuhalten. Der Kühlturm ist bereits 180 Meter hoch! Da braucht man schon einen Grad an Rücksichtslosigkeit, wie man sie eigentlich nur bei Asozialen antrifft.
Was da dahintersteckt, ist immer noch die Auswirkung der unseligen Entscheidung, den deutschen Strommarkt fast vollständig zu privatisieren. Die Eon, die Bauherr in Datteln ist, ging damals aus der VEBA hervor. Viele von uns können sich noch daran erinnern: Es gab einmal VEBA-Volksaktien, aber der Konzern blieb damals in Regierungshand. Später wurden die Aktionisten mit einem Appel und einem Ei entschädigt und alles wurde „dem Markt“ übergeben, der ja nach Meinung der Politiker alle Probleme von selbst löst. Nun, zunächst einmal hat er uns allen höhere Strompreise beschert.
Das Ergebnis sieht man nun: „Der Markt“ beginnt auch dann zu bauen, wenn diverse Umwelt-Gutachten noch gar nicht erstellt sind, wenn gegen andere offen verstoßen wird, wenn die Landes-Bebauungsordnung nicht eingehalten wird, wenn die akute Gefahr besteht, dass der Bau gar nicht genehmigt wird. Warum? Weil man mächtig ist. Gegen die mächtige Eon werden schwerlich Gerichte entscheiden und wenn doch, können die Kosten ja auf die Idioten von Stromkunden abgewälzt werden. Wer auf keinen Fall irgendeinen Verlust haben wird, sind die neuen Aktionäre der Eon.
So hat „der Markt“ schließlich die Verantwortung dafür, dass da eventuell eine Milliarde Euro in den Sand gesetzt wurden – und eventuell noch einmal eine weitere Milliarde ausgegeben werden muss, um alles zurückzubauen und den abgeholzten Wald wieder anzupflanzen.
Nur um dem geneigten Leser mal eine Vorstellung zu geben, auf welcher Grundlage die Gemeinde Datteln eine Baugenehmigung ausgestellt hat, wenn es um einen neuen großen Steuerzahler für die Gemeindekasse geht:
Die Auflagen für den Klimaschutz wurden nicht eingehalten, die Auflagen für den Naturschutz wurden nicht eingehalten und – wer hätte es gedacht – auch die Auflagen für den Lärmschutz nicht. Der vorgeschriebene Mindestabstand zum Wohngebiet wurde nicht eingehalten und ebenso nicht die Vorgaben im Landesentwicklungsplan. Kurz: Alle, aber auch alle, irgendwie möglichen Übertretungen wurden durchgeführt. Es scheint, man wollte einen Wettbewerb gewinnen, wer die meisten Auflagen nicht einhält.
Der entsprechende Artikel dazu in der „Süddeutschen“ zeigt aber auch schon den Weg, wie Eon trotz aller dieser Verfehlungen am Ende die Riesen-CO2-Schleuder doch noch in Betrieb nehmen kann: gegen die Nichtzulassung der Revision beim Bundesverwaltungsgericht kann man dort eine Nichtzulassungsbeschwerde einreichen, dann anschließend die Revision und schon werden alle nicht eingehaltenen Vorschriften im Nebel einer Bundesverwaltungsgerichtsentscheidung verschwinden.
Aus brasilianischer Sicht kommt da der lakonische Kommentar: „Deutschland ist zu einem Brasilien geworden.” Nun, die Entwicklungslandisierung Deutschlands schreitet eifrig voran.
Was macht ein Entwicklungsland aus im Gegensatz zu einem entwickelten Land? Etwa dass es keine oder weniger Reiche gibt, die sich dumm und dämlich verdienen? Nein, die gibt es in allen Entwicklungsländern auch. Der wesentliche Unterschied ist, wenn man die grosse Masse der Bevölkerung ansieht, sie ist in Entwicklungsländern arm, sehr arm oder in der absoluten Misere. In einem entwickelten Land, wie der Bundesrepublik in den Achtziger Jahren zum Beispiel, lebte diese große Masse in relativ sicheren und angenehmen Bedingungen.
Nun, heute ist das bereits nicht mehr der Fall. Die Armut steigt deutlich an – selbst die Bundesregierung musste dies in ihrem Armutsbericht zugeben. 25% der Kinder leben heute bereits in armen Familien. Tausende von Familien müssen sich an „Tafeln“ wenden, um sich satt essen zu können. Hartz IV weitet sich laufend auf neue Teile der Bevölkerung aus.
Typische andere Unterschiede: Das Bildungssystem in Entwicklungsländern gibt den Kindern der Masse der Bevölkerung nicht die mindesten Voraussetzungen, um einen guten Job voll ausfüllen zu können. Auch die Bundesrepublik ist bereits auf diesem Weg. In Entwicklungsländern ist das Justizsystem fast immer ein System, das ausschließlich den Reichen und Mächtigen zu gute kommt, während der Schutz, den der einfache Bürger erwartet und verdient, auch nicht annähernd gewährleistet wird.
Ja, und da sind wir wieder beim Bundesverwaltungsgericht, bei der Eon und in Deutschland. So geht der Weg ins Entwicklungsland direkt über die größte CO2-Schleuder Europas.
Veröffentlicht am 11. September 2009 in der Berliner Umschau