Wie Entwicklunsländer (nicht) funktionieren

Keine Steuern zahlen – der Fall Calheiros

Von Karl Weiss

In einem viel beachteten Artikel des „Journal do Brasil“ hat dieses Blatt am Wochenende enthüllt: Die Steuerschulden von Brasilianern an den Staat machen aktuell etwa 460 Milliarden Reais (etwa 180 Milliarden Euro) aus, wobei es sich um insgesamt 2,7 Millionen solcher Prozesse handelt, die in der Justiz anhängig sind. Der Fortgang fast aller dieser Prozesse ist unterbrochen.

Brasilien (topographisch)

Das heißt im wesentlichen: Die brasilianische Oligarchie bezahlt so gut wie keine Einkommenssteuern. Zufällig stand diese Nachricht direkt neben jener, die über die letzte Schätzung der brasilianischen Bevölkerung berichtet: Sie dürfte im Moment bei etwa 184 Millionen Einwohnern liegen. Die Oligarchie besteht aus etwa 1000 Familien.

Man erklärt dabei nicht einfach, die Super-Reichen bräuchten keine Steuern zu bezahlen, das wäre ja zu auffällig und die Maske der „Demokratie“ würde zu leicht fallen. Nein, das Vorgehen ist raffinierter: Die Steuern fallen an, werden nicht bezahlt, der Staat beginnt, sie über die Justiz einzuklagen und dort bleiben die Prozesse dann hängen, bis die Schulden verjährt sind. Laut dem Artikel sind 42% aller Prozesse der Bundesjustiz solche über geschuldete Steuern und Abgaben.

Das betrifft natürlich nur den Teil, den man vor dem Fiskus nicht verbergen konnte. Der von vornherein hinterzogene Teil der Steuern dürfte noch mehr als diesen Betrag ausmachen.

Nur ein kleiner Teil der Mitglieder der Familien der brasilianischen Oligarchie sind ja in Beschäftigungsverhältnissen, wo man ihnen die Einkommenssteuern direkt am Zahltag abziehen könnte. In der Regel haben die Superreichen lediglich „Andere Einnahmen“. Trotzdem ist nicht immer völlig zu vermeiden, dass der Fiskus an einem der Geschäfte seine Teilhabe verlangt.

Wie funktioniert es nun, dass die Justiz diese Steuerschulden nicht weiterverfolgt? Der Artikel gibt Auskunft:

Laut Aussage des Ministers Gilson Dipp vom höchsten Bundesgericht (selbstverständlich auch er selbst Teil dieser Oligarchie, die obersten Bundesrichter haben in Brasilien Ministerrang), der gleichzeitig Gesamt-Koordinator der Bundesgerichte ist, liegt die Hauptursache für die Unterbrechung des Fortgangs der Prozesse einerseits häufig in der Unmöglichkeit, die betreffende Person ausfindig zu machen, die jene Steuern schuldet und andererseits in der Schwierigkeit, zu pfändende Güter zu finden, die auf den Namen des Schuldners laufen.

Das brasilianische Recht kennt keinen Schuldturm, also nicht die Möglichkeit, einen Schuldner ins Gefängnis zu stecken. Die einzige Möglichkeit, seine Schulden einzutreiben besteht nach brasilianischem Recht darin, materielle Werte zu finden, die man pfänden kann und die dem Schuldner gehören, wenn man einmal einen nicht mehr anfechtbaren Gerichtsbeschluss gegen den Schuldner hat (was bereits Jahre dauert).

Darauf beruht der Haupttrick der brasilianischen Oligarchie: Man hat grundsätzlich nichts, was auf den eigenen Namen läuft. Alle Güter, sei es ein Haus oder Appartment, eine Fazenda (ein Bauernhof mit Land), sei es eine Fabrik, sei es ein Rundfunksender, eine Zeitung, eine Hotelkette, ein Auto-Haus als Vertretung einer der grossen Auto-Marken, eine Fluggesellschaft, ein Auto oder was auch immer, wird auf den Namen von Angestellten, Freunden, Ehefrauen, Bittstellern oder Anderen gekauft oder überschrieben.

Nicht etwa, dass diese „Anderen“ (in Brasilien „Orangen“ genannt) wirklich über jene Werte verfügen könnten. Natürlich nicht. Der Besitzer ist der Herr des Hauses, einer der Patriarchen der Oligarchie-Familie. Er hat in einer gut gehüteten Schublade einen Vertrag, in dem die „Orange“ den Besitz an ihn oder eine andere Person überschreibt und bestätigt, dafür bereits den Preis erhalten zu haben.

Die Nachteile, eine solche „Orange“ zu sein, sind offensichtlich. Entweder man verschweigt seinen „Besitz“ gegenüber dem Fiskus, dann macht man sich der Hinterziehung schuldig oder man muss auch noch Steuern für einen Besitz zahlen, der einem gar nicht zur Verfügung steht.

In der Regel werden daher dafür arme Schweine herangezogen, denen der Patriarch ein Hungerlohn zahlt und sie dafür Hilfsdienste machen lässt. Es gibt auch Leute, die der Oligarchie-Familie in irgendeiner Weise verpflichtet sind, z.B. Geld erhalten haben, das sie nicht zurückzahlen können. Diese eignen sich gut als „Orangen“.

Der Berichterstatter hatte Gelegenheit, mit einer Frau zu sprechen, die eine Zeit lang mit dem Sohn einer dieser Oligarchie-Familien verheiratet war.

Sie berichtete, wie diese Schemata funktionieren. „Mein Ex-Mann gründete eine Firma, die Zeitungs-Abonnements verkaufte. Die Leute zahlten im voraus für den Bezug der Zeitung, sahen aber nie ein Stück Papier davon. Das ganze Geld ging in dunkle Kanäle. Die Firma war aber auf meinem Namen. Plötzlich, nachdem ich mich von ihm getrennt hatte, war ich Besitzerin einer Firma mit einer riesigen Schuld. Ich bekam mein Bankkonto gesperrt, konnte nirgendwo mehr ein Konto aufmachen, hatte keinen Scheck, keine Kreditkarte, nichts.

Nur dem Fakt, dass mein Ex dabei eine kleine Unachtsamkeit begangen hat, ist es zu verdanken, dass ich heute mein Leben wieder bekommen habe.

Von den Besitzungen der Familie hatte er dort, in der Stadt, wo wir uns kennengelernt und geheiratet hatten, eine Anzahl von Grundstücken, von Wohnungen und ein grosses Haus. Eines der Grundstücke war auf meinem Namen. Das war mein Glück, denn ich konnte ihn so nach unserer Scheidung dazu bringen, dass er mir die geschuldeten Unterhaltszahlungen für die Kinder zahlte, bevor ich meine Unterschrift gab, das Grundstück zu verkaufen.

Die Familie hatte insgesamt etwa 5 Hilfsarbeiter angestellt, die Gartenarbeit in den Gärten der Villen machten, die Schwimmbecken der Häuser reinigten, Wächterdienste ausführten, bei Festen Servierdienste übernahmen und auch schon einmal jemanden verprügelten, wenn das der Patriarch so wollte. Auf deren Namen waren fast alle der Besitzungen der Familie eingetragen, so wie auch die Luxus-Schlitten und einiges andere. Ausserdem wechselten die Besitzer der materiellen Güter mit einer gewissen Häufigkeit.

Es gab offenbar auch illegale Aktivitäten der Familie, über die ich aber nichts Näheres erfuhr. Ich habe lediglich einmal ein Telefongespäch zufällig mitgehört, in dem offenbar Anweisungen in einer Art von Codes gegeben wurden. Es war meinem Ex offensichtlich unangenehm, als er merkte, ich hatte etwas davon gehört.

Offen wurde über Konten im Ausland gesprochen, so unter anderem einem auf der englischen Kanalinsel Jersey, wo anscheinend ein Steuerparadies ist. Von Zeit zu Zeit flog jemand ins Ausland, ohne dass irgendein Urlaub angesagt war, also offensichtlich in Geschäften. Einmal habe ich auch einen Koffer mit Hundert-Dollar-Noten gesehen.

Der Vater meines Ex, der Patriarch der Familie, war engst befreundet mit allen wesentlichen Personen der Stadt, mit allen Richtern, mit dem Staatsanwalt, dem Polizei-Chef, dem Abgeodneten usw. Mein Ex hat nicht einmal auch nur ein Strafmandat bezahlt.“

Dies war nur eine der kleinen Oligarchie-Familie, nicht eine der wirklich Mächtigen, wie z.B. die Cardosos des Ex-Präsidenten Fernando Henrique Cardoso, die eine eigene Grossbank besassen, die „Banco Nacional“, oder den Magalhães (auf deutsch Magellan), denen der halbe Staat Bahia gehört, oder den Jeressaitis, die Besitzer eine Kette von Shopping Centers und eines wesentlichen Paketes von Telephongesellschaften sind oder die Sarneys des Ex-präsidenten José Sarney, die im Staat Maranhão herrschen wie eine Königsfamilie.

Nun, sie alle bedienen sich dieser Mittel (wobei der Gebrauch offen krimineller Methoden nicht unbedingt auf alle zutreffen mag). Dies wurde kürzlich wieder besonders deutlich, als der Präsident des brasilianischen Senats, Renan Calheiros, plötzlich im Zentrum eines Korruptionsskandal stand. Calheiros, natürlich auch aus einer der Oligarchie-Familien, wenn auch aus jüngerer Zeit, kommt aus dem Staat Alagoas und ist dort Verbündeter der Oligarchen-Familie de Mello, aus der jener Präsident Brasiliens Collor de Mello hervorging, der 1993 durch ein Impeachmentverfahren abgesetzt wurde.

Calheiros ist Verbündeter des Präsidenten Lula als eine der wesentlichen Figuren der Partei PMDB von Alagoas, die in einer Koalition mit der PT Lulas die Mehrheiten in Senat und Repräsentantenhaus hat.

Nun kam aber ans Tageslicht, Renan Calheiros hatte ein Verhältnis ausserhalb seiner Ehe mit einer Journalistin, aus der ein Kind hervorgegangen war. Dies gilt jenen Kreisen Brasiliens nicht als ehrenrührig, wie sich das für eine Macho-Gesellschaft gehört. Im Gegenteil, (fast) jeder dieser Pariarchen hat nicht nur die Ehefrau zu Hause, sondern auch eine Anzahl von Geliebten, mit der angegeben wird.

Nachdem der DNA-Test gemacht war und die Vaterschaft feststand, blieb dem späteren Präsidenten des Senats (das ist immerhin die dritthöchste Position im Staat, nach dem Präsidenten und dem Vize-Präsidenten) nichts anderes übrig, als auf die Wünsche der Journalistin nach einem saftigen Unterhalt einzugehen. Es wurden 16 000 Reais monatlich vereinbart, das sind immerhin etwa 6000 Euro pro Monat, für brasilianische Verhältnisse ein fürstlicher Unterhalt.

Das Problem war nun, dies Geld wurde Monat für Monat von einem Freund von Calheiros überbracht – und dieser Freund war ein Angestellter und weithin bekannter Lobbyist von Brasiliens grösstem Bauunternehmen Mendez Junior.

In Brasilien lassen Verbindungen zwischen Politikern und Baunternehmen alle Alarmglocken schrillen, denn jeder weiss, das bei weitem wichtigste Mittel, wie Politiker Gelder aus der Staatskasse abzweigen ist die „Beteiligung“ an öffentlichen Bauaufträgen. Der Politiker sorgt dafür, dass jenes Baunternehmen den Auftrag bekommt und erhält dafür 18% der Bausumme. Abgeordenete in Brasilien heissen daher hier „Mr. 18%“.

Da steht einem ausgewachsenen Präsidenten des Senats anscheinend zu, dass man ihm seine Unterhaltsgelder zahlt – das haben beide natürlich sofort dementiert. Der Lobbyist hat das Geld lediglich überbracht – und das aus alter Freundschaft.

Nun stellte sich aber die Frage, woher hatte Calheiros all dies Geld, denn er war laut seiner Steuererklärung ein bettelarmer Mann und auch als er Präsident des Senats wurde, konnte ihm kaum jeden Monat so viel übrig bleiben.

Das ist natürlich der Nachteil an jenem Trick mit dem Übertragen der Besitzrechte auf Andere: Man darf dann nicht in die Situation kommen, Einkommen nachweisen zu müssen. Genau das aber geschah Calheiros.

In Wirklichkeit, so stellte sich im Verlauf des Skandals heraus, stinkt Calheiros vor Reichtum – wie sich das für brasilianische Oligarchie gehört. Er hat nicht nur eine unbekannte Zahl von Fazendas in Alagoas, er hat auch eine Brauerei, eine Radio- und eine Fernseh-Station und eine Zeitung in Alagoas, neben einer unbekannten Anzahl von Immobilien.

Ach, dachte sich der Politiker, das mach ich ganz einfach, ich lege eine Anzahl von Quittungen von Verkauf von Schlachtrindern vor und belege damit, ich konnte diese Summe sehr wohl aufbringen. Allerdings unterlief ihm da ein Schönheitsfehler: Die Quittungen waren schlecht gefälscht. Die Bundespolizei, die später mit der Untersuchung dieser Quittungen beauftragt wurde, bestätigte, es gebe schwere Indizien für Fälschung.

Der Rest ist kurz erzählt: Die Mehrheit der Koalitions-Senatoren sprach ihn trotz all dieser Offensichtlichkeiten von der Anklage frei, aber er war nicht mehr zu halten, dazu war der Skandal zu bekannt und zu offensichtlich. Man veranlasste ihn zunächst, zeitweise sein Präsidentenamt zur Verfügung zu stellen und nun scheint seine Karriere wirklich einen ziemlichen Knick bekommen zu haben, nachdem weitere Vorwürfe aufgetaucht sind. Wahrscheinlich wird er nun zurücktreten und für eine Zeit von der politischen Bühne verschwinden.

Für unsere Kenntnis über Entwicklungsländer haben wir nun dazugelernt: Die wirklich Herrschenden in diesen Ländern zahlen (praktisch) keine Steuern, aber sie müssen dies lernen besser zu verstecken.


Veröffentlicht am 21. November 2007 in der Berliner Umschau

Originalartikel

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