Alles über 65 - ab nach rechts!
Von Karl Weiss
Hatten wir uns kürzlich noch über die Firmen aufgeregt (hier ), die von allen möglichen Datensammlern Namen, Adressen, Telefonnummern, Kontonummern und Kreditkartendaten von Hunderttausenden oder Millionen Deutschen kaufen können, um damit ihre Propaganda gezielter an Mann und Frau zu bringen – oder aber auch um kriminelle Dinge damit anzustellen, wie Abbuchungen von (oder mit) der Kreditkarte, Abräumen des Kontos usw., so verschlägt es uns nun wirklich den Atem, wenn wir hören, die Parteien dürfen für ihre Wahl-„Werbung“ von den Einwohnermeldeämtern ganz legal alle erforderlichen Daten von Bevölkerungsgruppen abrufen, um dann gezielt bestimmte Teile der Bevölkerung mit Propagandamaterial zuwerfen zu können.
So hat CSU-Ministerpräsident Beckstein sich ganz gezielt an die über 65-jährigen Münchner gewandt und ihnen u.a. folgende Zumutung geschrieben: "Gemeinsam haben wir Bayern zu einem großartigen Land gemacht", obwohl sich fast niemand daran erinnerte, etwas gemeinsam mit Beckstein gemacht zu haben.
Aber das liegt natürlich daran, dass diese alten Knacker kein Gedächtnis mehr haben, nicht wahr?
Eine 83-jährige Münchnerin beschwerte sich bei der CSU über die nicht angeforderte Post und bekam prompt die lapidare Antwort, das sei legal.
Ein SPD-Mitglied erklärte: „Wenn das legal ist, dann ist das ja gerade der Skandal.“
Dies sei, so bekommt man zur Auskunft, nicht nur legal, sondern werde von fast allen Parteien genutzt. Das Recht hätten alle kandidierenden Parteien ab einem halben Jahr vor den Wahlen.
Jetzt wissen Sie also, lieber gläserner Bundesbürger, warum wir uns in Deutschland immer am Wohnort an- und abmelden müssen (in den meisten Ländern der Welt gibt es das nicht). Wo bekämen sonst die Parteien unsere Adressen her?
Man könne sich mit Ausfüllen eines Formular dort ausklinken, wird einem auf Beschwerde hin gesagt, das im Internet heruntergeladen werden könnte. Na, die über 65-Jährigen haben ja alle Internet.
Hat man nicht vergessen, uns dies zu sagen oder uns ein Merkblatt hierüber zu geben, als wir uns das letzte Mal bei einem Einwohnermeldeamt angemeldet haben?
Es sei im Sinne des Gemeinwohls, wenn Parteien unsere Adressen bekämen, wird argumentiert. Ja, deshalb heißt jenes Wohl wohl auch „gemein“.
Nach einer Anzahl von Wahlen, wenn man jeweils eine Altersgruppe abgeschöpft hat, hat damit jede clevere Partei die gesamte Adressenkartei der Bevölkerung, feinsäuberlich nach Altersgruppen – und „Cleverle“ sind sie ja wohl alle, oder?
Wie gut, dass wir wissen, alle Politker sind die reinsten Engel und werden selbstverständlich unsere Adressen niemals verkaufen oder missbrauchen, nicht wahr – sonst müsste man ja fast Übles befürchten.
Veröffentlicht am 26. September 2008 in der Berliner Umschau
Originalveröffentlichung
Ich habe mich kürzlich umgemeldet und nach erfolgter Ummeldung sogar postalisch Informationen zu meinem Widerspruchsrecht erhalten (was ich jedoch vorher schon in Anspruch nahm).
Ich will nicht sagen, dass es nicht eine Umverschämtheit ist, den Bürger einfach anzuschreiben. Aber dennoch sollten Sie bedenken, dass es in den Ummeldeunterlagen zu finden ist. Außerdem hat die GEZ ebenfalls zugriff auf diese Daten und belästigt munter jeden, der sich erdreistet umzuziehen.
Bleibt aufrecht
Nachdem ich selbst schon lange nicht mehr in Deutschland umgezogen bin, habe ich bei den Recherchen zum Artikel jemanden befragt, der 2004 umgezogen ist. Bis dahin gab es (jedenfalls im Landkreis München) kein neues Formular, keine Kreuzchen. Da ja seit 2004 wohl nur ein Bruchteil der Deutschen umgezogen ist, bleibt die Anklage aufrecht, auch wenn man jetzt korrekt auf diese Möglichkeiten aufmerksam macht. Es werden ja keineswegs nur die Adressen derer herausgegeben, die mit dem neuen Formular umgemeldet haben