Zum neuen Jahr
Von Karl Weiss
Dieses Mal wollte ich eigentlich wieder etwas Aufrüttelndes bringen zum neuen Jahr, so wie letztes Jahr den Weihnachtsartikel (hier: http://karlweiss.twoday.net/stories/4560017/), aber irgendwie kann ich angesichts des Massakers im Gaza-Streifen nur schwer etwas bringen, was das Leiden der Palästinenser dort nicht irgendwie zu relativieren erscheint.
So schreibe ich also etwas Nachdenkliches, einen Gedanken, der mir vor einiger Zeit kam, als ich ein Interview in CNN sah. Ich kann nicht mehr genau rekonstruieren, wann es genau war, aber es hatte einmal wieder einer jener Amokläufer zugeschlagen, die in den USA fast gang und gäbe sind. Eine Schule der Amish war überfallen worden und der Amokläufer hatte mehrere Schüler erschossen. Die Amish sind eine christliche Sekte, die alle modernen Errungenschaften ablehnt und lebt wie im 18. Jahrhundert. Da brachte CNN ein Interview mit dem Vater einer der ermordeten Schülerinnen. Man fragte ihn, ob er für die Todesstrafe für den Täter sei.
Da gab der Vater eine Antwort, die mir bis heute im Kopf herumschwirrt. Er sagte: "Wir müssen versuchen zu verzeihen, sonst wird Gott uns nicht verzeihen."
Ich erinnerte mich da meiner christlichen Erziehung und dass man da bei vielen Gelegenheiten herunterleierte: "...und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern; ..."
Meine Güte, dachte ich bei mir, das ist ja wirklich Teil der christlichen Religion und die Christen müssten eigentlich danach handeln.
Dann dachte ich: Man stelle sich vor, nur mal theoretisch, nach den Anschlägen des 11. September wäre einer Präsident der Vereinigten Staaten gewesen, der dies gesagt hätte: "Wir werden versuchen zu vergeben, denn sonst wird Gott uns nicht vergeben!"
Ich bin überzeugt, ab diesem Moment hätte die christliche Religion alle anderen ausgestochen gehabt. Die Attraktivität des Islam, des Buddismus, des Hinduismus usw. wäre völlig verblasst vor einer Religion, die auf eine solche Tat mit dem Versuch zu vergeben reagiert.
Ich stelle mir vor, selbst ich, der ich harter Verfechter des Atheismus bin, hätte mich wieder dem Christentum zuwenden können.
Die Frage, welche Religion führend in der Welt ist, wäre ein für alle Mal entschieden gewesen und die Frage des Verzeihens wäre zu einer zentralen Frage im Zusammenhang mit jeder Schuld geworden.
Phantastische Vorstellung!
Die Realität ist bekanntermaßen nicht so. Umso mehr möchte ich mich als stiller Mitleser bei Ihnen bedanken, dass Sie solche Gedanken formulieren.
Und Sie haben mir auch viele andere bedenkenswerte Ansätze "frei Haus" geliefert, die ich per Zeitungsabonnement nie kriegen würde.
Ich danke Ihnen!