Wirtschafts- und Finanzkrise - Wer war zuerst da, das Huhn oder das Ei?
Von Karl Weiss
In der Flut von nichtssagenden und hilflosen Artikeln zur aktuellen Wirtschaftskrise gehen manchmal einige Fakten einfach unter. Das betrifft zum Beispiel die Aussage des US-amerikanischen „National Bureau of Economic Research“ (NBER), einer Regierungs-Agentur, dass die US-Wirtschaft bereits seit Dezember 2007 in der „Rezession“ (gemeint ist: Wirtschaftskrise) ist.
Die offizielle Definition der Wirtschaftskrise, von den bürgerlichen Ökonomen meist verniedlichend Rezession genannt, ist die: Sie tritt ein, wenn das Brutto-Inlandsprodukt in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen sinkt. Das war in den USA, der die Weltwirtschaft dominierenden Ökonomie (nachdem die Zahlen des zweiten und dritten Quartals korrigiert werden mussten), erst mit der Bekanntgabe der berichtigten Zahlen des zweiten und dritten Quartals 08 der Fall, was im November geschah.
Dadurch schien die Wirtschaftskrise, die ja scheinbar erst im November konstatiert werden konnte, eindeutig von der Finanzkrise ausgelöst worden zu sein, die ja zum sichtbaren Ausbruch am 15. September mit der Pleite der Lehmann Brothers Bank kam.
Allerdings ist die 2-Quartal-Regel ja nicht eine Hilfe, um den Zeitpunkt des Beginns der Wirtschaftskrise festzustellen, sie wurde vielmehr eingeführt, um nicht zu früh wegen stärkerer Schwankungen „Krise“ zu schreien, was dann tatsächlich zu einem Abschwung führen kann (wenn es auch nicht ursächlich für eine Krise sein kann). Die Regel konstatiert die Krise, sagt aber nichts über den Zeitpunkt des Beginns. Ist die Krise einmal festgestellt, definiert man den Zeitpunkt des Beginns, in dem man die verschiedenen Statistik-Zahlen genau überprüft und feststellt, ab welchem Zeitpunkt es abwärts ging, d.h. wann die Trendumkehr in den Zahlen einsetzte.
Dies hat nun das NBER getan und festgestellt: Der Beginn der Krise, der Zeitpunkt, ab dem alle wesentlichen Daten in den USA auf Abwärtstrend gingen, war im Dezember 2007! Damit aber kann man definitiv ausschließen, dass die Wirtschaftskrise von der Finanzkrise ausgelöst wurde. Eher wäre das umgekehrte denkbar: Die Finanzkrise, die natürlich längst herangereift war, denn niemand konnte ja wohl ernsthaft annehmen, dass mit dem Erfinden von „Derivaten“ wirkliche, wahre Werte geschaffen werden konnten, sie war es, die angesichts der Wirtschaft auf Talfahrt nicht mehr weiter hinausgeschoben werden konnte.
Erinnern wir uns: Bereits im Jahr 2006 stellte einer der Analysten fest: Der Immobilienmarkt der USA befindet sich im freien Fall! Und alle in den Finanzinstituten wussten das. Der Grossteil der „Derivate“ war haargenau auf jene Hypothekenkredite von Immobilien in den USA bezogen. Jede halbwegs vernünftige Person, der die Gier nicht den Verstand geraubt hat, würde nun aus solchen „Derivaten“ aussteigen, auch wenn man damit auf scheinbar leichte Gewinne in jenem Moment verzichtete. Nun, wir wissen heute: Fast alle Banken und andere Finanzinstitutionen wie Versicherungen verhielten sich in dieser Hinsicht nicht wie vernünftige Menschen.
Die andere Interpretation dieses scheinbar völlig wahnwitzigen Verhaltens ist, dass die „Finanzagenten“ sich in Wirklichkeit in vollem Umfang des Risikos bewusst waren, aber gleichzeitig wussten, wenn es zum Ausbruch kommt, kann man die Regierung zwingen, unter dem Vorwand „die Banken zu retten“ die Verluste aus Steuerzahlergeldern zu ersetzen, denn der Schwanz (die Regierung) wedelt natürlich nicht mit dem Hund (dem Kapital).
Auch als eine kleinere Bank aufgefangen werden musste, das war noch im August, hörte anscheinend niemand Warnglocken schrillen. Auch als Fannie Mae und Freddie Mac gerettet werden mussten, das war noch Anfang September: Niemand trennte sich von den zu diesem Zeitpunkt noch scheinbar profitablen Papieren. Erst als die Lehmann Brothers den Bach hinunterging, begann man plötzlich zu reagieren. Aber da kaufte einem schon niemand mehr jene „Derivate“ ab. Sie waren zu „Trash“-Papieren geworden. Da sie aber bei vielen Banken den wesentlichen Teil ihres angelegten Geldes ausmachten, mussten die Banken „Kasse machen“ und Aktien verkaufen. Damit schickten sie die Aktienkurse auf Talfahrt. So verlor der Dow Jones am folgenden Tag 7% seines Wertes, das entspricht weit höheren Werten als an jenem „Schwarzen Freitag“ im Jahr 1929 verloren gingen.
Damit war die Finanzkrise offen ausgebrochen und nun verstärkten sie sich gegenseitig, die Finanz- und die Wirtschaftskrise. Nur war es eben nicht so, dass die Finanzkrise die Wirtschaftskrise ausgelöst hatte.
Damit dauert die Krise in den USA aber nun bereits ein Jahr und das ist mehr als der Durchschnitt aller Krisen seit dem 2. Weltkrieg. Es gab zwar danach auch Krisen, aber die waren von kurzer Dauer.
Die Produktionstätigkeit in den USA ist nach den neuesten Zahlen auf den niedrigsten Stand seit 26 Jahren gefallen. Das sind schwerste Alarmzeichen und man muss davon ausgehen, es wird nicht nur die längste, sondern auch die tiefste Krise seit undenklichen Zeiten.
Darüber hinaus sehen die Statistiker noch nicht die geringsten Anzeichen in einer Verringerung der Fallgeschwindigkeit in die Krise. Daraus schließen sie, dass die Talsohle bis einschließlich März noch nicht erreicht sein wird. Da die Zahlen aber im Moment extrem steil abfallende Nummern zeigen, würde bis April, Mai oder Juni ein bisher nicht vorstellbar niedriges Niveau erreicht werden.
Solche statistischen Untersuchungen werden natürlich nicht an Umfragen festgemacht oder an den Aktienkursen, sondern an ganz handfesten Anzeichen, also der Industrieproduktion, der Bautätigkeit, den neuen Arbeitslos–Meldungen und dem Konsum.
Darüber hinaus wird festgestellt: Wenn die Krise so tief ausfällt, dann wird sie nach allen Erfahrungen nicht schnell wieder in eine Erholungsphase übergehen, sondern eine ausgedehnte Talsohle haben. All diese Anzeichen deuten also auf etwas hin, was eine verdammte Ähnlichkeit mit der „Großen Depression“ hat, die 1929 ausbrach und sich praktisch bis an den 2. Weltkrieg heran hinzog.
Veröffentlicht am 8. Januar 2009 in der Berliner Umschau
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