Stuttgart21: Das Volk hatte nie eine Chance!
Von Karl Weiss
Wurde das Volk bei der Entscheidung über ‚Stuttgart21‘ beteiligt? Nein! Hatte es irgendwann eine Chance, dagegen Einspruch zu erheben, mitzubestimmen oder das Projekt abzulehnen? Nein! Das sind die Ergebnisse von Recherchen des Journalisten Andreas Zielcke von der „Süddeutschen Zeitung“. Sein Artikel „Der unheilbare Mangel“ war am 19. 10. 10 nur wenige Stunden auf der Startseite der „SZ“. Dann wurde er ins Kleingedruckte abgeschoben.
Allerdings erlebte er später eine Wiederauferstehung als „Am meisten verschickt“. Die „Süddeutsche Zeitung“ ist bereits seit einiger Zeit Teil des Stuttgarter Pressekonzerns, der wesentlich für die Propaganda für ‚Stuttgart21‘ zuständig war.
Der Journalist legt im Artikel dar: ‚Stuttgart21‘ wurde am 18. April 1994 aus der Taufe gehoben. Auf einer „kurzfristig einberufenen Pressekonferenz“ legten der Bahnchef, der Ministerpräsident, der Oberbürgermeister und weitere Honoratioren das Projekt auf den Tisch. Es wird sogar berichtet, den Herrschaften sei "eine diebische Freude über ihren geglückten Überraschungscoup anzumerken" gewesen.
Es waren bereits alle wesentlichen heutigen Bestandteile drin. Auch die Kostenschätzung, die damals mit „Preisstand 1/93“ angegeben wurde. Sie ist heute weiterhin gültig! Hier liegt bereits ein wesentlicher Einspruchsgrund: Die Preise sind seit damals gestiegen und es muss zunächst eine vernünftige Kostenvorhersage auf den Tisch, bevor eineinhalb Jahrzehnte später auf dieser Kostenschätzung basierend Tatsachen geschaffen werden dürfen.
Ebenso ist klar, die vor diesem Termin bereits durchgeführten Arbeiten zum Projekt wurden in aller Hast durchgeführt, was noch heute zu schweren Mängeln des Projekts führt. (siehe auch diesen Artikel: „‚Stuttgart21‘ – Der GAU“ http://karlweiss.twoday.net/stories/8373902/ )
Die beiden Schwesterprojekte ‚Frankfurt21‘ und ‚München21‘, bei denen es ebenfalls um das Ersetzen von Kopfbahnhöfen durch unterirdische Durchgangsbahnhöfe ging, wurden erst im Juni 1996 der Öffentlichkeit vorgestellt, also mehr als 2 Jahre später. Beide wurden von den Ratsherren der jeweiligen Städte beraten und abgelehnt. Es war offensichtlich, der ungeheure finanzielle Aufwand stand in keiner Relation zu den Vorteilen.
Allerdings hatten die Stuttgarter nie Gelegenheit, mit den Münchener und Frankfurter Argumenten gegen ‚Stuttgart21‘ vorzugehen, denn schon lange bevor die beiden Schwesterprojekte überhaupt vorgestellt wurden, waren in Stuttgart in höchster Eile bereits endgültige Beschlüsse geschaffen worden. Bereits am 7. November 1995, ohne irgendwelche erwähnenswerten öffentlichen Debatten, wurde eine „Rahmenvereinbarung“ zwischen Bahn, Bund, Land und Region getroffen, die das Projekt festschrieb. Kurz danach, noch im gleichen Monat, ohne größere Aussprache, ohne irgendwelche Anhörungen von Fachleuten oder etwas Ähnlichem dazu, ohne der Bevölkerung klar gemacht zu haben, was da auf sie zukommt (nur positive Artikel über das Projekt, nicht eine einzige Abwägung von Vor- und Nachteilen) beschloss das Stuttgarter Stadtparlament am 30. November 1995 das Projekt „Stuttgart21“ – man kann sagen, in aller Heimlichkeit.
Als 2009 ein Volksbegehren gegen das Projekt versucht wurde, urteilte das Stuttgarter Verwaltungsgericht, dieses sei nicht zulässig, denn bei Erfolg würde die Stadt zu einer rechtswidrigen Aktion gezwungen, nämlich die Rahmenvereinbarung von 1995 aufzukündigen. Sprich, nach der Rahmenvereinbarung und dem Stadtratsbeschluss war bereits alles niet- und nagelfest abgeschlossen, keinerlei Möglichkeit zur Revision. Anders ausgedrückt, es gibt nichts mehr über das Projekt zu diskutieren, außer dass es umgesetzt werden muss auf Biegen und Brechen.
Irgendeine auch nur formale Bürgerbeteiligung ist seit November 1995 ausgeschlossen. Und das für ein „Jahrhundertprojekt“, das erst eineinhalb Jahre vorher überhaupt zum ersten Mal vorgestellt worden war. Hätte die Stuttgarter Obrigkeit wenigstens gewartet, bis die beiden Schwesterprojekte vorgestellt worden waren, hätten die Stuttgarter eben auch negative Seiten des Projektes kennengelernt. So aber waren alle zugänglichen Informationen bis zum Zeitpunkt, ab dem nichts mehr ging, ausschließlich positive.
Dafür sorgten die beiden einzigen erwähnenswerten Stuttgarter Zeitungen, die „Stuttgarter Nachrichten“ und die „Stuttgarter Zeitung“, die beide zum gleichen Konzern gehören (wie auch die „Süddeutsche Zeitung“), der sich das Projekt zu eigen gemacht hatte.
Da stellt sich natürlich auch die Frage, ob man sich heute wirklich so einfach auf einen Beschluss berufen kann, der eineinhalb Jahrzehnte zurückliegt. In Wirklichkeit lag das Projekt ja lange in der Mottenkiste, weil die Finanzierung nicht gesichert war. Erst 2009 wurde es wieder ans Tageslicht geholt, als das Land einen Teil der Kosten übernahm. Gibt es keine Mindestfrist, innerhalb derer das Projekt zumindest begonnen worden sein muss? Kann ein Beschluss , der zum Beispiel hundert Jahre zurückliegt, heute wirklich gültig sein?
Es ist also frech gelogen, das Projekt habe alle demokratischen Prozesse durchlaufen. Ja, man muss sogar fragen, ob dieser „Nichts-geht-mehr-Beschluss“ des Stuttgarter Stadtrates vom 30. November 1995 wirklich ausreichend sein kann, um ein Projekt diesen Umfanges (das noch dazu erst 2009 in Bau ging) zu legitimieren. Da der wesentliche Teil der Finanzierung vom Bund (Bahn) aufgebracht wird und auch ein Teil vom Land Baden–Württemberg, muss die Frage gestellt werden, ob bei einem „Jahrhundertprojekt“, das am Ende wahrscheinlich um die 18 bis 20 Milliarden Euro kosten wird (wenn es verwirklicht wird), nicht auch die Zustimmung des Bundestags und des Landesparlaments erforderlich gewesen wäre.
Wie auch immer, eine irgendwie geartete Bürgerbeteiligung hat nie stattgefunden.
Nun wird dagegen argumentiert, man hätte ja die Parteien abwählen können, bevor sie das beschließen konnten. Nun, der Journalist hat auch das recherchiert. Ist ebenfalls falsch. Zwischen der Vorstellung des Projekts und dem absoluten Festklopfen („irreversibel“) gab es lediglich die Wahl des Gemeinderats am 12. Juni 1994, wenige Wochen nach der Vorstellung auf der Pressekonferenz. Damals war das Projekt überhaupt nicht im Wahlkampf. Niemand konnte ja auch wissen, dieser Gemeinderat würde bereits endgültig über „Stuttgart21“ beschließen.
Schließlich gibt es noch das Argument, dies alles sei ja in Planfeststellungsverfahren ausgelegen und man hätte dagegen Einsprüche einlegen können. Auch das ist nicht richtig. In Planfeststellungsverfahren haben Eingaben nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie lediglich Korrekturen und Detailbeschwerden formulieren. Jene aber, die das ganze Projekt ablehnen und/oder durch Alternativen ersetzen wollen, bleiben unberücksichtigt.
Das ist auch die wesentliche Schuld, die der Journalist bei den Politikern und der Bahn sieht. Man habe niemals auch ein einziges Alternativprojekt geprüft, auch nur eine vergleichende Studie zwischen mehreren Varianten durchgespielt, niemals auch nur einen Gedanken verschwendet, ob ein paar Minuten Zeitgewinn für einen ICE wirklich so viel Geld wert sind (dieser Zeitgewinn für den ICE ist übrigens völlig theoretisch – es wird ihn wahrscheinlich gar nicht geben).
Die Hauptschuld gibt der Journalist der Bahn. Er schreibt:
„Von Anfang an, also seit dem 18.April 1994, weigerte sich die Bahn mit hartnäckiger Konsequenz, alternative Pläne für die Einbindung Stuttgarts in eine schnelle Fernverkehrsmagistrale Paris - Budapest oder eben nur für die Modernisierung des Stuttgarter Knotenpunkts zu entwickeln. Die absolutistische Ja/Nein-Logik, die heute den Konflikt so unlösbar erscheinen lässt, war dem Projekt vom ersten Tag an aufgebürdet. Entweder wir untertunneln die Stadt und beseitigen den Kopfbahnhof, oder alles bleibt beim Alten. So rigoros, anders gesagt, so erpresserisch setzte die Bahn die Gemeinde unter Druck.“
Damit ist das fast einzige, gebetsmühlenartig wiederholte Argument widerlegt, das der demokratischen Teilhabe, der Offenheit gegenüber alternativen Überlegungen für Jahre und des demokratischen Prozesses, der „schließlich einmal zum Abschluss“ kommen müsse.
Der Vollständigkeit halber sei hier noch kurz erwähnt, wie Frankfurt zum Beispiel das Problem des Kopfbahnhofs gelöst hat, der einige Minuten Verzögerung für Hochgeschwindigkeitszüge bedeuten kann, denn er hat eine länger dauernde langsame Ein- und Ausfahrt als bei Durchgangsbahnhöfen:
Ein Teil der ICEs, die Frankfurt anlaufen, werden überhaupt nicht mehr in den Hauptbahnhof geführt, sondern halten nur am Bahnhof Frankfurt-Flughafen. Für die Reisenden kein wesentliches Hindernis, denn von dort gehen in kurzen Zeitabständen S-Bahnen zum Hauptbahnhof (oder eventuell auch schon in andere Zielrichtungen).
Das gleiche ist auch in „Stuttgart21“ vorgesehen. Auch dort soll der Flughafen-Bahnhof zu einem ICE-Haltepunkt ausgebaut werden. Die Befürworter des Projekts haben allerdings nicht bemerkt, dass sie damit ihr wesentlichstes Argument, den kleinen Zeitgewinn für die ICEs, bereits verloren haben, denn dann braucht man ja eben den Hauptbahnhof gar nicht zum Durchgangsbahnhof zu machen, wie Frankfurt perfekt beweist.
Veröffentlicht am 1. November 2010 in der Berliner Umschau
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