Montag, 13. Oktober 2008

USA: 28% effektive Analphabeten?

Amerika im Niedergang

Von Karl Weiss

Der US-Soziologe Richard Sennett vertritt die These eines allgemeinen Niedergangs der Vereinigten Staaten, weil nicht die Fertigkeiten der US-Bürger das Kapital darstellten, sondern die Finanzmanipulationen, deren Blase jetzt geplatzt ist. Die Aussagen Sennetts sind hier mit eigenen Recherchen und eigenen Anmerkungen angereichert.

Capitol, Washington (DC)

Sennett sagt, es gäbe in den USA 28% von „effektiven Analphabeten“, das seien solche, die einen Vertrag oder einen längeren Text nicht verstehen könnten. Das generelle Ausbildungsniveau dort sei zu gering.

Zwar gebe es die superteuren Spitzen-Universitäten, die tatsächlich Spitzen-Kräfte hervorbringen, aber das sei viel zu wenig für ein so grosses Land. Es würden viele Spezialisten aus dem Ausland angeworben, zum Beispiel Ingenieure und Programmierer. Das kann aber schnell zurückschlagen, wenn eine Wirtschaftskrise eintritt, so wie jetzt. Wer so flexibel ist, in die USA auszwandern, ist auch so flexibel, das Land wieder zu verlassen, wenn er den gut bezahlten Job verliert.

Er erkennt an, dass „Wall Street“und „Silicon Valley“ Spitzenprodukte auf dem Finanzsektor und dem IT-Sektor hervorbringen, sagt aber, das könne auf die grosse Zahl der US-Unternehmen nicht übertragen werden. Diese würden vielmehr keinen Wert auf die Fertigkeiten der Mitarbeiter lege, keine Weiterbildung anbieten, stattdessen neue Leute einstellen und die alten entlassen. Das führe nun, in der Krise, zu einem allgemeinen Gefühl des Niedergangs in der US-Bevölkerung.

USA: Foreclosure Zwangsversteigerung

Die US-Wirtschaft hat in den letzten zwanzig Jahren einen fundamentalen Verlust an Fertigkeiten aufzuweisen. Das ist überdeckt woden durch den Finanz-Boom des neuen Jahrhunderts, aber nun merkt der „kleiner Mann“ in den USA, er ist nicht der Gewinner in diesem Kapitalismus.

Sennet nennt u.a. den deutschen Maschinenbau als Gegenbeispiel, der weiterhin weltweit führend sei. US-Firmen, die da mithalten können, sind an den Fingern einer Hand abzuzählen.

All dies ist bisher nicht ans Tageslicht gekommen, weil die USA sich überall in der Welt bis über beide Ohren verschuldet habe und weil man einen Konsum-Boom auf Kredit erzeugt hat. Dies ist aber nun vorbei und die US-Bürger verlieren ihren Job, ihr Haus und ihre Kreditkarten. Damit bricht aber ihre Welt zusammen.

9-11-Foto

Deutlich werde dies, so Sennett, in der Attraktivität das Kandidaten-Gespanns der Republikaner, McCain und Palin, die nichts als Nostalgie nach den guten, alten US-Zeiten zu bieten haben. Nur seien diese Zeiten unwiderruflich vorbei.

Er weist die These zurück, in den USA sei die Arbeitslosigkeit niedriger als in Deutschland. Man zähle nur nicht die 1,5 Millionen Gefängnisinsassen mit und auch nicht jene, die nur Teilzeitjobs haben.

Als Beispiel für die schlechte generelle Schulbildung in den Vereinigten Staaten nennt er die Erfahrung von Lehrern, die beide Systeme kennen. Ein US-High-School-Absolvent sei ungefähr zwei Jahre hinter einem deutschen Abiturienten zurück.

Housing Slump

Weiter unten im System sei es noch schlimmer. Es gebe keine der deutschen Lehrlingsausbildung äquivalente Institution in den USA. Arbeiter sind Hilfsarbeiter und kommen nie über diesen Status hinaus.

Als eines der grössten Handicaps der US-Bevölkerung sieht Sennett das US-Konsumverhalten an, das völlig irrational sei: „Bist du unglücklich, geh einkaufen!“. Sparen gehört nicht zum Handwerkszeug des US-Amerikaners. Das wirkt sich jetzt speziell negativ aus.

Die Mängel des US-Schulsystems macht er auch daran deutlich, dass dort 600 Mal mehr für Sport als für Naturwissenschaften an den Schulen ausgegeben wird.

Immobilienkrise USA

Und die grosse Zahl der US-Nobelpreisträger? Er sagt: „Oben ist Amerika spitze, aber die große Masse der Gesellschaft droht zu scheitern.“

Er legt auch dar, dass neue kleinere Firmen in den USA weit häufiger schliessen müssen als in Deutschland oder Skandinavien. Er meint, die relativ starke Rolle der Gewerkschaften in Deutschland wirke sich jetzt in Deutschland positiv aus, in dem Sinne, dass 'good old Germany' seiner Ansicht nach nicht so katastrophal von der Krise getroffen wird wie der grosse Bruder auf der anderen Seite des Atlantiks.

Hier ist der Link zum Interview.

Als Zusatz noch die Erfahrung eines der Freunde des Berichterstatters, der in den USA arbeitete: „Es war Anfang der Neunziger Jahre. Ich war eingeladen worden, eine Firma zu besuchen, die tief in den Apalachen in Pennsylvania lag. Die Tochter des Firmenbesitzers fuhr mich vom Flughafen Pittsburg zum Hotel. Sie zeigte sich interessiert, etwas über die damals letzten Entwicklungen in Deutschland zu erfahren. Ich bemerkte verwundert, dass sie offenbar keine wirkliche Kenntnis über die deutsche Wiedervereinigung hatte und versuchte Einiges zu erklären. Sie war als Tochter des Besitzers einer Firma mit mehr als 100 Beschäftigten eine typische Mittelklasse-Vertreterin. Als wir an einer Ampel anhalten mussten, fragte sie, ob wir in Deutschland auch Ampeln hätten.“


Veröffentlicht am 13. Oktober 2008 in der Berliner Umschau


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