Unruhen in Grossbritannien
Von Karl Weiss
“Kriminelle” seien es gewesen, die in London mit seinen Vorstädten Tottenham, Peckham und anderen, in Birmingham, in Liverpool, Manchester, Bristol und anderen „Riots“ veranstaltet hätten, Unruhen, die Häuser und Autos angezündet hätten und Geschäfte aufgebrochen und geplündert hätten. Wo kommen plötzlich Tausende von „Kriminellen“ her? Entspringen sie aus dem Boden? Fallen sie vom Himmel? Tausende unbescholtener Bürger sind plötzlich zu „Kriminellen“ geworden?
Ein Kommentar der „Süddeutschen Zeitung“ (die ich üblicherweise hier immer streng kritisiere) gibt einen Einblick, wie so etwas passieren kann. Der Titel ist „Verzweifelt und wütend bis aufs Blut“ und hier kann man ihn nachlesen:
http://www.sueddeutsche.de/politik/ungerechtigkeit-in-grossbritannien-verloren-verzweifelt-wuetend-bis-aufs-blut-1.1129811
Einige Zitate:
„Anderswo mögen Hausbesitzer ihre Hypotheken nicht mehr bedienen können, doch die Preise für Penthouse-Apartments in Knightsbridge oder Kensington ziehen weiter kräftig an. Die Diamantenhändler in Hatton Garden, die Herrenausstatter in der Jermyn Street und die Nobellimousinen-Verkäufer an der Park Lane klagen nicht über schwindende Nachfrage. Und derweil Schatzkanzler George Osborne mit der einen Hand Sozialleistungen kürzt, lockt er mit der anderen Reiche aus aller Welt mit Konditionen ins Land, die den Finanzdirektor eines Schweizer Niedrigsteuer-Kantons vor Neid erblassen ließen. (...)
Dies ist der Hintergrund, vor dem man die Ausschreitungen quer durch die Elendsviertel der britischen Hauptstadt und in anderen Landesteilen betrachten muss. Wer sagt, dass sie überraschend ausgebrochen seien, lügt oder verleugnet die Realität. Denn hinter der glitzernden Fassade, die Großbritannien präsentiert, haben sich so viel Unmut, Ressentiments und Zorn angestaut, dass es nur eines Funkens bedurfte, um eine Explosion auszulösen. Die teilweise gewalttätigen Studentenproteste, die Kopf-ab-Rufe, mit denen Prinz Charles und Camilla von einer johlenden Horde empfangen wurden, ein Massenmarsch der Gewerkschaften - dies waren Anzeichen für den Sprengstoff, der sich angesammelt hat.
Es ist kein Zufall, dass kluge Beobachter eine Parallele zwischen den Volksaufständen im arabischen Frühling und den Straßenschlachten des Londoner Sommers ziehen.“
Der Artikel zitiert auch den „Daily Telegraph“:
„Ein Teil des jungen Britannien (...) ist vom Klippenrand einer zerbröckelnden Nation gestürzt."
Und es wird konstatiert: „ ... gibt es Stadtteile in London und anderswo, in denen Lebenserwartung und Kindersterblichkeit Drittwelt-Niveau haben.“
Allerdings sagt uns der Artikel nicht, was denn der wesentliche Unterschied ist zwischen jenen, die in Ägypten, Tunesien, Spanien, Israel und Griechenland, um nur wenige zu nennen, friedliche, aber extrem sichtbare und darum so effektive Proteste ohne Unterlass organisiert haben und den „Verzweifelten und Wütenden bis aufs Blut“ in England.
Der Unterschied ist: Wer sich die Mühe macht, noch friedliche, wenn auch effektive, Proteste zu organisieren, der hat noch Hoffnung auf eine Besserung, der sieht noch die Möglichkeit von Veränderungen, der vertraut bis zu einem gewissen Masse noch dem System.
Wer einen Riot veranstaltet, Unruhen, die wohl immer und überall mit Brandstiftungen und mit Plünderungen einhergehen, der hat jede Hoffnung fahren gelassen, der will nurmehr seine Wut und seinen Hass ausleben, der hat längst jede Möglichkeit einer positiven Veränderung ausgeschlossen.
Beide Haltungen können also auf fast identische Ursachen zurückzuführen sein, aber der Effekt ist drastisch unterschiedlich.
So sagt der Artikel denn auch richtig: „Diese [ihre persönliche Zukunft] stellt sich so trübe dar wie die Aussicht junger Menschen in Kairo oder Sanaa: Arbeitslosigkeit, Gelegenheitsjobs, staatliche Almosen, (...). Die Botschaft für Britanniens Unterklasse könnte eindeutiger nicht sein: einmal arm, immer arm, und das gilt selbstverständlich auch für eure Kinder und Enkel. Ihr habt mehr Chancen, einen Sechser im Lotto zu tippen, als aus eurer Klasse auszubrechen."
So müssen wir denn feststellen: Die „friedlichen Proteste“ sind in der Regel nicht radikal genug, sie gehen meist von einer möglichen Veränderung zum Guten innerhalb des Systems aus. Dagen sind die Unruhen zweifellos sehr radikal, aber ohne Ausweg. Was notwendig ist, sind radikale Proteste ohne Illusionen über die Reformierbarkeit des Systems, radikale Proteste, die auf eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft hinauslaufen, so wie Marx sie uns lehrte.
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