Bis zu 200 Tote bei Flugzeugunglück in São Paulo
Von Karl Weiss
Am Abend des 17.7.2007, kurz vor 19 Uhr Ortszeit (Mitternacht europäische Sommerzeit), machte ein Airbus 320 der brasilianischen Linie TAM, kommend aus Porto Alegre im Süden Brasiliens, einen Landeanflug auf den Flughafen Congonhas, mitten in der Stadt São Paulo, dessen Haupt-Start- und Landebahn erst kürzlich nach einem teilweisen Neubelag wieder freigegeben worden war. Die Landung misslang. Das Flugzeug schoss noch in voller Geschwindigkeit über das Ende der Landebahn hinaus, kreuzte eine sechsspurige Hauptstrasse und knallte in eine Tankstelle und anschließend in ein Gebäude der eigenen Fluggesellschaft.
Zu diesem Zeitpunkt herrschten schwere Regenfälle in São Paulo. Die ersten Kommentare gehen davon aus, dass sich Pfützen auf der Start- und Landebahn gebildet hatten und ein effektives Bremsen des Flugzeuges verhinderten. Vielleicht hat der Flugkapitän auch ein Durchstarten versucht. Die Landebahn in Congonhas ist nur 2000 Meter lang.
Um sieben Uhr abends ist in São Paulo der Höhepunkt des abendlichen Stossverkehrs mit kilometerlangen Staus. Höchstwahrscheinlich war die Hauptstraße direkt am Flughafen in beiden Richtungen auf allen Spuren gestaut.
Der Airbus der TAM soll nach ersten Meldungen 176 Personen an Bord gehabt haben. Andere Meldungen besagen, es habe zumindest 4 Überlebende im Flugzeug gegeben. Es muss aber davon ausgegangen werden, dass es auch Verletzte und eventuell Tote auf dem Boden gegeben hat, denn das Gebäude der TAM, in das der Jet gerast ist, war belebt.
Auch besteht die Möglichkeit, dass der Riesenjet, als er die Avenida Washington Louis kreuzte, eine Anzahl von Fahrzeugen dort mit sich gerissen hat. Eventuell ist das Flugzeug aber an dieser Stelle auch über sie hinweg geflogen. Das Ende des Flughafens liegt hier etwa 30 Meter über dem Strassenniveau.
Es muss wohl mit zwischen 170 und 200 Toten gerechnet werden, das ist aber offiziell noch nicht bestätigt.
Im Moment, als der Berichterstatter dies schreibt, etwa 2 einhalb Stunden nach dem Unglück, Originalübertragungen auf allen Fernsehkanälen beobachtend und im Internet die neuesten Nachrichten verfolgend, sind die Brände immer noch nicht gelöscht, obwohl mehr als 100 Feuerwehrfahrzeuge vor Ort sind. Sie werden offenbar genährt vom Kerosin des Flugzeugs selbst, von auslaufendem Benzin, Alkohol und Diesel von der Tankstelle und von einem Treibstoff-Depot, das laut Internet-Meldungen im Gebäude vorhanden gewesen sein soll.
Das Flugzeug sollte nach dem Zwischenstop in São Paulo nach Belo Horizonte weiterfliegen und war offenbar noch mit ausreichend Treibstoff für den Weiterflug versehen.
Laut einer Internet-Meldung hat ein Taxifahrer, der unmittelbar nach dem Unglück zum Katastrophenort kam, mindestens vier Personen aus dem Gebäude der TAM springen sehen, wo sie offenbar in einem Flammenmeer waren. Am Fernsehen wird eben berichtet, dass zumindest eine dieser Personen bereits tot im Krankenhaus ankam mit gebrochenem Schädel.
Bereits im Jahr 1996 war eine Fokker 100 der gleichen Fluggesellschaft TAM kurz nach dem Start von eben diesem Flughafen mitten in ein Wohngebiet gestürzt und hatte 98 Insassen und eine Person auf dem Boden in den Tod gerissen.
Die Stadt São Paulo hat, mit insgesamt 20 Millionen Einwohnern im Metropol-Gebiet die grösste der Südhalbkugel, wie so viele andere Städte, zwar einen internationalen Flughafen ausserhalb der Stadt, der weit genug von bewohnten Gebieten, Gebäuden und belebten Hauptstrassen entfernt ist, den Flughafen Cumbica, unterhält aber weiterhin einen kleineren nationalen Flughafen mitten in der Stadt, eben den Flughafen Congonhas. Wenige Meter hinter dem Flughafenzaun sind bewohnte Gebiete, andere Gebäude und zwei sechs- und teilweise sogar achtspurige Hauptstrassen.
Das gleiche gilt übrigens auch für die beiden anderen grossen Städte der Region Südosten Brasiliens, Rio de Janeiro und Belo Horizonte (von wo der Berichterstatter schreibt). In Rio ist es der Flughafen Santo Dumont, wo startenden Flugzeuge eine scharfe Kurve machen müssen, um nicht mit dem Zuckerhut zusammenzustossen. Hier in Belo Horizonte heisst der Stadtflughafen Pampulha, bevorzugt von den Passagieren wegen der kurzen Anfahrtzeit, obwohl ein sicherer Flughafen draussen vor der Stadt völlig unterausgelastet ist.
Aber dies ist ja nicht nur in Brasilien üblich. In Chicago in den USA heisst der Flughafen mitten in der Stadt Midway, in der deutschen Hauptstadt Berlin Tempelhof.
Alle diese Flughäfen entsprechen nicht den internationalen Luftfahrtrichtlinien, die zumindest ein oder zwei Kilometer freies Land hinter den Enden der Start- und Landebahnen verlangen.
In Brasilien kommt aber noch erschwerend hinzu, dass hier mit einer gewissen Häufigkeit die Regenfälle als tropische Sturzbäche auftreten.
Die Katastrophe vom 17.7.07 in São Paulo allerdings ist in einer Art und Weise angekündigt gewesen, dass eigentlich, wenn alles mit rechten Dingen zuginge, jetzt Personen der grob fahrlässigen Tötung angeklagt werden müssten.
Die Haupt-Start- und Landebahn von Congonhas ist nämlich bereits vor Monaten gesperrt worden durch einen Gerichtsbeschluss, beantragt von einem Staatsanwalt in São Paulo – und zwar genau aus diesem Grund: Bei Regen bildeten sich immer wieder grosse Pfützen, die sowohl Start- als auch Landevorgänge gefährdeten.
Man hat dann teilweise einen neuen Belag auf die Bahn aufgebracht und sie wurde erst vor wenigen Wochen wieder gänzlich freigegeben – durch Gerichtsbeschlüsse, welche die Flughafengesellschaft Infra-Aereo und die Fluggesellschaften beantragt hatten, während die Staatsanwaltschaft weiterhin für die Sperrung plädiert hat.
Doch diesmal gab es sogar noch eine unmittelbare Ansage: Einen Tag vor dem Desaster, am 16.6.07, rutschte ein kleineres Flugzeug der Fluggesellschaft Pantanal aus der Landebahn und bohrte sich in die Wiese, ohne dass allerdings jemand verletzt wurde. Der Flughafen war für eine gute Zeit gesperrt aufgrund dieses Beinahe-Unglücks. Auch an diesem Tag regnete es schon in São Paulo. Der Zwischenfall war ebenfalls auf Aquaplaning auf Pfützen auf der Rollbahn zurückzuführen.
Niemand wurde aufmerksam und sperrte nun die Piste, solange sie nass war. So kam es wie es kommen musste.
Dazu kommt, ein grosses Flugzeug wie der Airbus 320 dürfte auf einer so kurzen und gefährdeten Landebahn gar nicht zugelassen sein – aber die Fluggesellschaften wollen Reibach machen. Für sie lohnen sich vollbesetzte Grossflugzeuge an Tagesrandterminen wie diesem (Ankuft 19 Uhr) weit mehr als nur mit 100-Passagier-Flugzeugen zu fliegen, wie sie für kurze Landebahnen eher geeignet erscheinen.
Inzwischen ist es 22.30 h in Brasilien und man kann am Fernsehen in Originalübertragung sehen, wie jetzt, dreieinhalb Stunden nach der Katastrophe, immer noch bzw. schon wieder zig-meterhohe Flammen aus dem Gebäude schlagen, in das der Airbus gerast ist. Ein Teil des Gebäudes ist bereits eingestürzt und man wundert sich, wie der Rest immer noch standhält.
Als letzte Meldung kommt gerade: Die Fussball-Mannschaft von Gremio Porto Alegre, eben noch in den Endspielen der südamerikanischen Vereinsmeisterschaft „Libertadores“, ist nur um ein Haar dem Tod in der Flammenhölle dieses Desasters entkommen. Man war auf diesen Flug gebucht, wurde aber im letzten Moment auf einen anderen umgeleitet.
Informationen für Angehörige möglicher Unfall-Beteiligter finden Sie unter
http://www.tam.com.br/b2c/jsp/default.jhtml?adPagina=3&adArtigo=10742
Veröffentlicht am 18. Juli 2007 in der Berliner Umschau
Originalartikel
Zusatz vom 18.7.07, 9:30 Ortszeit
Inzwischen ist klar, es gibt keine Überlebenden aus dem Flugzeug. Man spricht bereits von mehr als 200 Toten. Insgesamt 7 der Angestellten der TAM, die in dem Gebäude gearbeitet haben, sind verletzt im Krankenhaus. Der erste identifizierte Leiche ist ein Kleinunternehmer, der gerade dabei war, Luftfracht in dem Gebäude aufzugeben, als der Airbus einschlug. Dort ist (war) u.a. die "TAM Express" untergebracht, eine Luftfracht-Gesellschaft.
Unglaublich: Die Start- und Landebahn des Flughafens ist gesperrt seit dem Unglück, aber die brasilianischen Autoritäten haben heute morgen bereits die Wiederaufnahme des Flugverkehrs auf dem Flughafen Congonhas auf der "Hilfspiste" genehmigt. Das ist jene Rollbahn, auf der die Flugzeuge zum Ende der Startbahn fahren, also noch kürzer und noch schmaler als die Hauptpiste.
Diese entmenschten Figuren dirigieren die Wirklichkeit, als ob es Show Business wäre: "The show must go on!"
abwarten und Tee trinken
Congonhas ist mit Sicherheit kein kurzer Platz fuer den kleinen Airbus. Der A 320 landet auch auf auf Plaetzen mit weniger als 1500 m sicher, nimm als Beispiel Dortmund mit 1300 m. Es gibt also keinen Grund, auf einem Platz mit 2000 m Laenge keine Mittelstreckenjets vom Typ Boeing 737, A 320 Family, Fokker 100 etc. zu betreiben.
Desweiteren koennen wir davon ausgehen, dass die TAM - wie jede serioese Fluggesellschaft - mit Leistungsdaten arbeitet, die jeden Flug nach Congonhas herein und heraus berechnen, und zwar unter dem Gesichtspunkt des Flugzeugtyps, der Beladung, Schwerpunkt, Temperatur, Beschaffenheit der Bahn (Wasser), Wind etc.pp. Kein Kapitaen eines Verkehrsflugzeugs im Liniendienst wird von einem Platz starten oder dort landen, wenn die Berechnungen das Ergebnis bringen, dass dies fliegerisch nicht sicher zu machen ist. Es gibt da oftmals die voellig falsche Vorstellungen von der Lineinfliegerei, wonach es hier bei den Crews sozusagen gewisse Ermessensspielraeume gibt, nach dem Motto, eigentlich sind wir heute zu schwer, oder das Wetter ist zu schlecht, aber wir probieren es halt mal.
Moeglicherweise ist duch Schlamperei der Platz nicht gesprerrt worden, obwohl es evt. wegen Flutung der Landebahn zweitweilig notwendig gewesen waere. Vielleicht lagen Pilotenfehler in der Landetechnik und ein zu spaetes Durchstartmanoever vor. Alles Spekulation. Abwarten und Tee trinken. Der Airbus ist ein Computerflieger, der saemtliche Daten des Fluges aufzeichnet. Es besteht wie immer noch solchen Ungluecken ein wenig die Tendenz das Kind mit dem Bade auszuschuetten. Auch lange Bahnen sind nicht Gewaehr dafuer, das Flugzeuge aufgrund von Fehlern ueber die Bahn schiessen und Bruch machen, siehe den Air France-Zwischenfall in Toronto, der durch viel Glueck aber glimpflich abging.
Gruesse nach Brasilien
Keine Spekulation
im Artikel ist an keiner Stelle davon die Rede, dass allein die kurze Landebahn bereits die Ursache für das Unglück darstellen würde. Es wird aber darauf hingewiesen, dass ein mittelgrosses Flugzeug wie der Airbus 320 mit etwa 200 möglichen Passagieren (immerhin etwa doppelt so gross und schwer wie eine Fokker 100 und etwa das eineinhalbfache der normalen Boeing 737) auf kurzen Landebahnen, die ausserdem weitere Erschwernisse zeigen, ein Risiko darstellt.
Wen du mit Werner meinst, weiss ich nicht. Ich kenne zwar einen Deutschen mit Namen Werner hier, aber ich bin Karl Weiss.
Deine Aussage "Abwarten und Teetrinken" ist allerdings etwas ungewöhnlich. Das hört sich ganz ähnlich an wie jenes "relaxar e gozar" (in etwa mit "zürücklehnen und geniessen" zu übersetzen) der Ministerin Suplicy angesichts der massiven Verspätungen im brasilianischen Luftverkehr, das jetzt nach dem TAM-Unglück einen makaberen Charakter angenommen hat.
Die politische Karriere der Suplicy dürfte damit beendet sein.
Die massiven Probleme in Congonhas sind keine Spekulation, sondern Realität. Dass man darauf nicht vor dem Unglück reagiert hat, ist ein Skandal.