Niemeyer ist 100 – 'Auf dem Höhepunkt des Schaffens'
Niemeyer ist 100 - "Auf dem Höhepunkt des Schaffens"
Von Elmar Getto
Niemeyer – wer war das noch gleich? Oscar Niemeyer! Aaaah richtig, jener große Architekt des 20. Jahrhunderts, der Brasilia gezeichnet hat! Wann ist der eigentlich gestorben? Hat jemand irgendetwas von ihm gehört?
Oscar Niemeyer lebt, ist im Dezember 2007 100 Jahre alt geworden und erklärte in einem Interview, er stehe auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Er betont, daß er Brasilianer ist. Er hält weiter seinen kommunistischen Ansichten die Treue und arbeitet intensiv, im Moment an mehreren großen Projekten, abgesehen von einigen Oberaufsichten über die Realisierung älterer Projekte. Einer seiner Mitarbeiter im Studio im obersten Stock eines Gebäudes an der Copacabana in Rio mit Blick auf eine der beeindruckendsten Landschaften der Erde, wo Niemeyer weiterhin von Montag bis Samstag arbeitet, sagt: „Ich arbeite mit Niemeyer seit 35 Jahren, aber ich habe nie eine Phase gesehen, in der er so kreativ war. Er zeichnet jeden Tag Formen, die man noch nie gesehen hat.“
Dies ins Stammbuch jener kleingeistigen Philister in den Manager-Etagen deutscher Firmen, die Menschen mit 50 Jahren bereits zum alten Eisen werfen.
Niemeyer ist mit Sicherheit das größte Phänomen der Architektur des 20., aber eben auch des 21. Jahrhunderts und ebenso ein Phänomen in seiner Aktivität mit 100 Jahren. Ein großer Teil dessen, was sich moderne Architektur nennen kann, basiert auf seinen Ideen und Werken. Er hat die moderne Architektur mehr beeinflußt als alle anderen. Für sein Lebenswerk hat er 2004 den japanischen Kaiser-Preis erhalten. Die Irakische Architektin Zaha Hadid, die in London lebt, erwähnte ihn bei der Preisverleihung des Pritzker-Preises (der 'Nobel' der Architektur) 2004 ausdrücklich als hauptsächlichen Einfluß.
Keine brasilianische Stadt, die etwas auf sich hält, ohne Werke Oscar Niemeyers.
In São Paulo steht bis heute das erste moderne Wohnhochhaus aus den vierziger Jahren, in Form eines S, das heute zwischen vielen anderen ähnlichen fast nicht mehr auffällt. Nur war es eben das erste und fast alles, was heute an Wohnhochhäusern gebaut wird, wird zum Abklatsch oder zu etwas weniger Gelungenem als dieses erste. Auch die Gedenkstätte für Lateinamerika (1988) von ihm in dieser Stadt bleibt ein Anziehungspunkt für Architekturstudenten.
Einen seiner größten Siege feierte Niemeyer 2004, als im Ibirapuera-Park in São Paulo das Auditorium eingeweiht wird, das er in den fünfziger Jahren (!) projektierte, ein Gebäude, bei dessen Anblick jedem das Wort ‚hypermodern’ einfällt.
Der Ibirapuera-Park war in den fünfziger Jahren von Burle Marx, einem anderen berühmten Brasilianer, wohl dem besten Landschafts-Architekten des 20. Jahrhunderts, konzipiert worden und einige Gebäude wurden von Niemeyer eingefügt, doch das Auditorium war damals nicht gebaut worden. Es ist an einer Seite offen, bezieht so den Park mit ein und öffnet die Veranstaltungen für alle Parkbesucher, ein demokratisches Auditorium (was natürlich nur in einem warmen Land wie Brasilien möglich ist).
In Rio de Janeiro ist es vor allem das Monument der Gefallenen des 2.Weltkriegs am Strand von Flamengo, das die Aufmerksamkeit jedes Besuchers findet. Von ihm ist auch das Gebäude des Lateinamerikanischen Parlaments und das des Museums der modernen Kunst, gleich in der Nähe. Eines der gelungesten in seiner Leichtigkeit ist aber mit Sicherheit sein Museumsbau in Niteroi, der Stadt auf der anderen Seite des Zuckerhutes, eine Art UFO, schwebend über dem Meer an einer felsigen Steilküste, genau an jenem Punkt, an dem man die schönste Sicht auf das gegenüberliegende Rio de Janeiro mit seinen runden Bergformen hat, die fast wie von Niemeyer geschaffen scheinen (in Wirklichkeit dürfte es anders herum sein: Die runden Bergformen haben zum Teil die Ideenwelt Niemeyers geprägt).
Rio hat seinem Sohn Oscar Niemeyer auch die treffendste Huldigung dargebracht: Die Straße zwischen den Stränden São Conrado und Leblon im Stadtgebiet von Rio, über einem Felsabsturz ins Meer, einer der landschaftlich schönsten Punkte der Erde, heißt schon seit vielen Jahren Avenida Niemeyer.
In Belo Horizonte steht der erste moderne Sakralbau, das Kirchlein des heiligen Franziskus am Ufer des Pampulha-Sees mitten in der Stadt, das 1940 eingeweiht wurde. Es war das erste Mal, daß jemand geschwungene Formen in Beton in einem Gebäude eingesetzt hat. Gerade war der Stahlbeton erfunden worden und damit die Möglichkeit, einem Gebäude jede beliebige Form zu geben, rund, mit weiten Überhängen usw.
Die katholische Kirche weigerte sich jahrelang, das neue Kirchlein zu weihen, das vom damaligen Bügermeister der Stadt, Juscelino Kubitschek, in Auftrag gegeben worden war. Das Werk eines Atheisten und Kommunisten, das wollte man nicht als Kirche.
Erst als Architekten und Architekturstudenten aus aller Welt begannen nach Belo Horizonte zu pilgern, nahm man das Geschenk an. Zusammen mit seiner Rückwand, völlig in blauen Fliesen, geschaffen vom brasilianischen Maler Portinari (darstellend das Leben des Heiligen), stellt das Kirchlein nicht mehr ein architektonisches Werk, sondern ein einmaliges Kunstwerk dar, etwas, das man von späteren modernen Sakralbauten nicht sagen kann. Seine Form in vier Bögen mit einem kleinen Glockenturm, der nach oben hin breiter wird, ist der eigentliche Anfang und Ausdruck aller modernen Architektur. Heute gibt es kein Brautpaar in Belo Horizonte mehr, das nicht in dieser Kirche getraut werden will.
Und schließlich - Brasilia. Als Kubitschek 1955 zum Präsidenten gewählt worden war, beschloß er, das Augenmerk Brasiliens, das immer auf der Küste gelegen hatte, ins Landesinnere zu lenken. Dort sollte eine neue Hauptstadt, Brasilia, geschaffen werden, weit im Inneren des Landes, auf einer dürren Hochebene gelegen, am Rande des Bundestaats Goias, und dort ließ er – wie in den USA – einen eigenen Bundestaat schaffen und ihn ‚Föderativer Distrikt’ (Distrito Federal) nennen.
Diese neue Hauptstadt sollte vor allem die Modernität Brasiliens und den Fortschritt (der in der Fahne Brasiliens steht) dokumentieren und so gab er den Architekturauftrag an Niemeyer, der den Plan der ganzen Stadt in Form eines Flugzeugs entwarf. Auch die einzelnen Regierungsgebäude und die Kathedrale wurden von ihm gezeichnet. Niemeyer lebte drei Jahre auf der Baustelle und entschied und überwachte jedes Detail.
Steht man heute auf dem ‚Platz der drei Gewalten’ in Brasilia, vor sich das Parlamentsgebäude mit der konkaven Kuppel für den Senat und der konvexen für das Abgeordnetenhaus, zur rechten den Präsidentenpalast mit einer großen Auffahrtsrampe über einem riesigen Wasserbecken, zur Linken das Gebäude des Obersten Gerichtshofs mit einer überdimensionalen modernen ‚Justitia’, dann wird einem klar, daß diese Gebäude, vor fast 50 Jahren eingeweiht, heute kein Architekt besser oder moderner konzipieren könnte. Niemeyer selbst sagt dazu im Interview: „Wenn Sie dort stehen, mögen Ihnen die Gebäude gefallen oder nicht, aber Sie können nicht sagen, Sie hätten so etwas schon einmal gesehen.“
Vom genannten Platz geht die große Mittelachse Brasilias aus, an der alle Ministerien stehen. Am anderen Ende der Achse war schon damals ein Kulturzentrum vorgesehen, das aber nicht zur Ausführung kam. Es ist jetzt in Planung. Das zentrale Gebäude wird ein kuppelförmiger Bau von 80 Metern Durchmesser sein, aus dem ein Beton-Halbkreis herausragt, so daß der Eindruck vom Saturn mit seinem Ring entsteht.
Sollte jemand einmal nach Brasilien reisen, wird er wohl auch in Ouro Preto halt machen, der am besten erhaltenen Barock-Stadt Brasiliens (wir hören demnächst noch von ihr, wenn es um das brasilianische Gold geht). Dort kann man im ‚Grand Hotel’ absteigen, das von niemand Geringerem als Niemeyer konzipiert wurde.
Hier zeigt er, in einem Umfeld herausragender barocker Architektur, die Lösung für das Problem jedes Architekten, der mit einem historischen Umfeld konfrontiert ist: die Bescheidenheit. Er maßt sich weder an, Barockarchitektur zu imitieren, noch stellt er modernistische Niemeyer-Architektur großkotzig gegen die historischen Kirchen. Er schafft einen niedrigen, langgesteckten Bau am Berghang, der seine Modernität nicht verleugnet, sich aber ganz zurücknimmt in modernistischen Details. Wer dort absteigt, kann sein Früstück in einem Raum mit Blick über die Stadt einnehmen, der vom Meister persönlich mit Zeichnungen auf den Wänden und einem Spruch ausgeschmückt ist.
Aber Niemeyer arbeitet(e) nicht nur in Brasilien. Sein internationaler Durchbruch kam, als er 1947 den Zuschlag für sein Projekt für das UN-Gebäude in New York bekam. Danach folgten Hunderte von Projekten: Er konzipierte eine Moschee in Algerien, die den damaligen Premier Boumedienne, der gerade den langen Befreiungskrieg gegen die Franzosen gewonnen hatte, zum Ausruf hinriß: „Das ist eine revolutionäre Moschee!“
Er entwarf für die KP Frankreichs das neue Zeitungsgebäude, noch vor wenigen Jahren überraschte er erneut mit einem Observationsturm mit Hotel und Restaurant in Brighton in England und 2004 wurde eine riesige Skulptur von ihm nach Frankreich geschafft, die an der Nationalbibliothek in Paris aufgestellt wurde.
Überhaupt ist Niemeyer nicht nur Architekt, sondern auch ein Zeichner und Bildhauer von hoher künstlerischer Qualität. In Niteroi z.B., wo inzwischen 11 seiner architektonischen Werke zu bewundern sind, viele innerhalb von Gehweite (es gibt dort einen Niemeyer-Weg, der einige verbindet), wurde vor kurzem das neue Theater eingeweiht, in dem er ebenfalls die Idee des „offenen Theaters“ zur Ausführung bringt. Dort hat er die gesamte Malerei in der Innenausstattung und an der Aussenwand sowie eine Anzahl von Skulpturen selbst ausgeführt.
In einer Anzahl von Ländern, in denen der Antikommunismus Staatsreligion ist, so wie die USA und die Bundesrepublik, wird Oscar Niemeyer im allgemeinen mit Mißachtung gestraft. Wo kämen wir hin, wenn wir noch einen Kommunisten als Genie feiern würden? Wenn überhaupt erwähnt, wird er als ‚umstrittener Architekt’ bezeichnet, seine Gebäude in Brasilia als ‚pathetisch’.
Auch brasilianischen reaktionären Politikern ist Niemeyer ein Dorn im Auge. Der Bürgermeister von Rio de Janeiro, Maia, ein Politiker vom Typ Stoiber, der seine Wiederwahl sichert, indem er rigoroseres Vorgehen gegen die Kriminellen verspricht, während die Kriminalität ohne Halt ansteigt, ließ eine Anzahl von Skulpturen entfernen, die Niemeyer auf eigene Kosten am Leme-Strand hatte aufstellen lassen und die von der Bevölkerung angenommen worden waren.
Eine andere Art der Mißachtung ist, speziell, wenn sich Deutsche mit ihm beschäftigen, die wiederholte Erwähnung seiner ‚deutschen Abstammung’, die ihn selbst auch in Wut bringt, so als ob ein ‚richtiger’ Brasilianer (Wer wäre das? Ein Indio, ein Schwarzer?) niemals in der Lage wäre, Herausragendes zu leisten. Hat man je gehört, daß große Geister aus den USA (ja, auch in einem Land, das von George W. Bush regiert wird, gibt es große Geister, ich erwähne nur Noam Chomsky) andauernd als ‚von irischer, italienischer, englischer, deutscher oder sonstiger Abstammung’ bezeichnet werden? Wird etwa andauernd erwähnt, daß Thomas Mann ‚brasilianischer Abstammung’ war (seine Mutter war Brasilianerin)?
Das größte Projekt, das momentan in Bau ist, ist sein neu konzipiertes Regierungszentrum des Bundesstaates Minas Gerais auf einer Fläche von etwa 42 Fußballfeldern in einem Stadtteil von Belo Horizonte. Das verwegendste ein Museum in Fortaleza, das im Meer gebaut wird. Auch in Niteroi ist ein Merresmuseum unter dem Meeresspiegel in Planung. Eben eingeweiht wurde die neue Zentrale der brasilianischen Itaipu-Verwaltung (Itaipu ist das riesige Staudamm- und Stauseeprojekt an der Grenze zu Paraguay zusammen mit diesem Land). Neben dem Verwaltungsgebäude und einem großen Auditorium umfaßt es einen See, einen Turm, eine Brücke über den See usw. Die Paraguayaner auf der anderen Seite des Flusses waren so begeistert, daß sie das gleiche für ihre Seite bei ihm in Auftrag gaben.
Befragt, was er an seinem 100. Geburtstag machen werde, antwortete er: „Ich werde verschwinden. Nichts ist wichtig. Jeder hinterläßt eine kleine Geschichte und verflüchtigt sich.“ (Mit 100 wird wohl die Frage nach dem Geburtstag irgendwie identisch mit der Frage nach dem Todestag.)
Schließen wir mit dem Satz, den Niemeyer in seinem Arbeitsraum zwischen einigen Zeichnungen an die Wand geschrieben hat: „Das wichtigste ist nicht die Architektur, sondern das Leben, die Freunde und diese ungerechte Welt, die wir verändern müssen.“
Dieser 4. Teil von Elmar Gettos Brasilien-Reihe wurde am 27.12. 2004 in "Rbi-aktuell", heute Berliner Umschau, veröffentlicht, hier vom Autor redigiert und aktualisiert.
Weitere Artikel zu Niemeyer im Blog:
- Was schert es den Mond...
- Niemeyer ist 100 - und arbeitet noch jeden Werktag
Hier die Links zu allen Teilen der Reihe „Brasilien jenseits von Fussball und Samba“
- Teil 1: „Wie der Amazonas zu seinem Namen kam“
- Teil 2: ‚Menschenfresser-Country’
- Teil 3: „Ausgerottete Künstler“
- Teil 4: Niemeyer ist 100 – ‚Auf dem Höhepunkt des Schaffens’
- Teil 5: Brasilien und Gold
- Teil 6: Die Landschaften Brasiliens – Der Amazonas-Regenwald
- Teil 7: Brasilien und der Strom
- Teil 8: Die Landschaften Brasiliens – Mata Atlântica
- Teil 9: Santos Dumont und der erste Motorflug
- Teil 10: SIVAM – Big Brother in Amazonien
- Teil 11: Sprit aus nachwachsenden Rohstoffen
- Teil 12: Regenwaldvernichtung und Trockenheit im Amazonasgebiet
- Teil 13: Wie unsere Zukunft in der beginnenden kapitalistischen Barbarei aussähe – „Ich habe kein Leben“
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