Brasilianische Fussballmeisterschaft auf der Zielgeraden

Extrem ausgeglichene Meisterschaft

Von Karl Weiss

Die Brasilianische Fussballmeisterschaft tritt in ihre entscheidende Phase. Noch 10 Spieltage sind zu absolvieren und 10 (in Worten : zehn) Vereine haben noch eine Chance, die Meisterschaft zu gewinnen, fünf im engeren Kreis und weitere fünf mit nur wenigen Punkten Rückstand. Acht Vereine sind dagegen noch akut vom Abstieg bedroht, ein weiterer noch nicht endgültig gesichert. D.h. von insgesamt 20 Vereinen in der Liga sind 19 noch direkt in den Kampf um die Meisterschaft oder in den gegen den Abstieg involviert, lediglich Sport Recife als 11. ist in einer „neutralen Zone“.


Alle Bilder in diesem Artikel sind von der Libertadores-Begegnung Fluminense -São Paulo im Mai. Adriano spielt heute nicht mehr bei São Paulo, sondern ist zu Inter Mailand zurückgekehrt.

In Wirklichkeit kann Sport rein rechnerisch noch Meister werden oder absteigen, nur kennt man die Stärke der Teams oben und die Schwäche der unten und so kann man diesen Club ausnehmen. Rein zufällig ist es gerade Sport, das dieses Jahr den Pokal gewonnen hat und damit bereits seinen Platz in der „Libertadores“ sicher hat. Im Gegensatz zur Champions Leage kommen in Südamerika auch die Pokalsieger in die Kontinent-Meisterschaft.

Man kann sich kaum erinnern, je eine so ausgeglichene Meisterschaftsrunde in irgendeinem Land gesehen zu haben.

Der letzte Spieltag wird am 7. Dezember sein, wenn alle zehn Begegnungen um 16 Uhr angepfiffen werden. Man kann jetzt schon darauf wetten, dass an jenem Tag noch Entscheidungen in Bezug auf die Meisterschaft und/oder die Plätze in der ‚Libertadores‘ fallen (dem südamerikanischen Gegenstück zur Champions Leage; außer dem Meister kommen noch der zweite, dritte und vierte in die Libertadores), genauso wie zum Abstieg.



An der Spitze stehen punktgleich Palmeiras São Paulo und Gremio Porto Alegre mit 53 Punkten. Palmeiras war seit Beginn der Saison Favorit. Man hatte sich deutlich verstärkt, hatte Anfang des Jahres Wanderley Luxemburgo als Trainer engagiert und die São Paulo-Meisterschaft gegen den São Paulo F.C. gewonnen. Der jeweils von Luxemburgo trainierte Verein stand die ganzen letzten Jahre in Brasilien auf einem der drei ersten Plätze. Zwar hat Luxemburgo bei Real Madrid schon bewiesen, dass er kein guter Trainer ist für Vereine, die nicht die brasilianische Spielweise praktizieren (viele Kurzpässe und Dribblings), ebenso kann er Mannschaften nicht gut auf Gegner einstellen, die nicht so spielen (was er als Trainer der Nationalmannschaft gezeigt hat), aber wenn beide brasilianisch sind, ist er fast unschlagbar.

Zu Beginn der Meisterschaft hatte Palmeiras allerdings eine ausgedehnte Schwächephase und brauchte lange, bis man begann, sich in der Tabelle emporzuarbeiten. Während der Saison aber bekam an der Spitze ein Verein nach dem anderen Schwächeperioden und so schloss Palmeiras bald auf.

Gremio Porto Alegre hatte sich vorher die Tabellenspitze geholt, als der lange führende Verein Flamengo Rio de Janeiro, Brasiliens Club mit den meisten Anhängern, seine Schwächephase bekam. Doch nun ist es Gremio, das diese Schwächephase hat. Man hat letzte Woche in einem Spiel der Südamerika-Meisterschaft (das ist das Gegenstück zum UEFA-Cup) eine 4:0-Schlappe gegen den Lokalrivalen Internacional erlitten.



Auf dem Sprung stehen dahinter mit vier Punkten Abstand (das ist bei zehn ausstehenden Spielen fast nichts) drei Vereine, jeder aus einer der drei grossen Metropolen des brasilianischen Südostens: Der São Paulo F.C., Flamengo Rio de Janeiro und Cruzeiro Belo Horizonte. Vorjahresmeister São Paulo scheint in einer guten Phase zu sein und darf noch als einer der grossen Anwärter auf die Meisterschaft angesehen werden. Flamengo hat sich nach der Schwächephase wieder gefangen, nachdem man grosse Teile der Saison an der Spitze stand und muss ebenfalls noch als ernster Anwärter angesehen werden.

Interessant: Alle diese 5 Vereine ander Spitze haben fast die gleiche Zahl von Toren geschossen: 43, 44, 45 oder 46.

São Paulo hat bereits 10 Unentschieden zu verzeichnen. Das Team ist Spezialist darin, eine drohende Niederlage noch zu vermeiden. Am anderen Ende der Skala steht Cruzeiro: Mit nur 4 Unentschieden in 28 Spielen hat man die Tabellenführung hauptsächlich deshalb verloren, weil man Rückstände nicht versteht in Unentschieden zu verwandeln. Die höchste Zahl von Siegen (das ist das erste Kriterium bei Punktgleicheit) hat Palmeiras mit 16 (von 28 Spielen, ein weiterer Beweis für die Ausgeglichenheit), die geringste Zahl der Niederlagen haben Gremio und São Paulo mit fünf. Gremio hat auch die beste Tordifferenz. Am Ende dürfte mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit entweder Palmeiras, Gremio oder São Paulo vorne stehen.



Hinter diesen ersten fünf stehen noch mit Chancen auf die Meisterschaft: Coritiba aus der paranaensischen Hauptstadt Curitiba mit 44 Punkten, Botafogo Rio de Janeiro, Vitória Salvador und Goiás Goiánia mit 43 und Internacional mit 42 Punkten.

Der Abstiegsstrudel zieht sich vom 12., das ist Atlético Mineiro mit 34 Punkten, über Santos aus der grössten Hafenstadt Südamerikas mit 33 und Figuerense Florianópolis mit 32 hin zu Náutico Recife mit 30 und Atletico Paranaense aus Curitiba mit 28, die alle noch nicht auf einem Abstiegsplatz stehen, aber auch nur wenige Punkte davor, hin zu den vier auf den Abstiegsplätzen: Auf Platz 17 Portuguesa São Paulo (einer der üblichen Verdächtigen Aufsteiger für den Abstieg), auf Platz 18 Ipatinga aus der Stahlstadt in Minas Gerais (auch einer der üblichen Verdächtigen), beide mit 27 Punkten und dann – wer richtig mitgezählt hat, weiss es schon – auf den beiden letzten Plätzen und in höchster Abstiegsnot zwei der vier grossen Rio-Vereine: Fluminense als Vorletzter mit 27 und Vasco als Letzter mit 26 Punkten. Ja, genau jenes Fluminense, das noch im Juni in den Endspielen der Copa Libertadores stand und nur im Elfmeterschiessen verlor.

Das wäre tatsächlich ein Schlag für Rio, wenn beide absteigen sollten. Aber es sind ja noch 10 Runden zu spielen, da kann noch viel passieren. Sollten beide sich noch retten können, würde der Abstieg wohl auf Portuguesa, Ipatinga, Atletico Paranaense und Náutico zulaufen.



Da kommen jetzt eine grosse Anzahl von 6-Punkte-Spielen, die sicherlich extrem interessant sein werden. So treffen am letzten Spieltag zum Beispiel Fluminense und Ipatinga aufeinander und spielen wahscheinlich um den Abstieg, ebenso wie beim Spiel Santos-Náutico, während gleichzeitig das Spiel Palmeiras gegen Botafogo die Meisterschaft entscheiden könnte.

Am fünftletzten Spieltag steigt in São Paulo das Spiel zwischen den beiden jetzigen Spitzenreitern, Palmeiras und Gremio. Das könnte bereits die Vorentscheidung sein

Am 2. November ist das Duell zwischen Fluminense und Vasco angesagt. Wer da verliert, hat gute Chancen abzusteigen. Am gleichen Tag auch Goiás - Cruzeiro. Da dürfte der Verlierer aus dem Meisterschaftsrennen sein.



Wenn Flamengo am 29. Oktober bei Vitória in Salvador antreten muss und dort verliert, könnte der Traum von der Meisterschaft ausgeträumt sein.

Allerdings könnte das gleiche auch auf Vitória zutreffen, wenn es am 23.10. bei São Paulo spielt.

Für Fluminense könnte das Spiel am 11.10. bereits Schicksalspiel sein, wenn man in Curitiba bei Atletico Paranaense antritt. Ein Auswärtssieg – und man könnte an dem Rivalen vorbeiziehen und aus den Abstiegsplätzen herauskommen, eine Niederlage und die Lichter gingen schon fast aus.


Veröffentlicht am 6. Oktober 2008 in der Berliner Umschau

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