Das Verfassungsgericht und Hartz IV
Von Karl Weiss
Zwei Nachrichten haben in den letzten Tagen die Diskussion um Hartz IV erneut angeheizt, die im Grunde nie abgerissen war. Die erste war vom Hessischen Landessozialgericht: Man erklärte, nach Ansicht dieses Gerichts sei der Hartz-IV-Regelsatz (351,- Euro) verfassungswidrig, weil er in nicht nachvollziehbarer Weise Abschläge ohne Begründung enthält. Man verwies deshalb ein Verfahren an das Bundesverfassungsgericht (BVG). Gleich am darauffolgenden Tag kam eine ähnliche Nachricht, diesmal vom Bundessozialgericht, der höchsten Instanz im Sozialrecht, das bisher dadurch aufgefallen war, alle Vorgaben der Politik abzusegnen: Der verminderte Satz für Kinder, so das Bundessozialgericht, sei verfassungswidrig, denn er sei nicht begründet. Auch dies Gericht verwies Verfahren ans BVG, das nun nicht mehr darum herumkommt, sich dazu zu stellen.
Bereits seit Einführung von Hartz IV im Januar 2005 gab es vielfache Anstrengungen, das BVG zu einer Stellungnahme zu dieser größten Enteignungs-Gesetzgebung der Geschichte der Bundesrepublik zu bewegen. Unter Vorgabe juristischer Spitzfindigkeiten hat es sich aber bis heute geweigert, eine Grundsatzentscheidung zu den wesentlichen Inhalten von Hartz IV zu fällen. Erst jetzt, fast genau 4 Jahre später, wird zumindest zur Höhe des Regelsatzes und des Satzes für Kinder eine Entscheidung gefällt werden müssen.
Dabei ist die Höhe des Satzes tatsächlich eine der großen Unmenschlichkeiten bei Hartz IV, aber noch nicht einmal die größte. Die entsetzlichen Auswirkungen von Hartz IV auf die gesamte Gesellschaft wurden vor allem durch die Vorschriften hervorgerufen, dass Arbeitslose in Hartz IV jegliche Arbeit zu jeglicher Bezahlung annehmen müssen und dass gleichzeitig die Zeitarbeit geöffnet wurde und kein Mindestlohn festgelegt wurde. Dazu wurden die Ein-Euro-Jobs geschaffen, die reguläre Arbeitsplätze ersetzt haben und so die Arbeitslosigkeit insgesamt in die Höhe getrieben haben. So wurden all die Niedriglohn-Bereiche geschaffen und das gesamte Lohnniveau in Deutschland in den Keller getrieben.
Rechtlich gesehen ist das Hauptproblem von Hartz IV aber die Enteignung. Alle diese Arbeitslosen haben (zum Teil viele Jahre) in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt und haben daher Anspruch auf die mit dieser Zahlung verbundenen Versicherungsleistungen. Genau gesagt, hängt die Auszahlung einer Versicherungsleistung gar nicht von der Zahl der Jahre ab, die eingezahlt wurde, das ist ja gerade das Prinzip einer Versicherung. Allerdings kann es Mindestjahre geben, das sind in Deutschland drei jahre und die Leistung kann nach der Höhe der Einzahlung gestaffelt sein. Auch das war in Deutschland der Fall. Man bezahlte einen Prozentsatz des Brutto-Einkommens bis zu einem Höchstbetrag und hatte dann Anspruch auf Arbeitslosengeld in Prozent der letzten Einkommen (bzw. des Höchstbetrages) und nach 2 bzw. drei Jahren auf Arbeitslosenhilfe, deutlich weniger, aber ebenfalls abgestuft nach Einkommen und Einzahlungshöhe.
Nun kann ein Versicherungsunternehmen (und damit muss hier verglichen werden) natürlich sagen: Ab sofort kann ich aus diesen und jenen Gründen diese Art von Versicherung nicht aufrecht erhalten – ich biete ab sofort nur noch eine deutlich verminderte Leistung an. Das betrifft natürlich nicht die Altfälle, denn die haben ja ihre Ansprüche erworben. Es kann nur auf neu Eintretende angewandt werden.
Ebenso wird ein Versicherungsunternehmen, wenn es in finanziellen Schwierigkeiten steckt, eine Anpassung der Leistungen nach unten durchführen können, wobei da allerdings sicherlich enge Grenzen gesetzt sind, denn die Leistungen, für die eingezahlt wurde, können nicht willkürlich vermindert und/oder gestrichen werden.
Jedes Versicherungsunternehmen, das eine vergleichbare Verminderung der Leistungen ihren Versicherungsnehmern zugemutet hätte, wäre ohne Zweifel zur Fortführung der alten Regelung verurteilt worden. Selbst wenn es beklagt hätte, neue Umstände würden es unmöglich machen mit den alten Bedingungen weiterzuarbeiten, wären mit Sicherheit nur geringe „Anpassungen“ erlaubt worden. Auch hätten die „neuen Umstände“ eindeutig klargelegt werden müssen.
Nun argumentiert die Politikerkaste, es habe sich ja nur beim Arbeitslosengeld, nicht aber bei der Arbeitslosenhilfe um eine Versicherungsleistung gehandelt. Eine „ Anpassung“ bei der Arbeitslosenhilfe stehe im freiem Ermessen der Politik.
Das kann so nicht hingenommen werden:
1. Erstreckt sich dieses Argument nicht auf das völlig willkürliche Zusammenstreichen des Arbeitslosengeldes von zwei bzw. drei Jahren auf 1 Jahr, das sogar Hartz selbst als „Betrug“ charakterisierte.
2. Das Versprechen der Leistung, das mit der Zahlung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung verbunden war, erstreckte sich immer auch auf die Arbeitslosenhilfe, nicht nur auf das Arbeitslosengeld. Wenn die Politik entschieden hatte, diese Mittel aus Steuergeldern aufzubringen und nicht aus den Beiträgen, war das kein Freibrief für beliebige Streichungen.
3. Dass die Mittel aus den Beiträgen nicht mehr für die Bezahlung aus der Arbeitslosenhilfe ausreichte, war hauptsächlich auf sachfremde Nutzung dieser Mittel zurückzuführen. Es wurden Frühpensionierungs-Aktionen, Altersteilzeit und ähnliche Schemata massiv durch Versicherungsmittel finanziert, obwohl die ausschließlichen Nutznießer davon nicht die Versicherten, sondern die Unternehmen waren, die jene Leistungen eigentlich hätten aufbringen müssen, um sich „geräuschlos“ von ihren älteren Arbeitnehmern trennen zu können.
Natürlich ist eine staatliche Pflichtabgabe nicht identisch mit einem Vertrag mit einem privaten Versicherer, aber nicht umsonst heißt die Abgabe „Arbeitslosenversicherung“. Sie muss zumindest im Prinzip ähnlich wie eine Versicherung funktionieren. Damit ist völlig unvereinbar, zuerst die Beiträge zu kassieren und dann die geschuldeten Leistungen willkürlich und extrem zusammenzustreichen.
Natürlich wäre angesichts der stark steigenden Arbeitslosenzahlen gewisse Anpassungen in den Leistungen möglich gewesen, aber nicht ein Zusammenstreichen auf einen fast verschwindenden Rest. Das war Enteignung!
Es gibt aber noch einen anderen Teil der Enteignung, die Hartz IV von Anfang an dargestellt hat: Die Leistung, nun Arbeitslosengeld 2 (ALG2) genannt, wird nur gezahlt, wenn man alle Ersparnisse bis auf einen winzigen Rest aufgebraucht hat. Das ist mit dem Prinzip einer Versicherungsleistung unvereinbar. Und es bleibt eben eine Versicherungsleistung, auch wenn die Politiker entschieden haben, diesen Teil aus Steuergeldern zu bezahlen.
Was die Menschen sich erspart haben, kann nicht als „Vermögen“ bewertet werden, das zunächst aufgebraucht werden muss. Man hat ja eben gerade Ersparnis für den Fall von Arbeitslosigkeit und/oder Alter, wenn man mit den staatlichen Leistungen aus den Versicherungen sehr knapp dran sein wird.
Wenn sich die Versicherung weigert zu zahlen, weil noch „Vermögen“ vorhanden ist, ist das völlig unakzeptabel.
Das wäre der Fall, wenn es sich einfach um völlig unbegründete Almosen handeln würde, die man nur Bedürftigen auszahlen will. Nur ist das eben nicht der Fall, denn das deutsche System beruht eben gerade darauf, dass man niemand in die Situation kommen lassen will, wo er auf Almosen angewiesen ist. Zu diesem Zweck zahlt eben jener Arbeitnehmer seine Versicherungsbeiträge: Krankenversicherung, Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung und Pflegeversicherung. Diese Beiträge sind ja nicht freiwillig, sondern Pflichtbeiträge. Nur schaffen sie eben auf der anderen Seite auch die Pflicht, die versprochenen Leistungen (jedenfalls im wesentlichen) dann auch zu gewähren, wenn der Versicherungsfall eintritt.
Wären die Leistungen freiwillig und jemand hätte nicht eingezahlt, so könnte man eventuell rechtfertigen, dass Ersparnisse aufgebraucht werden sollen, aber als Beitragszahler einer Pflichtleistung ist das unvereinbar. Und die versprochene Leistung der Pflichtversicherung „Arbeitslosenversicherung“ war eben nie auf das Arbeitslosengeld am Anfang beschränkt, sondern enthielt immer auch die anschließende Arbeitslosenhilfe.
Der zweite wesentliche Punkt außerhalb des Regelsatzes ist die Verpflichtung, jeden beliebigen Job annehmen zu müssen, und sei er noch so schlecht bezahlt, wenn man ALG2 bezieht, sonst wird die Leistung gekürzt und im Wiederholungsfall gestrichen. Dies ist sogar der eigentliche Kernpunkt von Hartz IV. Damit (im Zusammenhang damit, dass man keinen Mindestlohn einführte) wurde ein riesiger Bereich von Niedriglöhnen und Winzlöhnen geschaffen, in den die Hartz-IV-Geschädigten hineingezwungen wurden.
Das war das Unmenschlichste am System Hartz IV und ist zweifellos mit der Würde des Menschen nicht vereinbar. Bis heute hat aber kein Gericht das Bundesverfassungsgericht angerufen wegen dieser Regelung.
Das Bundessozialgericht hat in seiner Entscheidung, die Frage des Kindersatzes an das Verfassungsgericht zu leiten, u.a. den Begriff des „grundrechtsensiblen Bereiches der Sicherung des Existenzminimums“ gebraucht. Damit stellt man fest, es kann in einem Staat, der sich Sozialstaat und Rechtsstaat nennt, nichts unterhalb der wirklichen Sicherung des Existenzminimums geben, denn das wäre nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, jedenfalls nach Ansicht des Bundesozialgerichtes.
Nur, in vorherigen Entscheidungen hat das Bundesozialgericht bereits die berühmten „Sanktionen“ abgesegnet, das teilweise oder vollständige Streichen des ALG2 bei Verstößen (wenn man z.B. nicht die vorgeschriebene Zahl von Bewerbungen in einem Monat nachweisen kann). Das bedeutet aber eben auf jeden Fall das Unterschreiten des „grundrechtssensiblen Existenzminimums“ und ist natürlich auch nicht mit der Menschenwürde vereinbar. Da hat man aber nichts ans Verfassungsgericht weitergleitet. Wie denn nun? Kann man das „grundrechtssensible Existenzminimum“ aus- und anknipsen wie ein Licht?
Es gibt also weit mehr als nur die Höhe des Regelsatzes, was das BVG überprüfen müsste. Im
Kern müsste das ganze Gesetz Hartz IV für verfassungswidrig erklärt werden. Aber darauf können wir lange warten in diesem Unrechtsstaat.
Aber wenn wieder Hunderttausende zu den Montagsdemos gehen, wenn mit Generalstreik gedroht wird, dann bekommen die Richter und Politiker vielleicht ihren Hintern hoch.
Veröffentlicht am 29. Januar 2009 in der Berliner Umschau
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