Unsere Arbeitsplätze werden in Billiglohnländer verlagert, weil die Löhne hier so hoch sind, richtig? Falsch!
Von Elmar Getto
Heute einer der wichtigsten Artikel von Elmar Getto. Hier räumt er mit dem Märchen auf, das Problem der Verlagerung in andere Länder wäre eines des Lohnniveaus - und das gründlich. Der Artikel (besser: das Dossier) erschien in "RBI-Aktuell" am 12. Oktober 2005. Nach einem Jahr ist er so aktuell wie je.
Die Legende sagt, daß in Deutschland soviel Arbeitsplätze fehlen, weil sie in Billiglohnländer verlagert wurden und werden, denn die Löhne seien hier so hoch. Richtig? Falsch! Wie ist es wirklich?
Wie ein Trommelfeuer wird diese Legende in das Bewußtsein die Bevölkerung in Deutschland eingehämmert: Die Arbeitsplätze, die hier gebraucht werden, seien in Billiglohnländer verlagert worden oder würden gerade verlagert.
Das Problem seien die angeblich hohen Löhne in Deutschland – und nicht zu vergessen – die angeblichen Lohnnebenkosten (in Wirklichkeit sind diese Lohnbestandteile). Würden die Löhne verringert, die Lohnebenkosten den Arbeitern abgezogen, blieben diese Arbeitsplätze in Deutschland oder kämen zurück. Das ganze Problem der Arbeitslosigkeit sei ein System des falschen Niveaus von Löhnen und angeblichen Lohnnebenkosten.
Wenn man sich nur endlich mit geringeren Löhnen zufrieden geben würde, ließe sich das Problem der Arbeitslosigkeit lösen.
Seit dem Jahr 1974, das hierzulande als das Jahr des Höhepunktes der Beschäftigung angesehen wird, von dem an es nur noch abwärts ging, sind, überschlägig gesagt, etwa 10 Millionen Arbeitsplätze vernichtet worden, im wesentlichen in der Industrie und im Handwerk. Sind diese wirklich ins Ausland verlagert worden? (Diese 10 Millionen stimmen recht gut überein mit der Gesamtzahl von Arbeitslosen, wenn man alle durch statistische Tricks herausgerechneten mitzählt und auch jene, die aufgegeben haben, Arbeit zu suchen.)
Verlangt man nun von den Propagandisten der angeblichen Verlagerung in Billiglohnländer Belege für diese Verlagerungen, so können sie in Wirklichkeit nicht mehr als einige Zehntausend solcher wirklich von Deutschland in Billiglohnländer verlagerten Arbeitsplätze aufzählen, wo genau das hergestellt wird, was vorher in Deutschland produziert worden war. Einige Zehntausend von zehn Millionen!
Besteht man dann darauf, daß man diese Belege haben will, dann kommen neue Auflistungen, die Investitionen deutscher Firmen im Ausland darstellen. Dies seien verlagerte Arbeitsplätze. Da wird man dann allerdings schon aufmerksam.
Die Wirklichkeit sieht anders aus: Tatsächlich wurden, bereits beginnend in den Sechziger-Jahren, vor allem aber in den Siebziger-Jahren (und im geringen Maße noch in den Achtziger-Jahren) in relevantem Umfang ganze Produktionen in Länder wie Malaysia, Singapur, Taiwan, Südkorea, Indonesien und Thailand verlagert. Es handelte sich fast um die gesamte Schuhindustrie Deutschlands und um bestimmte, große Teile der Textilindustrie. Die hatten aber zusammen nie mehr als etwa 150 000 Vollzeit-Beschäftigte. Mitte der 80er Jahre war diese Bewegung abgeschlossen.
Danach gab es nur noch eine kleine Zahl von Produktionsverlagerungen in Billiglohnländer, die heute vor allem China und Indien heißen. Das betraf vornehmlich die Elektronikindustrie, wo es den Zusammenbau von Kleinteilen gibt, der unter der Lupe oder dem Mikroskop stattfinden muß und fast nur von Frauen durchgeführt wird. Auch dies machte zusammen nur einige Zehntausend Arbeitsplätze aus.
Es handelt sich bei diesen tatsächlich ausgelagerten Arbeitsplätzen um lohnintensive Produktionen, bei denen die Lohnkosten im Bereich von 50 –90% der gesamten Kosten liegen. Die Vorstellung, diese könnten nach Deutschland zurückkommen, ist absurd. Um mit chinesischen Löhnen konkurrieren zu können, müßte man auf Löhne von etwa 1 Dollar (weniger als ein Euro) pro Tag heruntergehen.
Diese ausgelagerten Arbeitsplätze machen höchstens 2% der vernichteten Arbeitsplätze im ganzen Zeitraum seit 1974 aus, wahrscheinlich viel weniger. Nimmt man den Zeitraum seit 1985, werden nicht einmal 1% erreicht.
Ja, was geschah denn dann mit den vielen vernichteten Arbeitsplätzen?
SIE WURDEN DURCH RATIONALISIERUNG UND AUTOMATION EINERSETS UND ZUSAMMENLEGUNGEN (DURCH KONZENTRATION) ANDERERSEITS VERNICHTET. DIESE BEIDEN MAßNAHMEN WURDEN VOM KAPITAL SEIT DEN 70ER-JAHREN IN STÄNDIG STEIGENDEM MAßE EINGESETZT, mit nur einigen Unterbrechungen des Anstiegs in Krisenjahren.
Aber gab es nicht auch eine dritte Massnahme, den KAPITALEXPORT, mit dem in vielen Ländern Filialen errichtet wurden? Genau. Stimmt. Das deutsche Monopolkapital investierte massiv in vielen Ländern, bevorzugt im industrialisierten Ausland, aber auch in fast allen Entwicklungsländern. Doch war das keine Verlagerung deutscher Arbeitsplätze ins Ausland, sondern die Wachstumsstrategie.
Wenn solche Investitionsentscheidungen für andere Länder getroffen wurden, spielten dabei so gut wie nie die Unterschiede der Lohnkosten oder die angeblichen Lohnnebenkosten eine entscheidende Rolle. Monopole entscheiden solche Dinge nach streng sachlichen Kriterien. Wenn die gesamten Lohnkosten auf 15 bis (in wenigen Fällen) 40% der gesamten Kosten zusammengeschnurzelt sind, spielen sie für diese Investitionsentscheidungen so gut wie nie eine Rolle.
Was für den Kapitalisten ausschlaggebend ist, sind Lohnstückkosten, also was fúr ihn übrig bleibt pro Lohn des Arbeiters. Wie die Figur zeigt, liegt Deutschland keineswegs hoch bei den Lohnstückkosten.
Was sind die fünf wichtigsten Gründe für Auslandsinvestitionen?
1. Der wesentliche Grund für Auslandsinvestitionen ist meist die Nähe der Märkte. Dies dürfte in etwa 60 bis 70 Prozent der Fälle der Hauptgrund für eine Fabrik in einem bestimmten Land sein. Man will eine Fabrik dort vor Ort haben, wo man die Güter absetzen will. Dies hat vor allem Vorteile für den Absatz, das Marketing im weiteren Sinne, aber auch die Frage von Transportkosten und Lieferfristen kann eine Rolle dabei spielen.
2. Der zweite Hauptgrund für die Entscheidung, eine neue Fabrik in einem bestimmten Land zu installieren, ist in vielen Fällen der Wechselkurs. Man kann wegen des hohen Wertes der eigenen Währung, in diesem Fall des Euro, in bestimmte andere Länder nichts (mehr) exportieren oder verliert an Marktanteilen. Produziert man im Land selbst, hat man keine Wechselkursprobleme.
3. Der dritte wesentliche Grund für Investitionsentscheidungen für ein Land ist die dort vorhandene Reserve an ausgebildeten und gebildeten Arbeitskräften. Dies ist oft der Grund, warum in besonders wenig entwickelte Länder nicht investiert wird, sondern in benachbarte Länder mit (aus)gebildeten Arbeitskräften. Da wird dann z.B. Chile oder Argentinien in Südamerika bevorzugt oder Hongkong in China oder Singapur in Südostasien oder die Tschechische Republik in Osteuropa.
4. Der vierte wesentliche Grund für ein Investieren in einem Land ist die Nähe zu Rohstoffen. Bestimmte Investitionen der Petrochemie z. B. werden oft von der Nähe von Großraffinerien und Erdöl- oder Erdgasvorkommen abhängig gemacht. Das neue große Stahlwerk der Thyssen-Krupp z. B., eine Investition von etwa 9 Milliarden Dollar, wurde hauptsächlich aus diesem Grund an den Hafen von Sepetiba an der Küste nahe Rio de Janeiro in Brasilien gelegt. Hier kann man fast unerschöpfliches und billiges hochwertiges Eisenerz mit der Bahn aus der Nähe antransportieren und hat ebenfalls Zugang zu billiger Kohle, die mit dem Schiff angeliefert wird. Die Frage der Lohnhöhe spielte nicht die geringste Rolle.
5. Der fünfte Hauptgrund für ein bestimmtes Investitionsvorhaben in einem anderen Land schließlich sind die sogenannten Investitionsanreize. Man bekommt das Gelände der neuen Fabrik umsonst offeriert, erhält billige Kredite oder sogar Kredite ohne Zinsen für die eigentlichen Baukosten, bekommt jahrelange Steuersenkungen oder sogar Steuerbefreiungen in Aussicht gestellt und ähnliches. Dieser fünfte Grund spielt besonders dann eine große Rolle, wenn zusätzlich auch noch die Abschreibung von Auslands-Investitionen von angefallenen Gewinnen in Deutschland ermöglicht wird, wie dies die Bundesregierung getan hat. In diesem Fall zahlt man nicht nur nichts für eine Investition, z.B. in Ungarn, sondern macht damit noch zusätzliche Gewinne, bevor noch das erste Produkt die Fabrik verlassen hat.
Oft spielen auch Kombinationen von mehreren dieser fünf Hauptgründe für die Investitionsentscheidung eine Rolle.
So mag jetzt einer fragen, aber wenn man 40% Lohnanteil an den Gesamtkosten hat, wird dann nicht auch die Lohnhöhe einen Einfluß auf eine solche Investitionsentscheidung haben? Kann sein, aber selten. Niedrigere Löhne gehen nämlich meist einher mit relativ schlecht ausgebildeten Arbeitskräften. Moderne Fabriken aber können nur in Ausnahmefällen von halben Analphabeten betrieben werden. Dazu kommt, daß die Produktivität der Arbeiter in Niedriglohnländern wesentlich niedriger ist als in entwickelten Ländern. Was hilft es, wenn man nur 20% des deutschen Lohnes zahlen muß, aber auch nur 20% der Produktivität erreicht.
Außerdem ist das Beispiel mit 40% der Lohnkosten an den Gesamtkosten heutzutage extrem selten. Automobilfabriken und Automobilzulieferer z.B. liegen heute eher bei 25 oder 30%. Kommt dann noch die Frage der Produktivität dazu, ergeben sich eher Vorteile für eine Fabrik in Deutschland.
Zur näheren Erläuterung sei hier aus dem Zeugnis eines deutschen Ingenieurs zitiert, der jahrelang in Brasilien gearbeitet hat:
„Ich wurde von meiner Firma nach Brasilien geschickt und war über Jahre einer der leitenden Angestellten der dortigen Filiale. Einer unserer Kunden war Mercedes (damals noch Daimler-Benz AG, noch nicht Daimler-Chrysler). Es handelte sich um das Werk in São Bernardo do Campo, im Großbereich São Paulo, wo Lastwagen und Omnibusse hergestellt werden, ein Schwesterwerk des Mannheimer Daimler-Benz-Werkes. Gelegentlich habe ich dort mit einem der Abteilungsleiter, einem Deutschen, gesprochen.
Man unterhält sich in solchen Fällen neben den eigentlich zu behandelnden Fragen auch über mehr allgemeinwirtschaftliche Aspekte. So fragte ich ihn bei einer Gelegenheit, halb scherzend, warum Daimler-Benz eigentlich nicht seine gesamte Lastwagen- und Omnibus-Produktion nach Brasilien legt, da hier doch die Löhne so viel niedriger seien.
Seine Antwort war in etwa, aus dem Gedächtnis wiedergegeben, die folgende:
Tatsächlich stehen wir in einer ständigen Konkurrenz mit dem Mannheimer Werk, aus dem ich ursprünglich komme. Jedes Mal, wenn ein größeres Investitionsvorhaben ansteht, bekommen sowohl die Mannheimer als auch wir vom Vorstand die Ausschreibung und müssen alles genau durchrechnen und dem Vorstand die Kosten der entsprechenden Investition und die voraussichtlichen Kosten der Produktion übermitteln. Danach entscheidet dann der Vorstand, wo investiert wird.
Von den letzten beiden Ausschreibungen ging eines nach Mannheim, eines zu uns. Die letzte war eine neue Generation von Lastwagenmotoren, die wir gerne hier gehabt hätten, aber Mannheim hat sie uns weggeschnappt. Ausschlaggebend war der hohe Ausbildungsstand der deutschen Arbeiter, der dort den kompletten Einsatz vollautomatischer Transferstrassen ermöglichte, während wir hier noch mit relativ vielen einzelnen Bearbeitungszentren arbeiten. Zwar haben wir niedrigere Löhne, aber der Gewinn an Produktivität gab den Ausschlag für Deutschland.
Das Mal vorher konnten wir ein Investitionsvorhaben für Brasilien gewinnen. Es handelte sich um Teile der Aufhängung und Federung. Wir hatten eine Reihe unbenutzter Maschinen, die leicht auf diese Fertigung umzurüsten waren und konnten damit wichtige Kostenvorteile erreichen, so daß wir den Zuschlag bekamen.
Das Mal davor wurde entschieden, die Teile (Ansaug- und Auspuff-Krümmer und einige andere Gußteile) an beiden Standorten zu produzieren (bzw. zuzukaufen), da sich die Transportkosten als zu hoch im Vergleich zum Wert erwiesen.
Wir zahlen hier in etwa 20% der Löhne, die in Deutschland gezahlt werden, wenn man alles einrechnet und auf eine Arbeitsstunde umrechnet. Allerdings haben wir auch nur etwa 20% der Produktivität von der Mannheimer, so daß wir in Bezug auf die Arbeitskosten, also die Lohnstückkosten, fast immer 1: 1 rauskommen. Den Ausschlag geben daher in der Regel andere Faktoren.
Dieser große Unterschied in der Produktivität ergibt sich aus mehreren Faktoren:
1. Der erste ist schlicht und einfach der Grad der Automation. Hier lohnen sich wegen der niedrigen Lohnkosten nicht gewisse Automatisierungsstufen, die extrem kapitalintensiv sind.
2. Der zweite ist das allgemeine Ausbildungsniveau der Arbeiter: In Mannheim hat man eine hohe Prozentzahl extrem erfahrener Facharbeiter mit höchster Arbeitsmoral und –effektivität. Hier sind in der Mehrheit relativ unerfahrene, nicht speziell ausgebildete Arbeiter mit einer lediglich mittleren Arbeitsmoral und deutlich eingeschränkter Effektivität. Kurz gesagt: Die Arbeit geht in Mannheim etwa doppelt so schnell. Der höhere Lebensstandard bringt auch ein höheres Leistungsniveau. Der niedrige Lohn führt zu geringerer Treue zum Werk und damit im Schnitt zu unerfahreneren Arbeitern.
3. Die Zeiten für Vorbereitungs-, Einstellungs- und Auswertungsarbeiten sind hier bei weitem höher. Sie liegen etwa beim dreifachen. Dies hängt auch mit dem Ausbildungs-, aber auch dem Schulniveau der Arbeiter zusammen. Die Facharbeiter in Mannheim haben in der Regel mindestens Mittlere Reife. Hier verlangen wir zwar normalerweise einen Abschluss des 2.Grades, was eigentlich Abiturniveau wäre, aber der Grad des Verständnisses der Arbeiter ist deutlich geringer. Schriftliche Vorlagen und Anweisungen muß man immer erklären, während sie in Deutschland verstanden werden. Auch das Niveau der Vorarbeiter und Meister ist deutlich unterschiedlich.“
Soweit das Zeugnis des Ingenieurs.
Auch andere Beobachtungen bringen einen zum Ergebnis, daß eine Erniedrigung der absoluten Lohnkosten keine neuen Arbeitsplätze bringt, keine Auslandsinvestitionen verhindert und keine Verlagerung verhindert.
Wären niedrige absolute Lohnkosten magische Anziehungspunkte für Arbeitsplätze, würde in Niedriglohnländern wie China und Indien (oder auch im oben erwähnten Brasilien) keine Arbeitslosigkeit herrschen oder eine deutlich niedrigere. Das Gegenteil ist der Fall. Die drei genannten Länder haben ein noch höheres Niveau der Arbeitslosigkeit als Deutschland.
Wären absolute Lohnkosten ausschlaggebend für Auslandsinvestitionen, so hätten die großen deutschen Konzerne längst alle Produktionsstätten ins Ausland verlagert. Die Statistik zeigt aber, daß die 25 größten deutschen Konzerne ausnahmslos heute einen weit größeren Umsatz mit Produkten aus Deutschland erzielen als Jahre zuvor, also ihre inländischen Produktionen keineswegs verringert haben. Nicht umsonst ist Deutschland Exportweltmeister.
Tatsächlich gibt es – in begrenztem Umfang – auch Verlagerungen von deutschen Produktionen ins Ausland. In allen überprüften Fällen in den letzten Jahren hatten sie nie etwas mit den absoluten Lohnkosten zu tun, obwohl dies z.T. behauptet wurde.
Damit steht fest:
- Wenn ein Monopol die Arbeiter erpressen will mit angeblichen Verlagerungen ins Ausland und behauptet, dies könne durch Zugeständnisse bei Löhnen, Arbeitszeiten, Flexibilität, Übernahmen usw. verhindert werden, so ist das (außer der Erpressung auch noch) eine freche Lüge.
- Wenn eine Verlagerung dem Konzern Vorteile bringt, wird sie über kurz oder lang sowieso durchgeführt und keinerlei Zugeständnis kann daran etwas ändern, bringt sie keine, war sie nichts als eine leere Drohung.
- Das einzige, was solche Zugeständnisse ändern, ist der Profit des Konzerns: Der Steigt!
- Da der Profit immer der Schwachpunkt der Kapitalisten ist, kann ein Streik sie dort treffen und ihrerseits zu Zugeständnissen zwingen.
Link zum Originalartikel
hier
Karl Weiss - 10. Okt, 06:37