Samstag, 7. Juni 2008

Eine rauschende Fussballnacht im Maracanã

Libertadores-Finale: LDU-Fluminense

Von Karl Weiss

Das war Fußball, wie es das Herz begehrt: 90 Minuten am späten Abend des 4. Juni 2008 im gefüllten Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro: Boca Juniors Buenos Aires, gegenwärtiger Titelhalter, gegen Fluminense Rio de Janeiro, Bester der Gruppenphase, vor 84 000 begeisterten Zuschauern. Wie immer, haben Duelle zwischen argentinischen und brasilianischen Vereinen eine besondere Aufmerksamkeit, wieviel mehr, wenn das Halbfinale der Kontinent- Meisterschaft Libertadores bestritten wird.



Während in der Endphase der Champions Leage, wenn Chelsea, Barcelona und Manchester United antreten, das Spiel zum Gähnen langweilig ist für jemand, der nicht einem der beiden Vereine anhängt, weil fast nur im Mittelfeld um den Ball gekämpft wird und man nur viertelstündig vor einem der Tore auftaucht, sind die Spiele der besten südamerikanischen Mannschaften und Mexikos voller Spannung, extrem ereignisreich und angefüllt mit Szenen vor beiden Toren

Zu den Gründen dafür hier.

Das Hinspiel war 2:2 in Buenos Aires ausgegangen, eine Spitzenleistung von Fluminense, denn dort kann man auch schon mal untergehen. Damit war ein einfacher Sieg zu Hause ausreichend und auch schon ein 0:0 und ein 1:1 unentschieden, um Fluminense ins Finale zu bringen.



Aber Fluminense hatte schon seit Jahren kein Maracanã mehr gefüllt, auch nicht, nachdem es renoviert und vollständig mit Sitzplätzen versehen wurde, was die Kapazität, die einmal bei 200 000 Stehplätzen lag, auf 84 000 verringert hat. Das lag daran, dass Fluminense, früher immer der Hauptrivale von Flamengo in Rio (die Lokalderbys Fla-Flu waren Legende), in den beiden letzten Jahrzehnten zu einem mittelklassigen Verein wurde. Man war sogar einmal bis in die dritte Liga abgestiegen.

Im letzten Jahr hatte man den brasilianischen Pokal gewonnen und von dann ab ging es aufwärts. In der brasilianischen Meisterschaft wurde man Dritter und dann konzentrierte man sich 2008 voll auf die Libertadores. Die Pflichtspiele in der Rio-Meisterschaft und jetzt auch in der brasilianischen bestritt man meist mit Reservemannschaften oder jedenfalls stark ausgedünnten Aufstellungen, was unter anderem dazu geführt hat, dass man in der Tabelle momentan mit einem einzigen Punkt auf dem letzten Platz steht. Doch die Priorität zahlte sich aus. Nicht nur, dass man die beste Gruppenmannschaft der Libertadores war und daher bis einschliesslich der beiden Endspiele den Vorteil hat, das jeweils zweite Spiel zu Hause austragen zu können, nicht nur, dass man jetzt in den Endspielen steht und damit zweimal die Einnahmen aus einem gefüllten Maracanã erhält, vor allem wurde der Name Fluminense wieder zu einem Fußball-Markenartikel, wie er das über lange Jahre des 20. Jahrhunderts war.

Fluminense - Boca: Palácio und Palermo haben eine grosse Chance vergeben

Zu Beginn des Spieles vor der beeindruckenden Kulisse versuchte Fluminense Druck zu machen, wie man es versprochen hatte. Washington vergab eine hervorragende Torchance und die Zuschauer kamen fast zum Delirium. Doch dann, im Verlauf der ersten Hälfte, wurde Boca immer überlegener und dominierte das Spiel. Folgerichtig taten sich Torchancen auf, die aber zum Teil vergeben wurden (Riquelme, Palermo, Palácio, Cáceres ) und zum Teil an irgendeinem fluminensischen Bein apprallten. Was durchkam, wurde Beute des Torhüters Fernando Henrique von Fluminense, der seine bisher beste Leistung zeigte und zum besten Spieler des Siegers avancierte. Nur in der ersten Halbzeit waren es bereits zwei „unmögliche“ Abwehrtaten von ihm, wozu in der zweiten weitere drei kamen.

Dass man zur Halbzeit nicht zurücklag, konnte nur als das Glück des Tüchtigen angesehen werden. In der zweiten Halbzeit ging es zunächst genauso weiter: Boca drückte, Fluminense verteidigte. So kam dann auch der Moment, in dem das Unausweichliche geschah: Boca ging 1:0 in Führung. Eine Flanke von links von Riquelme zielte unmittelbar vors Tor am zweiten Pfosten. Palermo trat blitzschnell an und stand plötzlich allein direkt vor dem Torwart, wenn auch in spitzem Winkel rechts vor dem Tor. Als die Flanke ankam, köpfte Palermo den Ball zwischen Pfosten und Torhüter ins Tor.



Hätten beide so weitergespielt, wäre das Finale Boca nicht zu nehmen gewesen. Doch nun zeigte die junge Mannschaft von Fluminense, was sie auch schon an gleichem Ort gegen Sâo Paulo bewiesen hatte: Sie kann zurückfighten. Das Bild änderte sich, Fluminense wurde gleichwertig und die Szenen vor beiden Toren wechselten sich jetzt ab. Bei Fluminense kam Dodô als zweiter Stürmer herein, der schon wiederholt als Joker eingesetzt worden war. Er war früher einmal eines der brasilianischen Supertalente gewesen, wurde dann aber nicht mehr als ein guter Stürmer, ohne den Sprung nach Europa zu schaffen. Jetzt, gegen Ende seiner Karriere, ist er der ideale Joker. Er kommt in der zweiten Halbzeit, wenn sich schon Ermüdungserscheinungen bei der Abwehr zeigen und kommt mit seinem technischen Fußball dann oft in aussichtsreiche Positionen.

An diesem Abend zeigte er auch ein Kabinettstückchen, das man selten zu sehen bekommt: Er bekam mit dem Rücken zum Tor den Ball, wurde aber von zwei Seiten angegriffen. Da schob er den Ball zwischen den Beinen in Richtung Tor und machte gleichzeitig eine Pirouette, die beide Abwehrspieler täuschte und war mit dem Ball in Richtung gegnerisches Tor unterwegs.



So war es denn auch Dodô, der kurz vor dem Strafraum gefault wurde. Der fällige Freistoss wurde von Washington direkt genau in den Winkel verwandelt: 1:1. Eigentlich ist es Riquelme auf der anderen Seite, der für diese Freistosstore zuständig ist, aber der hatte nicht den besten Tag erwischt. Seine beiden Freistösse schickte er übers Tor.

Mit diesem Ergebnis war es wieder Fluminense, das weitergekommen wäre. Boca griff nun immer wütender an, aber Fluminense erwies sich als gleichwertiger Gegner. In ihren Bemühungen musste die Mannschaft von Boca nun aber bis zu einem gewissen Grade die Abwehr vernachlässigen und das nutzte Fluminense kaltblütig aus.



Mit Conca ging das Team bereits kurz nach dem Ausgleichstor in Führung. Fast gelang Palácio in der Schlussminute der regulären Spielzeit der Ausgleich, aber der Ball verfehlte knapp das Tor. In der Nachspielzeit, als Boca verzweifelt um ein 2:2 kämpfte, das zu einem Elfmeterschiessen geführt hätte, setzte Dodô den Schlusspunkt. Boca zeigte eine Ungenauigkeit im Pass in der Abwehr, die Dodô fast frei vor das Tor kommen liess. Er liess mit einem gut gezirkelten Ball dem Torwart keine Chance. 3:1! Flu war in den Endspielen und das Stadion explodierte fast.



Das war etwa um 23.45 an diesem Abend, aber die Anhänger von Fluminense verliessen das Stadion erst lange nach Mitternacht.

Damit hat Fluminense das seltene geschafft, das nur wenige Vereine in Südamerika in den letzten zehn Jahren für sich reklamieren können, Boca Juniors aus dem Wettbewerb geworfen zu haben. Der letzte, dem das gelungen war, war der São Paulo F.C. im letzten Jahr in der Copa Sulamericana, dem Gegenstück zum UEFA Cup. In der Libertadores allerdings ist es Jahrzehnte her, dass Boca Juniors durch ein brasilianisches Team eliminiert wurde. Das letzte Mal war 1963 (!), gegen das Santos von Pelé im Endspiel.



Bereits am Vortag hatte sich LDU Quito aus Ekuador überraschend gegen America Mexiko Stadt durch ein 0:0 zu Hause für die Endspiele qualifiziert, nachdem man es geschafft hatte, im Aztekenstadion in Mexikos Hauptstadt ein 1:1 unentschieden zu erreichen. Das belegt eindrucksvoll, was der Berichterstatter bereits in einem früheren Artikel gesagt hat: LDU ist bärenstark. Eigentlich sehen die Verantwortlichen der Fussballszene immer etwas von oben herab auf Mannschaften aus den Höhenlagens Boliviens, Perus oder Equadors, die weit kommen in der Libertadores. Sie haben ja den Vorteil des Heimspiels gegen nicht an die Höhe adaptierte Gegner. Da die Spiele unter der Woche zwischen zwei Spielen im Heimatland stattfinden, kann keine Höheadaptation durchgeführt werden. Dies Argument trifft allerdings diesmal nicht zu, denn der Favorit aus Mexico Stadt lebt ja ebenfalls in etwa 3000 m Höhe und spielt dort. Er hatte also keine Probleme mit der Höhenluft.



Damit sind in beiden Halbfinalen die Favoriten ausgeschieden.

Für Fluminense wird allerdings wieder das Argument mit der Höhenlage zutreffen beim Hinspiel in Quito. Dort kann man immer froh sein, in einer Abwehrschlacht ein 0:0 zu erreichen. Wenn das gelingt, werden die Chancen gut sein auf den Titel. Kommt man aber mit einer Niederlage mit zwei Toren Unterschied ins Maracanã, dürfte gegen das starke Team von LDU kaum etwas drin sein.

Die beiden Endspiele sind terminiert für den 25. Juni in Quito und für den 2. Juli in Rio.

Zusätzlich seinen hier noch die beiden Halbfinalspiele des brasilianischen Pokals erwähnt, der ebenfalls in der Endphase ist. Beide Halbfinale, sowohl das zwischen Corinthians São Paulo und Botafogo Rio de Janeiro als auch das zwischen Vasco Rio de Janeiro und Sport Recife, wurden im Elfmeterschiessen entschieden. Corinthians und Botafogo hatten jeweils zu Hause 2:1 gewonnen. Corinthians war im Elfmeterschiessen glücklicher und gewann mit 5:4. Zwischen Sport Recife und Vasco gab es jeweils Siege mit 2:0 zu Hause. Das machte auch dort das Elfmeterschiessen nötig, wobei gleich der erste Elfmeter für Vasco von Edmundo in den blauen Himmel geschossen wurde. Alle anderen trafen und so gewann Sport mit 5:4. Damit waren beide Rio-Vereine ausgeschieden.

Am 4. Juni, zeitgleich mit dem Libertadores-Halbfinale im Maracanã, fand in São Paulo bereits das erste der beiden Endspiele um den Pokal statt, das Corinthians zu Hause mit 3:1 gewann. Das Rückspiel ist am 11. Juni in Recife. Damit gibt es erneut eine gute Chance für einen Zweitligisten, den Pokal zu gewinnen, wie das ja in vielen Ländern schon geschah.

Allerdings ist Corinthians kein normaler Zweitligist. Der Verein hat in São Paulo die bei weitem grösste Anhängerschaft und brasilienweit die zweitgrösste nach Flamengo. Er dürfte also kaum sehr lange in der zweiten Liga bleiben. Sollte er den Pokal gewinnen – und die Hälfte des Weges ist ja bereits zurückgelegt – stünde er bereits als erster Vertreter Brasiliens für die Libertadores des kommenden Jahres fest.


Veröffentlicht am 7. Juni 2008 in der Berliner Umschau

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