Hartz IV: Gezielte Desinformation zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Von Karl Weiss
Kaum zu glauben, wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVG) zu Hartz-IV in der Öffentlichkeit bis zur Unkenntlichkeit verbogen wird. In Wirklichkeit hat das BVG den deutschen Politikern eine Ohrfeige von der Grösse Deutschlands verpasst. Der Kern von Hartz IV wurde für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt. Kurz: Verfassungsfeinde!
Hätte man nun glauben können, die würden nun kleinere Brötchen backen, weit gefehlt. Innenminister de Maizière verkündet frechdreist, das Urteil zeige „problematische Tendenzen“. Tatsächlich gibt es problematische Tendenzen, aber die liegen bei den Politikern, die Hartz IV verbrochen haben. Der Vorsitzende der Arbeitnehmergruppe der CDU in der Bundestagsfraktion, Peter Weiss, wurde noch unverschämter: Die Sätze müssten gesenkt werden, verkündete er. Und das ist der Vorsitzende der Arbeitnehmer. Man stelle sich vor, was dann der von Arbeitgebergruppe ("Mittelstandsvereinigung") sagt.
Nun, die Aussagen des BVG im Urteil sind eindeutig:
1. Das ganze Hartz-IV-Gesetz mit dem Kern der Regelsätze ist ohne Basis im Grundgesetz, denn es beruhte von Anfang an auf Annahmen, die unmöglich das soziale Existenzminimum absichern konnten. Dabei geht es nicht einfach um eine Sicherung des Überlebens, sondern auch um eine Teilnahme am sozialen Leben. Dies geht nach Ansicht des BVG (und nicht nur seiner) aus dem Gebot des Respekts vor der Würde des Menschen in der Präambel und aus dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes hervor. Man hatte, basiert auf einer Einkommens- und Verbrauchs-Umfrage von 1998, das untere Fünftel der Einkommensskala in Deutschland genommen und dann weiter Abschläge angesetzt – und zusätzlich die seitdem eingetretene Inflation ignoriert. Dabei hatte man aber auch viele Sozialhilfeempfänger erfasst, hatte also indirekt aus einer willkürlichen Festlegung (des Sozialhilfesatzes) eine andere willkürliche Festlegung abgeleitet. Nun hatte man aber noch Abschläge für angebliche Luxusgüter in dieser Erhebung vorgenommen, obwohl klar ist, dass jenes untere Fünftel diese Luxusgüter überhaupt nicht hat. Das BVG hat also eindeutig ausgesagt, dass der Hartz-IV-Regelsatz zu niedrig ist und „nicht für das soziale Existenzminimum ausreicht“. Wenn nun interpretiert wird, man könne nun noch mehr streichen, ist das schlicht empörend. Die gleichen Leute, denen gerade ihre Gesetze um die Ohren geschlagen wurden, werden schon wieder frech.
2. Einige wichtige Aussagen, die eine besonders harte Sprache benutzen, stehen im Urteil zu den Abschlägen für Kinder. Das BVG moniert völlig zu Recht, dass diese Abschläge „willkürlich festgelegt“ und aus der Luft gegriffen wurden. Es wird betont, dass die Ausgaben zur Erziehung und Ausbildung schlicht „vergessen“ wurden und dass nicht berücksichtigt wurde, dass Kinder wegen des Wachstums einen erhöhten Bekleidungsbedarf haben. Gleichzeitig bezieht sich die Kritik des BVG aber auch auf die eigentlichen Hartz-Regelsätze für Erwachsene. Die an verschiedenen Stellen in den Medien erhobenen Behauptungen, das BVG habe lediglich die Kindersätze für verfassungswidrig erklärt und nicht die Erwachsenensätze, sind falsch.
3. Ganz speziell wurde der Gesetzgeber aber vom BVG gerügt, weil er „vergessen“ hatte, Härtefallregelungen ins Hartz-IV-Gesetz aufzunehmen, wie es vorher bei der Sozialhilfe galt. Besondere, unvorhergesehene Ausgaben müssen zusätzlich übernommen werden (oder man müsste alternativ bereits einen ausreichenden zusätzlichen Satz vorhersehen, der das Ansparen für solche Ausgaben erlaubt).
Tatsache ist, das BVG kann nicht dem Gesetzgeber vorschreiben, wie genau er die Werte der Regelsätze definiert und berechnet. Es hat aber festgelegt, die Sätze müssen nachvollziehbar eben das schon erwähnte soziale Existenzminimum gewährleisten.
Natürlich könnte der Gesetzgeber nun auch andere Massnahmen als eine Erhöhung der Regelsätze ergreifen, um dieses Ziel zu erreichen. Man könnte zum Beispiel die fast überall bereits abgeschaffte völlige Lehrmittelfreiheit wieder einführen. Man könnte auch allen Kindern ohne Ausnahme kostenlose Krippen-, Kindergarten- und Schulplätze garantieren. Warum war das in der DDR möglich, ist es aber nicht in der BRD? Man könnte das gesamte deutsche Schulsystem auf Ganztagsschulen umstellen und jedem Kind ein ausgewogenes Mittagessen garantieren. Man könnte das Kindergeld so erhöhen, dass dies die hohen Kindergartenbeiträge der ach wie so christlichen Kirchen mit einschlösse usw. usw.
Was ganz sicher nicht ausreicht, sind die 100 Euro pro Jahr (100 pro Jahr!), mit denen die Ausbildungs- und Betreuungskosten abgegolten sein sollten. Dieser Betrag sagt mehr über unsere Politiker aus, als ihnen lieb sein kann.
Wir kennen allerdings unsere Politiker und haben ja auch schon gehört, wie sie arrogant-frech auf die Ohrfeige reagiert haben. Man kann also bereits voraussagen, man wird den gesamten Kern von Hartz IV zu retten versuchen, nur mit neuen Begründungen und bestenfalls die Sätze für Kinder ein wenig erhöhen. Ob die Politikerbrut auch die Frechheit haben wird, die vom BVG eindeutig eingeforderte Härtefallregelung zu verneinen, wird man sehen.
Wahrscheinlich wird auch die dann neue Regelung nach weiteren vier bis fünf Jahren wieder beim Verfassungsgericht landen und so hangelt sich der schlaue Politiker von Ohrfeige zu Ohrfeige.
Veröffentlicht am 12. Februar 2010 in der Berliner Umschau