Wenn die Dekadenten vor der Dekadenz warnen
Von Karl Weiss
“Anstrengungsloser Wohlstand” sei, was die Folge des BVG-Urteils gegen die Hartz-IV-Sätze sein werde, wenn man dem Gericht folge, erklärt unser Lieblingspolitiker Westerwelle. Wer das verspricht, „lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.“ schreibt er in der ‚Welt‘. Da könne Deutschland scheitern. Interessant: Also Rom ist deshalb untergegangen, weil die unteren Klassen im alten Rom einen anstrengungslosen Wohlstand hatten. Da muss mir mein Geschichtslehrer einen Unsinn erzählt haben.
Diese Pflaume von einem Geschichtslehrer hat nämlich behauptet, dass gerade das übertriebene Wohlleben der Reichen der damaligen Zeit, des Kaisers und seiner Vasallen, des Senats und der römischen „Bürger“ (das waren damals die Herrschenden) einer der Ausdrücke der Dekadenz der römischen Gesellschaft war, während die Sklaven und die eroberten Völker (das waren damals die Unterdrückten) mehr und mehr die Lasten des überbordenden Luxuslebens der römischen Aristokratie aufgebürdet bekamen.
Er behauptete, die damaligen Herrschenden hätten sich alles zu ihren Gunsten zurechtgebogen und das sei der Ausdruck der Dekadenz gewesen, die später zum Untergang des Reiches beigetragen hätte.
Dieser Pflaumen-Geschichtslehrer behauptete, damals sei das Zeitalter der Gesellschaftsform Sklavenhaltergesellschaft zu Ende gegangen und die neue Gesellschaftsform der Feudalismus hätte sich fast überall durchgesetzt. Natürlich hat dieser Geschichtslehrer nicht die mindesten Kenntnisse, aber er hatte behauptet, jedes Mal, wenn eine Gesellschaftsform ihrem Ende entgegengehe, werde man deutlich die Anzeichen von Dekadenz an den Dummheiten und Maßlosigkeiten der Herrschenden erkennen, so auch, wenn der Kapitalismus seinem Ende entgegengeht. Wie gut, dass der überragende Geschichtsforscher Westerwelle uns nun eines Besseren belehrt.
Da hätte ich doch beinahe den Gedankengang meines Geschichtslehrers fortgeführt und es für den Ausdruck der Dekadenz des untergehenden Kapitalismus gehalten, wenn ein Mann aufgrund der politischen Spielregeln eines untergehenden Systems zum Außenminister gekürt werden muss, der nicht einmal Englisch, geschweige denn andere Fremdsprachen beherrscht.
Da hätte ich angenommen, es sei ein Ausdruck jener Dekadenz, wenn im politischen System nicht mehr die besten Köpfe und die brillantesten Denker nach oben gespült werden, sondern jene, die in den Parteien am besten intrigieren und antichambrieren und so eine beträchtliche Hausmacht aufbauen konnten. Da wäre es logisch gewesen, dass Leute, die so sehr mit diesen Dingen beschäftigt sind, keine Zeit zum Lernen von Fremdsprachen aufbringen konnten. Doch da wäre ich natürlich völlig falsch gelegen, wie mich jetzt Westerwelle belehrt.
Nein, in Wirklichkeit sind unsere Politiker natürlich brillant. Na klar, da gab es bei Kohl so eine Ansammlung von mangelnden Kenntnissen der Allgemeinbildung, so wie auch bei Frau Merkel, Ich hätte das völlig falsch einer mangelnden politischen Kultur zugeschoben, einer der Ausdrucksformen von Dekadenz, aber da sei Westerwelle vor!
Ja, sicher, da gibt es eine von der Leyen, die weniger vom Internet versteht als eine Kuh vom Tanzen, aber Gesetze übers Internet einbringt. Da gibt es auch jenen Herrn Scholz, der so ein geistiger Hochflieger war, dass man ihn als Minister im Verteidigungsministerium einfach kalt stellte und ignorierte, wie bei der Kundus-Affäre herauskam. Aber das hat alles nichts mit Dekadenz zu tun, wissen wir nun, Gott (oder besser: Westerwelle) sei Dank.
Ich hätte es in meiner Einfalt für Dekadenz gehalten, dass man allerorten die völlig überflüssigen Banken, die sich verspekuliert hatten, mit Hundert-Milliarden-Summen rettete und jetzt den kleinen Mann diese Suppe auslöffeln lassen will. Welche Dummheit von mir!
Auch den Fall Zumwinkel hätte ich in meinem fehlgeleiteten Denken für ein Anzeichen der Dekadenz der Herrschenden gehalten. Bekanntlich hatte man den beim Steuer hinterziehen erwischt, unterstützt durch Liechtensteinische Banken. Da wurde dann plötzlich „vergessen“, rechtzeitig Anklage bei den weiter zurückliegenden Fällen zu erheben, wodurch er automatisch unter die 100 000-Euro-Grenze kam. Aber auch das reichte nicht. Zusätzlich mobbte die nordrhein-westfälische Landesregierung noch die zuständige Staatsanwältin aus dem Amt und übergab den Fall einem verständigen Staatsanwalt und Zumwinkel kam mit einem erhobenen Zeigefinger davon. Ich hätte das für Dekadenz eines Systems gehalten, aber da lag ich natürlich falsch.
Ich hätte es für dekadent gehalten, dass Hartz-IV-Empfänger keine 100 000-Euro-Grenze haben, ja nicht einmal eine 20-Euro-Grenze, aber da lag ich sogar grottenfalsch, wie ich jetzt einsehe.
Auch die hessische Landesregierung hätte ich für dekadent gehalten, die vier übereifrige Finanzbeamten, die der CDU-Spendenaffäre zu nahe kamen, mit gekauften psychologischen Gutachten aus dem Amt entfernte. Doch nun wissen wir: Dekadenz hat damit nichts zu tun, nein. Wenn Sie, lieber Leser, nachdem Sie mehr als 30 Jahre in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, im Fall der Arbeitslosigkeit meh als ein Jahr Leistungen erwarten, dann sind Sie dekadent!
Auch dass man zuerst Riesenspenden vom Eigner der Mövenpick-Hotelkette annimmt und dann anschließend die Mehrwertsteuern für Hotels herabsetzt, ganz offen, ohne im mindesten rot zu werden, hätte ich für Dekadenz gehalten, ich kleines Dummerchen.
Überhaupt ist Dekadenz eine typische Eigenschaft von Unterdrückten. Sehen Sie sich nur die deutschen Bauern im Feudalismus an. Sie machten immer wieder Aufstände gegen die Feudalordnung und wollten einfach nicht begreifen, dass die gottgewollt war. Zum Glück fand sich da Luther, der ihnen das erklärte. Der Luther der heutigen Tage ist eindeutig Westerwelle.
Nun gut, er wird nicht gerade in der Lage sein, mit EINEM Buch (in Luthers Fall der Deutschen Bibel-Übersetzung) einem ganzen Volk die Grundlage seiner Sprache zu geben, denn dafür müsste er ja mehr als drei Neuronen haben. Aber sehen Sie doch nur, was dieser von Gott inspirierte Vize-Kanzler aus drei Neuronen macht!!!!
Pfui Spinne, kann ich da nur zu meinem alten Geschichtslehrer sagen, welche Verdrehung der Tatsachen! Naja, der Geschichtslehrer war ja auch in der Kommunistischen Partei, was soll da schon kommen, nicht wahr?
Wie gut dass wir nun mit Luther-Westerwelle einen Reformer und Aufklärer vom Format eines Galileo haben, Der hat bekanntlich auch die Irrlehre, die Erde sei eine Kugel (jedenfalls nach leichten Drohungen mit Folter) verurteilt und uns allen deutlich gemacht: Die Erde ist eine Scheibe!
Veröffentlicht am 20. Februar 2010 in der Berliner Umschau