Warlord-Country?
Von Karl Weiss
Neue Gesetze sollen in den USA jedem das Recht geben, einen potentiellen Angreifer zu erschießen, wenn er sich bedroht fühlt. In Florida ist dies bereits Gesetz, South Dakota und Indiana haben es eben beschlossen und weitere 20 US-Staaten haben ein solches Gesetz in Vorbereitung. Die Gesetze werden im Volksmund bezeichnet als: „Erst schießen, dann fragen." Natürlich gilt schon immer auch in den USA das allgemeine Recht der Notwehr. Warum also diese Gesetze?
Nun, die Befürworter sagen es klar und deutlich: Beim Notwehrrecht müsse immer erst eine tatsächliche Angriffssituation gegeben sein, bevor jemand das Recht hat, sich zu wehren. Sie wollen aber, das bereits auf eine Bedrohung reagiert werden darf. Das scheint zunächst logisch zu klingen.
Das hat System und ist logisch. Wenn die USA das Recht haben, jedes beliebige kleine unterentwickelte Land zu überfallen, weil man angeblich das Gefühl einer Bedrohung hat, warum sollten Einzelne nicht das gleiche Recht haben? Auch Rußland hat ja soeben das Recht des „Präventiven Gegenschlages" für sich in Anspruch genommen. Frankreichs Chirac hat ausdrücklich einen Atomschlag seines Landes für möglich angekündigt, wenn man eine Bedrohung fühle usw. usw.
Nun, die ganze Menschheitsgeschichte ist voll solcher „präventiver" Schläge. Fast jeder, der andere Länder überfallen hat, viele von denen, die andere umgebracht haben, haben eine Bedrohung durch den Anderen als Entschuldigung erfunden (wenn man einmal von geisteskranken Tätern absieht).
Fast nie bekennt sich ein schlichter Aggressor einfach als Angreifer, er wird (fast) immer irgendeinen Vorwand erfinden. Selbst Hitler machte sich 1939 die Mühe, deutsche Soldaten in polnische Uniformen zu stecken und einen Angriff - scheinbar durch Polen - auf den Sender Gleiwitz zu inszenieren, um ein wenig zu verstecken, daß der Beginn des 2.Weltkrieges ein schlichter Akt der Aggression war.
Insoweit kann man sagen, nichts Neues. Aber nun gab es schon die Einrichtung des bürgerlichen Staates und der Menschenrechte und UNO- und Genfer Konventionen, auf die sich die zivilisierte Welt geeinigt hatte. Der bürgerliche Staat, eine der wichtigsten Errungenschaften des Fortschrittes der Menschheitsgeschichte, garantiert für alle Bürger die Menschenrechte und beansprucht dafür für sich das Gewaltmonopol. Er läßt dem Bürger nur in extremen und klaren Notwehrfällen die Möglichkeit der Selbsthilfe. Es sollte ein Ende sein mit der Willkür der feudalen Herren, Gerechtigkeit soll herrschen und nicht Rache.
Singt nicht in Mozarts Zauberflöte der Repräsentant Zarastros, des Führers der Freimaurer, die dort die damals aufstrebende kapitalistische Klasse repräsentierten: „In diesen heiligen Hallen kennt man die Rache nicht."?
Die Deklaration der Menschenrechte und die Genfer Konventionen sind von allen UNO-Mitgliedsländern anerkannt. Die Genfer Konvention über Kriege verurteilt eindeutig jeglichen Angriffskrieg und fast alle Länder haben sie ratifiziert. Dabei wird als Angriffskrieg jeder umfassende einseitige militärische Angriff definiert, auch wenn Drohungen und Provokationen der Gegenseite dem vorausgegangen sein mögen. Ganz zu schweigen natürlich von Bedrohungen, die nur in der Phantasie des Aggressors bestehen, wie z.B. die Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins und die Atombomben der iranischen Ayatollahs.
Jeder kann sich an der typischen Kneipenszene, die hundertmal täglich überall auf der Welt vorkommt, diese Fragen deutlich machen: Zwei machistische, meist angetrunkene Männer kommen sich ins Gehege, üblicherweise wegen Lächerlichkeiten, die Worte schwirren hin und her, es wird laut, die Truppe des „Laß das doch", die oft eingreift und irgendwelche schlimmeren Folgen verhindert, ist nicht zur Stelle und es kommt zur Zuspitzung. Wenn nun einer der beiden die Pistole zieht und den anderen umbringt, so wird dies unter zivilisierten Menschen eindeutig als schweres Verbrechen angesehen, im Einzelfall als Totschlag.
Das gleiche gilt, wenn einer der beiden den anderen so schwer zusammenschlägt, daß der bleibende Folgen davonträgt. Das wird als schwere Körperverletzung ebenfalls mit deutlichen Strafen belegt, meist abhängig von der Schwere der bleibenden Schäden.
Ähnliches passiert weltweit nicht nur in Kneipen, sondern auch in typischen Verkehrssituationen und bei manchen anderen Gelegenheiten. Fast jeder von uns hat solche Situationen schon erlebt oder gesehen. Selten kommt es dabei zu wirklich ernsten Folgen, wenn doch, hat es oft auch strafrechtliche (und oft auch zivilrechtliche) Folgen.
Im Fall, daß einer der beiden Kampfhähne zusammengeschlagen wird und befürchtet, zu Tode zu kommen, dann eine Pistole zieht und den anderen erschießt, sind wir genau an der Grenzlinie. Abhängig davon, ob er dem Richter glaubhaft machen kann, daß er objektiv vom Tode bedroht war, kann er ohne Strafe davonkommen, denn dann fällt das unter Notwehr. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn der andere erkennbar völlig außer sich war und körperlich sichtlich weit überlegen.
Selbst dann, wenn dies objektiv zwar nicht der Fall war, aber glaubhaft ist, daß er davon ausgehen konnte, kann ihm der Richter einen „Verbotsirrtum" zugestehen. Ansonsten wird ihm auf jeden Fall nur ein ‚Notwehrexzess’ zur Last gelegt, nicht ein Totschlag. Man kann solche theoretischen Fälle noch mehr komplizieren, aber das führt hier nicht weiter.
Grundprinzip ist: Man darf Gewalt, erst recht tödliche Gewalt, nur in dem Maße des Angriffs anwenden, und wie sie eine Reaktion auf Gewalt der anderen Seite darstellt. Soweit man auf mögliche zukünftige Gewalttaten reagiert, ist dies nur zulässig, wenn diese wirklich eindeutig unmittelbar bevorstehen ("clear and present danger") und es keine andere Möglichkeit gibt, sich der Bedrohung zu entziehen. Zum Beispiel wird man jemandem, der einfach hätte aufstehen und weggehen können, nicht zugestehen, den Anderen zu erschießen.
Wenn man nun zwei sich streitende Staaten betrachtet, im aktuellen Fall also die USA und den Iran, gilt ebenso die oben genannte Regel. Stellt man sich zwei aneinander angrenzende Staaten vor, zwischen denen Spannungen herrschen, so kann einer der Staaten z.B. nicht einfach auf einen Grenzschwischenfall damit reagieren, eine vollständigen militärischen Angriff auf den anderen Staat zu unternehmen und ihn zu besetzen. [Anmerkung vom Oktober 2006: Dies im April geschrieben, nicht lange vor dem Angriff Israels auf den Libanon unter dem Vorwand eines Grenzzwischenfalls, ist beachtlich weitsichtig gewesen.]
Noch viel weniger, wenn es gar keine gemeinsame Grenze gibt und daher auch keine realen Zwischenfälle, sondern nur eine mögliche zukünftige Bedrohung, wie es beim Iran der Fall ist. Auch wenn es eine tatsächliche Bedrohung gibt, also z.B. für den Fall, es sei wirklich bewiesen, daß der Iran Atomwaffen hätte, muß die Bedrohung natürlich real vorhanden sein - also z.B. die Drohung, eine solche Atombombe in die USA hineinzuschmuggeln und dort zu explodieren - sonst kann sie nicht als Ausgangspunkt einer gewaltsamen Aktion zuläßig sein. Es reicht nicht, daß die iranische der US-Regierung gegenüber feindlich gesinnt ist und theoretisch diese Möglichkeit hätte.
Ein deutliches Beispiel war eine Episode, die von den Apologeten des Kapitalismus gerne vergessen wird: Der Indisch-Chinesiche Krieg 1961. Beide Länder haben eine gemeinsame Grenze, wo es umstrittenen Grenzziehungen gibt. Nach einer Zeit von Drohungen überfiel Indien die chinesischen Grenzposten auf der ganzen Linie der Grenze und begann ins Innere Chinas mit massiver Truppenpräsenz einzudringen. Innerhalb von drei Wochen warf die chinesische Armee den Angreifer wieder aus dem Land und blieb dann genau wieder an der alten Grenzlinie stehen. Zwar hätte China nach internationalem Recht nach Indien eindringen und Land besetzen können als Faustpfand, daß Indien einen solchen Angriff, der Hunderte von chinesischen Leben kostete, nicht wiederholt, aber Mao Tse Tung ordnete an, dies nicht zu tun, um den fortschrittlichen und friedlichen Charakter eines sozialistischen Landes der ganzen Welt vor Augen zu führen.
Nun, daß diese Regeln aufgestellt wurden, hatte natürlich seine guten Gründe. Es ging darum, gewaltsame Auseinandersetzungen, sei es zwischen einzelnen Menschen, sei es zwischen Staaten, so weit wie möglich zu begrenzen, um die allseits bekannten Folgen von Gewalt einzuschränken. Was die Rechte der einzelnen Menschen angeht, so schaffte der bürgerliche Staat die Regel, daß man bei Bedrohungen durch Andere vom Staat, also etwa von der Polizei, Schutz bekommen kann und natürlich durch die Strafandrohung, wenn der Andere von Drohungen zur Gewalt übergeht.
Die Gesetze in praktisch allen zivilisierten Ländern gehen da sehr gut überein. Das menschliche Leben und die körperliche Unversehrtheit genießen einen hohen Schutz durch die Androhung massiver Strafen für Mord, für Totschlag und für schwere Körperverletzung mit bleibenden Folgen.
Lediglich in den USA gab es bei diesen Gesetzen auch schon vorher eine bedeutende Ausnahme. Dort ist in vielen Staaten der Wohn- und Grundstücksbereich mit einer speziellen Schutzfunktion versehen. Wer auf seinem Grundstück oder in seiner Wohnung jemanden antrifft, der dorthin nicht eingeladen wurde, darf diesen sanktionslos erschießen, was aber die US-Amerikaner nur selten wahrnehmen, weil ihnen wohl auch klar ist, daß dies keine sinnvolle Regelung ist.
Dieser Pakt (der Staat beschützt dich, du überläßt ihm dafür das Gewaltmonopol) zwischem den bürgerlichen Staat und seinen Einwohnern ist eine der Säulen, auf denen der Staat steht. Er wird aufgelöst, wenn man dazu übergeht, breite Teile dieses Schutzes dem Bürger zu entziehen, z.B. dadurch, daß man es dem persönlichen Gefühl eines an einer Auseinandersetzung Beteiligten überläßt, ob er sich bedroht fühlt, und ihm dann einen Todesschuß zugesteht. Ohne diese Säule bricht das Gewaltmonopol des bürgerlichen Staates zusammen und damit der Staat als solcher.
Würde man dies an die unmittelbare und unabweisliche objektive Bedrohung des Lebens binden, wäre das natürlich gerechtfertigt, aber dies ist ja bereits im Notwehrrecht geregelt. Was nämlich die Schußwaffe angeht, so wird immer und überall jedem, der in die Mündung einer Waffe blickt, zugestanden, daß er von einer unmittelbaren und unabweislichen objektiven Bedrohung seines Lebens ausgehen kann. Hat er die Möglichkeit, ist es ihm also in solch einer Situation erlaubt, den Angreifer zu erschießen.
Dazu braucht es also keine neuen Gesetze. Interessant, daß die Befürworter dieser neuen Gesetze aber immer genau diese Situation als Begründung angeben. Wenn man mit einer Schußwaffe bedroht werde, könne man nicht warten, bis die Kugel den Lauf verließe, bis man selbst schießt. Damit lenken sie erfolgreich von der eigentlichen Veränderung ab, die das Gesetz beinhaltet: Man macht es nicht mehr von der objektiven Situation abhängig, ob eine Bedrohung besteht, sondern von subjektiven Gefühlen. Ein Mann, der versichert, er habe sich bedroht gefühlt, geht straffrei aus.
Dies öffnet kriminellen Elementen Tür und Tor. Will man jemanden ermorden, braucht man nur einen Streit mit ihm vom Zaum zu brechen, sich bedroht fühlen und denjenigen dann erschießen.
Tatsächlich sind die Texte der entsprechenden Gesetze interpretierbar, was die Frage der subjektiv gefühlten Gefahr betrifft. Die Befürworter sagen, dies sei nicht im Gesetz festgelegt, aber dann bräuchte man es gar nicht.
So ist in Miami auch bereits der erste Fall aufgetreten, in dem dies Gesetz angewandt wird. Ein Abschleppunternehmer hatte ein falsch geparktes Fahrzeug abgeschleppt. Als der Fahrer das Auto abholen kam, versuchte er mit dem Wagen davonzufahren, ohne die Gebühren bezahlt zu haben. Der Abschlepper erschoß ihn, offenbar in der Furcht, das Geld nie zu sehen. Er gibt an, er habe befürchtet, der Fahrzeug-Eigner wolle ihn überfahren. Der Fall ist bisher noch nicht bis zu höheren Gerichten durchgedrungen.
Was wäre die Konsequenz, wenn der Staat flächendeckend den speziellen Schutz des Lebens durch die hohe Strafandrohung zurückzieht? Jeder einzelne, der es sich leisten kann, muß sich Waffenarsenale zulegen, sich mit anderen zu bewaffneten Banden zusammentun, um sein Leben und das seiner Familie zu schützen. Das Land zerfällt in Gebiete, in denen bewaffnete Gruppen herrschen, es wird 'Warlord-Country', so wie in Afghanistan oder im Kongo oder ein Gangolandia, wie es in einigen Ghettos schon der Fall ist. Zustände ähnlich wie in einigen Gebieten des früheren Wilden Westen.
Ist dies wirklich die Zukunft? Es scheint so, wenn es uns nicht gelingt, den Kapitalismus zu stürzen. Die Großkonzerne und Großbanken haben bereits teilweise begonnen den Vorteil, den ihnen die Nationalstaaten brachten, geringer einzuschätzen als die Nachteile, die eine Unterordnung unter nationales Recht ihnen bringt.
Im gleichen Maße, wie der verbissene Konkurrenzkampf zwischen ihnen immer schärfer wird, wie manche von ihnen sich der Zahlungsunfähigkeit oder der Übernahme durch Konkurrenten gegenübersehen, werden ihre Versuche, die Profite zu erhöhen, immer verzweifelter, denn sie bekommen das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate zu spüren, das Karl Marx bereits vor über hundert Jahren entdeckte.
So wird die Endphase des kapitalistischen Regimes von seinem Übergang in die kapitalistische Barbarei bestimmt, die genau dieses Gesicht hat: Warlord-Country.
Link zum Originalartikel hier
Dies ist einer von den Artikeln, der relativ viel Resonanz hervorbrachte, vor allem im Forum. Er geht die Frage von Gewalt und Gegengewalt grundsätzlich an. Er erschien am 7. April 2006 in der "Berliner Umschau".
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