Stuttgart bald demonstrationsfrei?

"Wir können alles, ausser hochdeutsch und demonstrieren lassen"?

Von Karl Weiss


Schikanen gegen angemeldete Demonstrationen, ununterbrochenes Filmen und Fotografieren aller Demonstrationsteilnehmer, wütendes unverhältnismäßiges Eingreifen der Polizei, anschließende Razzias und Hausdurchsuchungen, absurde Anklagen, Verweigerung der Rechte für Festgenommene, das ist, was im Moment in Stuttgart angesichts von Demonstrationen an der Tagesordnung ist. Offenbar soll das Demonstrationsrecht in Stuttgart ausgehebelt werden. Wird dies das neue Motto im Schwabenland: „Wir können alles, außer hochdeutsch und demonstrieren lassen“?

Sozialprotest DGB

Es fing an mit den Montagsdemonstrationen. Offenbar waren die der Obrigkeit in Stuttgart ein Dorn im Auge. Man ordnete unsinnige und völlig absurde Auflagen an. So sollten die Lautsprecher von der Richtung der Strasse abgewendet werden, so daß niemand etwas gehört hätte. Bei anderer Gelegenheit wurde behauptet, erst bei einer Kundgebung von über 50 Teilnehmern seien verstärkte Reden erlaubt. Es wurde das Mikrofon abgedreht.

Da auch in einer anderen Stadt das Gleiche versucht worden war, gab es bald ein Gerichtsurteil dazu: Natürlich ist das Demonstrationsrecht nicht erst ab 50 Mann gegeben, sondern ein generelles Recht. Trotzdem versuchte die Polizei in Stuttgart weiter mit der 50-Personen-Regel einzuschreiten.

>>Wozu Gerichtsbeschlüsse.? Wir sind die Obrigkeit!<<

Das andere Mittel, die Demonstranten einzuschüchtern, ist das andauernde Filmen und Photographieren. Die Polizei überwacht seit geraumer Zeit jeden Montag intensiv filmend und photographierend die Montagsdemos in Stuttgart. Der Kollege des Berichterstatters, Elmar Getto, der auf Einladung der Vorbereitungsgruppe Anfang Januar dort sprach, berichtete:

„Ich war überrascht, wie viele Personen trotz der Kälte gekommen waren. Noch bevor die Verstärkeranlage aufgebaut war, erschien bereits die Polizei mit zwei Transportern und vielen Polizisten. Mehrere davon filmten bzw. photographierten die Teilnehmer die gesamte Zeit. Nach einer Zeit zogen sie sich angesichts der Kälte in ihre Autos zurück und filmten und photographierten von dort aus weiter. Das war angesichts einer Demonstration, die schon über ein Jahr Woche für Woche völlig friedlich abgelaufen war, offensichtlich ein durch nichts gerechtfertigter Versuch der Einschüchterung. Nun, mich haben sie nicht eingeschüchtert.

Die Kundgebung konnte nicht am beantragten Platz stattfinden. Das Stuttgarter Ordnungsamt hatte behauptet, dort sei bereits vorher eine Werbeveranstaltung angemeldet worden. Als wir nach der Kundgebung dort hingingen, war da überhaupt keine Veranstaltung. Offenbar hatte man wieder schikanieren wollen.“

Elmar auf Stuttgarter Modemo Jan 06, Polizeifahrzeuge

Auf dem Bild sieht man Elmar bei seinem Redebeitrag mit den Polizeifahrzeugen im Hintergrund, aus denen gefilmt und photographiert wird.

Weiter ging es am vergangenen Samstag, 21. Oktober, bei der grossen DGB-Demonstration gegen den Sozialabbau, die zeitgleich mit anderen in Berlin, Dortmund, Frankfurt und München stattfand. Wiederum hatte das Stuttgarter Ornungsamt absurde Auflagen gemacht, darunter dem Veranstalter auferlegt, Straßenabsperrungen durchzuführen, Halteverbotszeichen anzubringen, Autonummern zu notieren und ähnliches. Der DGB kann aber mit einer Reihe guter Anwälte aufwarten und so war noch vor der Demonstration bereits eine gerichtliche Verfügung „im Eilverfahren“ beim Stuttgarter Verwaltungsgericht erwirkt worden (10 K 3756/06), welche die Auflagen für unzulässig erklärte.

„Eine schallende Ohrfeige für die Stadt“ Stuttgart, kommentierte der DGB-Landesvorsitzende Bliesener die Begründung des Gerichts, das klargestellt hatte, Verkehrsbeeinträchtigungen bei Demonstrationen seien „grundsätzlich hinzunehmen“.

Dann fand die Demonstration statt, mit - nach Einschätzung mehrere unabhängiger Beobachter – mindestens 40 000 Demonstranten. Eine friedliche, aber nach übereinstimmenden Aussagen sehr kämpferische Demonstration. Eine Gruppe von etwa 200 bis 300 Personen bildete nach Angabe von „Bunte Hilfe Stuttgart“ einen „antikapitalistischen Block“. Aus diesem Block, so Polizeiangaben, seien entzündete bengalische Kerzen (die vom Fussball) und eine Flasche mit einer brennbaren Flüssigkeit gegen die Fassade der Commerzbank-Zentrale am Schloßplatz geworfen worden. Auch die SPD-Zentrale soll einige Farbspritzer abbekommen haben.

Nun, wenn das wahr ist, war das sicher nicht klug. Aber selbst nach Angaben der Polizei gab es nicht einmal Sachschäden abgesehen von Farb- und Brandspuren an der Fassade. Das ist also nicht mehr als ein Dumme-Jungen-Streich. Demgegenüber war das Eingreifen der Polizei sehr ernst, so als ob schwere Verbrechen zu verfolgen gewesen wären.

Es wurde ein Teil des „Blocks“ eingekreist und insgesamt 20 Personen festgenommen. Obwohl es angesichts der Geringfügigkeit völlig ausreichend gewesen wäre, Personalien festzustellen, verfrachtete man die vermeintlichen „Täter“ in einen Polizeitransporter und hielt sie über lange Zeit in der Hauptwache Pragsattel fest.

War es bis dahin nur unverhältnismässg, wurde es dann allerdings ernst. Nach Angaben der „Bunten Hilfe Stuttgart“ wurden die etwa 25 Festgenommenen, viele davon minderjährig, in ihren Rechten beschnitten und behandelt, wie man nicht einmal Schwerverbrecher in Stuttgart behandelt.

Obwohl jedem Festgenommenen das Recht zusteht, ein Telephongespräch zu führen (z.B. um einen Anwalt zu benachrichtigen oder bei den Minderjährigen, um die Eltern anzurufen), wurde ihnen dies verweigert. Bis heute gibt es keine Stellungnahme der Polizeidirektion Stuttgart zu diesem Vorwurf.

Den Festgenommenen wurde teilweise Wasser zm Trinken verweigert. Obwohl sie stundenlang festgehalten wurden, bekam niemand etwas zu essen. Fast alle wurden erkennungsdienstlich behandelt, obwohl ihre Personalien klar waren. Man erhob Anklage wegen „Landfriedensbruch“ und „Sachbeschädigung“.

Da es sich angesichts des Vorgefallenen bestenfalls um extrem leichte Fälle davon handeln kann, war also keine erkennungsdienstliche Behandlung angesagt. Es muß speziell eine erkennungsdienstliche Behandlung von Minderjährigen immer abgewogen werden, was hier nicht geschah. Einer der Festgenommenen war erst 14 Jahre alt.

Obwohl bei einer Festnahme von Minderjährigen immer schnellstmöglich die Erziehungsberectigten benachrichtgt werden müssen, wurde dies nicht getan. Damit haben sich, wenn diese Schilderung stimmt, die Polizisten und vor allem der Aufsichtsführende einiger Delikte schuldig gemacht.

Sehr merkwürdig auch, daß diese Dumme-Jungen-Streiche zum Anlaß genommen wurden, um bei vorher Festgenommenen Hausdurchsuchungen zu machen und bei einem Sozialen Zentrum eine Durchsuchung ohne Durchsuchungsbefehl durchzuführen, wie die „Bunte Hilfe Stuttgart“ weiter berichtet. Hier wurde nun als Begründung „Versuchte schwere Brandstiftung“ und „Versuchte schwere Körperverletzung“ nachgeschoben, völlig absurd angesichts des Vorgefallenen. Wiederum wird völlig unverhältnismässig reagiert. Ist es, weil man „Linke“ dahinter vermutet? Ist das ein durchgehendes Motiv ?

Polizeieinsatz

Auffallend auch, wie ähnlich diese geringfügigen Ausschreitungen denen im Stuttgarter Neckarstadion bei Fußballspielen sind. Auch dort werden Bengal-Kerzen geworfen, auch dort kommt es gelegentlich zu kleinen Bränden. Allerdings kommt dort etwas erschwerend hinzu: Genau aus den Ecken, wo dies herkommt, kommen auch rassistische Angriffe auf Spieler.

Noch nicht in einem einzigen Fall hat die bei Demonstrationen so aufgeheizte Stuttgarter Polizei solche Schein-Fußballfans festgenommen, ohne Kontakt zur Außenwelt isoliert, stundenlang festgehalten und mit Durchsuchungen reagiert. Warum nicht?

>>Das sind unsere Leute, während die Demonstranten gegen die Obrigkeit sind, also zeigen wirs denen!<< Ist das die Haltung von Stadt und Polizei in Stuttgart?

Der Obrigkeitsstaat winkt aus der Geschichte! Wilhelm des Zweiten Pickelhaube, sein General Hindenburg, der dann Hitler an die Macht bringt. Ist es das?

Veröffentlicht in der "Berliner Umschau" am 3. November 2006

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