Noch einmal: Flugzeugabsturz Brasilien
Von Karl Weiss
Artikel der "Berliner Umschau" von heute
Am Anfang war der Flugzeugabsturz einer Boeing 737 mit 155 Menschen an Bord über dem Amazonasurwald in Brasilien vor allem von der Vielzahl der ungeklärten Fragen charakterisiert. Jetzt geht das mehr und mehr in eine Polemik über die Ursachen über. Anscheinend hat sich, wie bei Unglücken häufig, ein tragisches Zusammenspiel von mehreren Irrtümern, Fehlern bzw. Fehlleistungen ereignet.
Das erste größere Mißverständnis kam auf, als am Morgen des 4. Oktober die europäischen Medien (so unter anderem auch AFP) übereinstimmend meldeten, die beiden Piloten der Legacy seien festgenommen worden. Sie wurden bis heute nicht festgenommen. Man hat ihnen lediglich die Pässe abgenommen, damit sie sich während der Zeit der Untersuchungen nicht aus dem Land absetzen können. Dies ist internationale Norm. Wer unter dem Anfangsverdacht eines Verbrechen steht, darf als Ausländer das Land solange nicht verlassen, bis er vom Verdacht befreit wurde oder er wird eben wirklich festgenommen.
Es wurde versucht, dies als Besonderheit Brasiliens darzustellen. Das ist aber nicht der Fall. Brasilien folgt in diesem Fall lediglich internationalen Regeln.
Die in einem früheren Artikel geäußerte Vermutung, es könne sich bei „Excel Aire“, dem Käufer der Legacy, um eine CIA-Tarnfirma handeln, konnte nicht bestätigt werden. Es gibt dafür keinen Anhaltspunkt.
Die hauptsächliche Polemik wurde von dem Journalisten der New York Times, Joey Sharkey, eingeleitet, der als Gast in der Embraer 600 „Legacy“ mitgereist war, die mit der Boeing zusammenstieß. Er hatte von Brasilien aus noch einen einfühlsamen Artikel an seine Zeitung geschickt, über den die Berliner Umschau schon berichtet hat. Kaum war er aber in den USA angekommen, begann er in Interviews am Fernsehen, am Telephon und mit Zeitschriften und Zeitungen in unerhörter Weise die brasilianischen Behörden anzugreifen, obwohl der Inhalt seiner Berichte aus Brasilien nicht den geringsten Anhaltspunkt für irgendeine sachliche Begründung hierfür ergibt.
So erklärte er u.a. in der Sendung „Today Show“ des TV-Senders NBC am Abend des 4. Oktobers, die brasilianische Flugkontrolle sei extrem schlecht und fehlerhaft. Woher er diese Weisheit hat, bleibt sein Geheimnis. Es gibt keinerlei Anzeichen, daß die brasilianische Flugkontrolle schlechter wäre als die in den USA oder in Europa. So hat sich zum Beispiel in Brasilien – zumindest in den letzten 20 Jahren – kein einziger Flugzeugabsturz ereignet, der eindeutig auf Fehler der Fluglotsen zurückzuführen gewesen wäre, wie etwa der Absturz vor einigen Jahren im deutsch-schweizerischen Grenzgebiet bei Überlingen am Bodense.
Eine andere Bemerkung Sharkeys, die auf Unverständnis stieß, war, der ‚Transponder’ der fabrikneuen „Legacy“ des brasilianischen Herstellers Embraer müsse wohl einen Defekt gehabt haben. Ein wichtiger Umstand des Unglücks ist: Der Transponder des Exekutiv-Jets gab zum Zeitpunkt der Annäherung an den Punkt des Zusammenstoßes keine Signale ab (vorher und hinterher funktionierte er einwandfrei). Diese Signale hätten dazu geführt, daß der Pilot der Boeing noch rechtzeitig auf die sich auf gleicher Flughöhe annähernde Legacy aufmerksam geworden wäre. Die brasilianische Luftfahrtbehörde gab hierzu am 5. Oktober folgende Information heraus: Man habe den Transponder untersucht und keinerlei Fehler gefunden. Da er nach übereinstimmenden Aussagen keine Signale abgab, müsse er ausgeschaltet gewesen sein.
Es gibt nicht den geringsten Hinweis, daß brasilianische Embraer-Flugzeuge in irgendeiner Art weniger zuverlässig seien als solche aus Industriestaaten.
Der letzte große Absturz eines Passagierflugzeugs in Brasilien vor diesem war der einer Fokker 100 der Gesellschaft TAM, die mitten in der Großstadt São Paulo unmittelbar nach dem Start niederging und unter Insassen und getroffenen Anwohnern 99 Tote forderte. Es stellte sich heraus, daß die Hauptursache des Absturzes ein Konstruktionsfehler der Fokker war, zusammen mit einem technischen Versagen im Flugzeug. Zu diesem Zeitpunkt stand die inzwischen bereits Pleite gegangene Fokker-Gruppe unter deutscher Verwaltung: Die damalige Daimler-Benz AG, heute Daimler-Chrysler, hatte sie gekauft.
In Brasilien gehen Zivilpolizei, Bundespolizei und Staatsanwaltschaft davon aus, daß der US-Pilot der Legacy den Transponder abgeschaltet hatte – eventuell, um in einer anderen Höhe als vorgesehen fliegen zu können (was aber nicht viel Sinn ergibt).
Die dritte und nun in Brasilien mit besonderem Befremden aufgenommene Aussage von Sharkey ist, die beiden US-Piloten der Legacy würden in Brasilien „Gefahr laufen“. Man müsse speziell auf die von brasilianischen Behörden gesammelten Beweise des Zusammenstoßes achten. Hierzu bemühte sich sogar der brasilianische Verteidigungsminister an die Mikrophone der TV-Anstalten und erklärte, diese Aussage sei „bedauerlich“.
Soweit Sharkey damit andeuten wollte, in Brasilien würden eventuell ausländischen Piloten Beweise untergeschoben, um eine Schuld zu konstruieren, so ist da Vorsicht mit einer solchen Ausage geboten. Sie könnte als Vergehen aufgefaßt werden. Falls das „Gefahr laufen“ auf mögliche Verhörmethoden abzielte, so muß man sich wirklich fragen, was in diesen Journalisten gefahren sein könnte.
Tatsächlich gab es in Brasilien eine Epoche, als Beweise unterschlagen oder verfälscht wurden und als Folter von Verdächtigen an der Tagesordnung waren. Das war während der Militärdiktatur von 1964 bis 1985. Allerdings war diese Militärdiktatur auf „Einflüsterungen“ genau jenes Landes zustande gekommen, aus dem Sharkey kommt. Genau dort, in den Vereinigten Staaten, waren den Militärs die Methoden des Putsches beigebracht worden und genau dort lernten sie foltern.
Wenn du mit einem Finger auf den anderen zeigst, zeigen immer die anderen Finger der gleichen Hand auf dich zurück.
Die nächste Unklarheit tauchte auf, als der Polizist an die Öffentlichkeit ging, der alle 7 Insassen der Legacy bereits am Samstag, dem Tag nach nach dem Unglück, zum Ablauf vernommen hatte. Er sagte aus, daß der Journalist Sharkey ihm gegenüber nicht erwähnt hatte, was er in seinem Artikel schrieb: Er sei kurz vor dem Zusammenstoß im Cockpit gewesen und habe gesehen, daß der Höhenmesser der Legacy 37 000 Fuß angezeigt hätte. Sollte der Journalist eventuell versucht haben, den Landsleuten mit einer scheinbar entlastetenden Aussage zu helfen?
Nun, wie auch immer, es hat nicht geklappt, denn diese Aussage entlastet nicht mehr.
Von wem man die ganze Zeit bis heute nichts mehr hörte, ist der Fluglotse, der für die Luftraumüberwachung des zivilen Passagierverkehrs zuständigen brasilianischen Behörde „Agência Nacional de Aviação Civil“ (Anac). Es war gemeldet worden, er sei vom Dienst suspendiert und in psychologische Behandlung gebracht woden. Dann verschwand er aus den Meldungen. Er hätte auf seinem Bildschirm ja sehen müssen, daß da ein unidentifiziertes Objekt genau auf „seine“ Boeing zukam und warnen müssen, oder? Aus Kreisen der Luftüberwachung kommt folgende Erklärung: Da der Transponder ausgeschaltet war, erschien die Legacy auf einer anderen Höhe als die Boeing. Der Lotse konnte nicht erkennen, daß beide auf gleicher Höhe unterwegs waren.
Ein Fachmann weist auch noch daraufhin, daß die Stelle des Zusammenstoßes genau in der Zone liegt, in der sich die Zuständigkeiten der Luftüberwachungsstelle in Brasilia und jener in Manaus überlappen. In dieser Zone kann es schon mal vorkommen, daß sich für eine kurze Zeit beide Fluglotsen als nicht (noch nicht bzw. nicht mehr) zuständig für ein Flugzeug
ansehen.
Die wichtigste Meldung vom 5. Oktober in Brasilien war aber, daß eine gemeinsame US-/Brasilianische Kommission zur Aufklärung der Ursache(n) des Desasters eingesetzt wurde. In ihr sind nicht nur die Luftüberwachungsbehörde Brasiliens ANAC und die Luftwaffe Brasiliens (zuständig für die Exekutiv-Jets) sowie die Vereinigung der brasilianischen Luftfahrtgesellschaften vertreten, sondern auch die Gewerkschaft der brasilianischen Luftfahrtbeschäftigten, die Boeing, die Embraer sowie ein Beauftragter der US-Regierung.
Das ist ungewöhnlich. Es ist keineswegs normal, daß bei Untersuchungen über Flugzeugabstürze Vertreter ausländischer Regierungen einbezogen werden. Aber die USA als Herrscher der Welt haben eben Sonderrechte.
Ebenso wurde gemeldet, daß die beiden „Black Box“ bereits an die international zuständige Untersuchungsstelle in Kanada weitergegeben wurde. Für eine endgültige Beurteilung wird man auf jeden Fall die Ergebnisse dieser Auswertung abwarten müssen.
In den darauffolgenden Tagen kamen nur noch Berichte über Meinungen.
Nun aber, am 9.Oktober, traf endlich eine konkrete Tatsachenmeldung in den Nachrichten ein: Der Flugplan der „Legacy“ wurde als Kopie in den Fernsehnachrichten gezeigt. Er sieht für den Flug von São Paulo nach Brasilia die 37.000 Fuß vor, die als Höhe des Zusammenstoßes jetzt endgültig feststeht. Doch dann, als sie in den Korridor von Brasilia nach Manaus einbog, so steht da geschrieben, hätte die Legacy für etwa 400 km auf 36.000 Fuß fliegen müssen, um dann, beim Funksignal Terez, auf 38.000 Fuß zu steigen. Von Terez bis zum Ort des Zusammenstoßes sind es noch einmal 600 km, so daß der Flughöhenwechsel als Unglücksursache ausfällt.
Sie blieb aber die ganze Zeit auf 37.000 Fuß. Der Korridor zwischen Brasilia und Manaus ist aufgeteilt in geradzahlige Höhen (in Tausend Fuß) für den Verkehr von Brasilia nach Manaus und in ungeradzahlige Höhen für den Gegenverkehr.
Nach Aussagen eines Fachmannes ist das internationaler Standard: Eine Höhenschichtung von 1000 Fuß (etwa 330 Meter) für Hin- und Gegenverkehr wird allgemein als ausreichend angesehen.
Damit haben wir nun folgende Fehlhandlungen bzw. Fehlfunktionen:
1. Die Legacy hielt sich nicht an die Höhen des Flugplans. Grund: ungeklärt
2. Die Legacy war über Funk nicht zu erreichen. Grund: ungeklärt
3. Der Transponder der Legacy gab keine Signale ab. Grund: ungeklärt
4. Die Passagierluftverkehr-Flugkontrolle erkannte nicht, daß die Legacy auf der gleichen Höhe mit der Boeing unterwegs war oder war nicht aufmerksam. Grund: ungeklärt
5. Die Piloten beider Flugzeuge sahen sich nicht auf dem Radar. Grund: ungeklärt
6. Die automatischen Annäherungswarnungen haben nicht funktioniert. Grund: ungeklärt
Hätte auch nur eine dieser Fehlfunktionen oder Fehlhandlungen nicht stattgefunden, wäre das Desaster wahrscheinlich verhindert worden.
Man kann gespannt sein, zu welchen Schlüssen die internationale Untersuchungs-Kommission kommt.
Link zum Originalartikel hier
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