Brasilien jenseits von Fussball und Samba, Teil 13: Wie unsere Zukunft in der beginnenden kapitalistischen Barbarei aussähe

'Ich habe kein Leben'


Von Elmar Getto


Ein erschütterndes Dokument über das Leben im Kapitalismus (oder eigentlich schon in der kapitalistischen Barbarei): Ein 12-jähriger in Rio de Janeiro wird von der Polizei festgenommen und verprügelt. Er hat beim Drogenhandel geholfen und ist Schmiere gestanden, als die Drogenhändler einen Polizisten umbrachten. Der Reporterin, die ihn auf der Polizeistation befragt: „Warum bist du in dieses Leben eingestiegen?", sagt er: „Ich habe kein Leben." Und „Das war meine einzige Möglichkeit zu überleben."

Brasilien (topographisch)

Wie wird es aussehen, wenn es uns nicht gelingt, den Kapitalismus zu besiegen und den wahren Sozialismus zu errichten, wenn der Kapitalismus in die kapitalistische Barbarei übergehen wird? In einigen Entwicklungsländern, so wie in Brasilien, kann man jetzt schon sehen, was kapitalistische Barbarei IN DEN ERSTEN ANSÄTZEN heißen würde:

In wesentlichen Teilen des Landes herrscht nicht mehr die Staatsmacht, sondern eine Doppelherrschaft zwischen Staatsmacht und kriegsmäßig bewaffneten, mafiaähnlichen Banden, die sich vor allem durch Drogen-, Frauen- und Waffenhandel finanzieren. Der Drogenkonsum (illegale Drogen) hat sich tief in die Gesellschaft eingeführt, vor allem die Unterdrückten versuchen ihre elende Lage im Rausch zu vergessen, aber auch die Droge der Schickeria, Kokain (auch in Form von Crack), spielt eine bedeutende Rolle. Nicht einmal mehr ein Viertel der Einwohner hat dort regelmäßige bezahlte Arbeit.

Dies sind Zustände, wie sie in Brasilien schon heute in bestimmten Teilen herrschen. Besonders in der größten Stadt der südlichen Hemisphäre, São Paulo, und in Rio de Janeiro ist dies bereits für einen wesentlichen Teil der Bevölkerung Realität. In Rio auf den Hügeln, in Sâo Paulo an der Peripherie.

São Paulo, grösste Stadt der südlichen Hemisphere

In den Armenvierteln, den sogenannten Favelas, herrschen 60, 70, 80, 90% Arbeitslosigkeit bei den Männern und männlichen Jugendlichen. Die einzige Aussicht für die meisten ist, den kriminellen Banden beizutreten, Drogen zu verkaufen und Hilfsdienste zu leisten. Die Polizei, schlecht bezahlt und in lächerlicher Weise unterbewaffnet gegenüber den Kriminellen, die über jede Art von Kriegswaffen verfügen, hat keine wirkliche Kontrolle mehr über diese Regionen, denn sie kann dort nur noch in großer Anzahl bei seltenen „Suchaktionen" auftreten, die üblicherweise von den lokalen Politikern als Beweis ihrer phantastischen „Bekämpfung der Kriminalität" angeordnet werden.

Die Polizei ist zudem - ständig in Angst, selbst erschossen zu werden - völlig brutalisiert und schießt auf alles, was männlich ist und sich bewegt (das mit dem Männlich ist dabei nicht unbedingt notwendig).

Die kriminellen Banden sind völlig skrupellos, wenn jemand eine erhaltene Droge nach dem Weiterverkauf nicht oder nur teilweise bezahlt. Derjenige wird ohne Ausnahme liquidiert. Dabei macht man sich nicht immer die Mühe, ihn allein abzupassen, sondern erschießt ihn auch schon mal in aller Öffentlichkeit und dann auch gleich alle anderen Umstehenden, um keine Zeugen übrig zu lassen. Z.B. so kommen im heutigen Brasilien Zahlen zustande wie die 40 000 Ermordeten pro Jahr, die höchste Zahl von Morden aller Länder (wenn man in diesem Fall einmal den Irak ausnimmt - aber selbst dort hat man Schwierigkeiten, auf 40 000 Ermordete zu kommen).

Rio de Janeiro Botanischer Garten 1

Der Schreiber dieser Zeilen hat Jahre in Barueri an der Peripherie von São Paulo gelebt und dort abends die Maschinenpistolensalven gehört, wenn solche Massaker angerichtet wurden. Ein Bekannter von ihm wurde bei einem erschossen. Als er später in Rio de Janeiro lebte, konnte man in manchen Nächten Schnellfeuergewehr- und Maschinenwaffen-Feuer hören, wenn sich verschiedene der Banden bekämpften oder ein Feuergefecht mit Polizisten stattfand.

Die Polizisten versuchen so lange wie möglich zu überleben in dieser Situation und nehmen kleine Bestechungsgelder an, hauptsächlich um damit den Führern der kriminellen Banden zu signalisieren, daß sie nichts von ihnen zu befürchten haben. Aber immer, wenn ein Polizist im Verdacht steht, irgendeine eventuell gefährliche Information weitergegeben zu haben, wird er von den Unterführern der Kriminalität zum Tode verurteilt und ein Hinrichtungskommando wird abgestellt, um das schmutzige Geschäft durchzuführen.

Das war auch in diesem Fall so. Ein Polizist wurde im vergangenen Mai in Niteroi, Großraum Rio de Janeiro, ermordet von einem Kommando der kriminellen Organisation der Favela, wo er zuständig war. Wie oft üblich, wurden von der kriminellen Bande, in diesem Fall den ‚Herrschern’ des ‚Morro do Estado’ in Niteroi, dabei auch Kinder mit in das Verbrechen einbezogen. Dadurch hat man diese später als Jugendliche in der Hand, denn man kann sie ja jederzeit der Polizei ausliefern und so schafft man sich vor Angst schlotternde Untergebene, die selbst die unmenschlichsten Befehle ausführen.

Rio de Janeiro, Zuckerhut und Corcovado von Niteroi aus

In diesem Fall wurde ein 12-jähriger Junge einbezogen, der gelegentlich für 20 Real (7,50 Euro) pro Tag als Verkäufer von Kleinmengen von Marihuana an bekannten Punkten in der Nähe der Favela für die Drogen-Mafia arbeitet (daß wir auch in Deutschland bereits auf diesem Weg sind, kann uns jeder Ein-Euro-Jobber bestätigen. Zwar sind die hiesigen „Arbeitgeber" offiziell noch keine kriminellen Organisationen, aber z.B. schon politische Parteien, was ja auch nicht sehr unterschiedlich ist). Der Junge wurde abkommandiert, Schmiere zu stehen beim Mord an jenem Polizisten. Dabei kam es zu einem Feuergefecht, bei dem sowohl der Polizist als auch einer der Mordbuben getötet wurden.

Wer sich in etwa ein Bild machen will, wie man sich das Leben und die Zustände in einer Favela vorzustellen hat, kann sich das Stück oder eine der beiden Verfilmungen „Orpheu Negro" ansehen, ein Meisterwerk des brasilianischen Dichters und Schriftstellers Vinicius de Morais, heute leider schon verstorben, der u.a. auch das Gedicht (Text) des weltbekannten Liedes „Garota de Ipanema" („The Girl from Ipanema") geschrieben hat. Zwar ist diese Beschreibung schon Jahrzehnte alt, damals gab es diese Zustände erst in wenigen begrenzten Gebieten und die unglaubliche Brutalität der heutigen Zustände deutete sich erst an, aber das Prinzip bleibt das gleiche.

Die Polizei reagiert auf Polizistenmorde üblicherweise nicht damit, daß die Täter gefunden und der Justiz übergeben werden, sondern mit Rache-Unternehmen gegen diejenige Favela, die als Urheber des Mordes angesehen wird.

Im März dieses Jahres wurde ein Massaker bekannt, das Polizisten, die nicht im Dienst waren, in einer Favela in der ‚Baixada Fluminense’ angerichtet haben, ein anderer Bereich von Groß-Rio-de-Janeiro. 30 Personen wurden abgeschlachtet, einschließlich Frauen und Kinder, wahllos, offenbar weil die Polizisten eine Riesenwut hatten.

Es wurde in diesem Fall nicht aufgeklärt, ob es wiederum um einen Racheakt für einen Polizistenmord gehandelt hat oder ob die Angabe der Täter stimmt, sie seien erbost über eine unpopuläre Maßnahme eines ihrer Vorgesetzten gewesen.

Zuckerhut von der Botafogo-Bucht aus

Tatsache ist, daß die Täter, obwohl sie bereits innerhalb kurzer Zeit identifiziert werden konnten, bis heute keinerlei irgendwie geartete Strafe gefunden haben. Zwar wurden sie wegen des internationalen Aufsehens, das jenes Massaker hervorrief, für kurze Zeit in ein speziell für Polizisten vorgesehenes Gefängnis eingesperrt, aber sofort wieder freigelassen, als die internationale Aufmerksamkeit nachließ. Bis heute tun sie ihren Dienst in der Polizei und bis heute liegt gegen keinen von ihnen eine Anklage vor.

Die Aburteilung solcher Täter ist extrem selten, denn es finden sich praktisch nie Zeugen, die aussagebereit sind. Jeder weiß, wer gegen einen Polizisten aussagt, wird nicht allzu lange danach mit einer Kugel im Kopf aufgefunden. Selbst das Nicht-Aussagen schützt dabei Zeugen wenig. Im Fall des Polizistenmordes in Niteroi gab es nämlich einen Zeugen, der sich aber aus Angst weigerte auszusagen. Trotzdem wurde seine Leiche kurze Zeit später im Kofferraum eines Autos gefunden - mit der obligatorischen Kugel im Kopf.

Es gibt zwar in einzelnen Fällen Zeugenschutzprogramme, aber auf die vertraut inzwischen kaum einer mehr, denn neuer Name und Aufenthaltsort sind ja innerhalb der Polizei bekannt und bleiben vor anderen Polizisten nicht immer geheim.

Auf den Jungen, der 1993 das Candelaria-Massaker überlebte (ehemalige Polizisten und Polizisten außer Dienst ermordeten 6 Straßen-Kinder, verletzten weitere 5 schwer) und sich bereit erklärte auszusagen, wurden 3 Anschläge verübt, die er wie durch ein Wunder überlebte. Er lebt heute unter neuem Namen in der Schweiz. Die Verurteilungen von Polizisten bzw. Ex-Polizisten wegen dieses Massakers (alle unterhalb der Strafe für Mord) wurden ausnahmslos von höheren Gerichten wegen angeblicher Formfehler wieder aufgehoben. Sie sind alle in Freiheit.

Staatsanwälte können praktisch keine Verfahren gegen Polizisten führen, denn die Polizei würde dann in den von jenem Staatsanwalt bearbeiteten Fällen die Aufklärung blockieren und der Staatsanwalt müßte abberufen werden. Als man einen Staatsanwalt nur für Polizisten-Kriminalität einsetzte, wurde er bald mit der berühmten Kugel im Kopf aufgefunden. Es braucht nicht erwähnt zu werden, daß dieser Mord nie aufgeklärt wurde.

Interessierte ultrarechte Politiker und Medien, speziell der Groß-Fernsehsender ‚Globo’, lassen immer wieder deutlich durchblicken, daß solche Massaker von Polizisten an Straßenkindern und Favela-Bevölkerung „im Grunde berechtigt" und notwendig seinen, nur leider wegen der legalen Probleme nicht in der notwendigen Häufigkeit durchgeführt werden könnten.

Das geht so weit, daß reaktionäre Politiker mit bestimmten Codewörtern und -Zahlen sich zur Ausrottung von „potentiellen Straßenräubern" und „Delinquenten" bekennen und mehr oder weniger offen zur Wahl mit diesem Programm antreten. Speziell gilt dies für eine Anzahl von Politikern der PP (Partido Progressista), einer ultrarechten Partei in Brasilien, die Partei von Paulo Maluf, dem „Franz-Josef-Strauß Brasiliens". Ein durch und durch korrupter und reaktionärer Politiker, der Kandidat der Militärs bei der noch nicht vom Volk durchgeführten Präsidentenwahl im Jahr 1985 in Brasilien am Ende der Militärdiktatur war.

Corcovado von Botafogo aus

Politiker dieser Partei benutzen ihre Parteinummer 11, um solche Anspielungen zu machen. In Brasilien haben alle Parteien feste Nummern. Die Präsidentenwahlen und Gouverneurswahlen (Ministerpräsidenten der Bundesstaaten) werden direkt mit diesen Nummern durchgeführt, die einzelnen Listen für Bundestags, Senator-, Landtags- und Kommunalwahlen fangen mit dieser Nummer an. Die Kandidaten dieser Partei hängen eine weitere 1 an die Parteinummer an und spielen mit der sich dann ergebenden Zahl 111 auf das Carandiru-Massaker an.

Im Jahr 1994 war nach einer Gefangenen-Revolte im Großgefängnis Carandiru von São Paulo von der stürmenden Polizei ein unerhörtes Massaker unter den Häftlingen verübt worden. 111 von ihnen wurden exekutiert.

Weder wurde der verantwortliche Gouverneur Fleury bisher angeklagt (er ist weiterhin hochangesehener Politiker) noch erhielten die Polizeikommandeure oder die einzelnen ausführenden Polizisten irgendwelche Strafen. Stattdessen identifizieren sich bestimmte Politiker, z.B. ein gewisser Bolsonaro, mit dieser Nummer als „law-and-order"-Rambos, worauf allerdings weniger und weniger der ratlosen brasilianischen Wähler hereinfallen.

Im Fall des Polizistenmordes im Mai in Niteroi hatte die Polizei nun unter anderem herausgefunden, daß der Zwölfjährige beteiligt war. Sie holten ihn vom Verkaufsort der Marihuana ab (trafen natürlich bereits in Kleinpackungen aufgeteiltes Marihuana bei ihm an) und nahmen ihn mit aufs Revier, wo er kräftig verprügelt wurde.

Tänzerin beim Karneval in Rio

Interessant hier das Detail, daß die Polizei natürlich genau weiß, wo illegale Rauschgifte verkauft werden, diese Verkaufsstellen aber keineswegs ausräuchert, sondern dort alle gewähren läßt. In Brasilien haben diese Verkaufsstellen sogar einen eigenen Namen: „Boca do fumo". Dies macht deutlich, wie verwoben bereits die Polizei und das organisierte Verbrechen sind, die man nur noch an der Uniform unterscheiden kann.

Jemand aus der Favela hatte gesehen, wie der Junge abgeführt wurde und die Mutter benachrichtigt, die als Tagelöhnerin arbeitet ( ja, Taglöhner werden in der kapitalistischen Barbarei natürlich auch wieder eingeführt, es wird nicht mehr lange dauern, dann haben wir in Deutschland auch wieder welche). Die Reporterin einer Zeitung Rios schildert die Szene so, als sie auf der Wache ankommt: „Der Junge stand da, in Tränen aufgelöst, umgeben von zumindest 6 Polizisten mit Gewehren und Pistolen. Als die Mutter ankommt, wendet sie sich zuerst an den Jungen: „Du sagst jetzt gar nichts mehr! Sonst werde ich es sein, die dich mit Schlägen eindeckt!" Dann wendet sie sich an die Polizisten: „Ihr habt kein Recht, einen Jungen festzunehmen und zu schlagen! Was ist das für eine Geschichte?"

Eine Zeit später hat sie sich schon etwas beruhigt und wird von der Reporterin befragt. Sie erzählt, daß sie außer dem Jungen noch 5 Kinder hat, zwischen 21 und 2 Jahren alt. Sie sagt auch, daß ein anderer Sohn im Jahr 2003, 16 Jahre alt, von Leuten der konkurrierenden Rauschgifthändlerbande aus der Nachbarfavela verschleppt und bei lebendigem Leib verbrannt worden sei. „Es ist nicht gerecht, daß eine Mutter so ihre Kinder verliert. Keine Mutter verdient es, so etwas zu erleben!"

Karneval in Rio - Tänzerin fast nackt

Danach befragt die Reporterin den Jungen. Er sagt, er braucht das Geld, das er mit dem Marihuana-Verkauf verdient, zum Überleben. Ja, er ginge zur Schule. Er habe einmal Arzt werden wollen. Aber an diesem Tag sei die Schule ausgefallen, weil die Lehrerin fehlte (Na, das kennen wir doch auch aus Deutschland, nicht?). Schließlich fragt die Reporterin: „Warum bist du in dieses Leben eingestiegen?" und er sagt: „Ich habe kein Leben, Tante." (‚Tante’ und ‚Onkel’ sind die übliche Bezeichnung, mit der Kinder aus den Favelas außenstehende Personen ansprechen.)

Der Junge hat bereits eine klare Sicht der Wirklichkeit. Männliche Jugendliche in den Favelas haben, statistisch gesehen, nur etwa 50% Chance, das 30. Lebensjahr zu erreichen oder anders ausgedrückt, 50% Chance, vorher ermordet zu werden. Dieser Junge, so berichtet die Reporterin weiter, wird nun in ein Besserungslager für Jugendliche von 12 bis 18 Jahren gebracht. Dort wird man ihm endgültig alles beibringen, was skrupellose Kriminelle für ihr kurzes Leben brauchen, denn es handelt sich um reine Aufbewahrungsanstalten mit brutalisierten Aufsehern und Folter.

So zieht der brasilianische Staat bewußt den Nachwuchs für die kriminellen Banden heran.

In der brasilianischen Öffentlichkeit wird es versucht so darzustellen, daß die Köpfe jener Banden die jeweiligen Machthabenden in den Favelas sind. Die sind in der Regel mit ihren Spitznamen bekannt und genießen in den Medien eine gewisse - und keineswegs nur negative - Aufmerksamkeit. So haben die brasilianischen Medien einen der Favela-Bosse, einen gewissen Fernandinho Beira-Mar, als öffentliche Persönlichkeit hochgejubelt, so als ob an ihm irgendetwas zu feiern wäre.

Brasilianischer Karneval: Tänzerin auf dem Festwagen

Wenn man allerdings seinen Menschenverstand zu Hilfe nimmt, so wird klar, daß die wirklichen Hintermänner dieser kriminellen Banden ja täglich Hunderttausende von Dollars an Gewinnen einstecken. Völlig undenkbar, daß diese Bosse in Favelas leben. Man wird sie wohl eher in den typischen Häusern und Wohnungen der brasilianischen Superreichen finden.

Da sind wir denn auch schon angekommen bei jenen Personen, denen all dies zugute kommt. Die brasilianische Gesellschaft ist dominiert von etwa 500 bis 1000 Familien (ein Leser meinte, es könnten auch 1500 sein), die alle Institutionen dominieren. Sie haben die Politik in der Hand, das Parlament, die Justiz, die Medien, die Polizei, die Armee, kurz: Alles.

Sie zeichnen sich vor allem durch zwei Dinge aus: Sie sind superreich - Vermögen von Milliarden von Dollar sind in Brasilien häufig - und sie sorgen dafür, daß wesentliche Teile der in Brasilien geschaffenen Werte in Form von Zinsen und Zinseszinsen für die überbordende Auslandsverschuldung an internationale ‚Finanzagenten’ gehen, also Banken, Großkonzerne und private Anleger.

Die Armut Brasiliens und der meisten Brasilianer ist also durch das Zusammenspiel der Superreichen Brasiliens (dort von den Medien - die ihnen gehören - gerne „Elite" genannt) und der Imperialisten bedingt.

Dort, bei diesen Superreichen, sind dann auch die Hintermänner zu suchen, die letztlich die kriminellen Gangs in der Hand haben, die große Teile der brasilianischen Gesellschaft terrorisieren. Es gibt sogar klare Hinweise, daß ein Teil der Politiker, die in Brasilien etwas zu sagen haben, direkt oder indirekt mit diesen Mafiabanden verknüpft sind.

Speziell zu den Deals, die Politiker hier mit den kriminellen Banden schliessen, siehe hier und hier.

Ein Beispiel sei hier beschrieben: der in Brasilien bekannte Politiker Garotinho (im Moment gerade bei der Partei PMDB). Er wurde, damals noch bei einer angeblich linksgerichteten Partei, der PDT, zum Gouverneur von Rio gewählt.

Zunächst tat er etwas, das vielen Hoffnung gab, hier würde nun einer einmal wirklich versuchen, die Zustände zu verbessern: Er beschäftigte einen anerkannten Fachmann in Sicherheitsfragen und beauftragte ihn, die Zustände bei Polizei, Strafvollzug und Justiz zu durchleuchten und Vorschläge für Änderungen zu machen. Der war denn auch schon bei seinen ersten Untersuchungen fündig geworden. Er hatte herausgefunden, daß die gesamte Spitze der Zivil-Polizei im Staat Rio de Janeiro korrupt war. Er legte nach seinen eigenen Angaben den entsprechenden Bericht mit Belegen usw. bei einem kurzen Gespräch mit dem Gouverneur auf dessen Tisch.

Am nächsten Tag war die Story in allen Zeitungen und im Fernsehen. Die betroffenen Polizeioffiziere waren vorgewarnt, um eventuelle Beweise verschwinden lassen zu können. Der Sicherheitsexperte bekam Morddrohungen für sich und seine Familie. Er wurde kurz danach vom Gouverneur entlassen und mußte mit der Familie in die USA fliehen, um sein Leben und seine Familie zu schützen. Von den im Bericht genannten Offizieren (alle in den Rängen von Obersten und höher) wurden zwei versetzt, alle blieben im Amt und ansonsten betrieben sie weiter ihre „enge Zusammenarbeit" mit den Verbrecherbanden. Die Zivil-Polizei ist in Brasilien jener Teil der Polizei, der für Ermittlungen und Vorbereitung von Anklagen zuständig ist, also die entscheidende Stelle, bei der man sich gegen eventuelle staatliche Verfolgung versichern kann.

Die nächste Großtat des Gouverneurs folgte kurze Zeit später. Es war gerade ein völlig neues Hochsicherheits-Gefängnis in Rio fertiggestellt worden, nach den modernsten Erkenntnissen des Umganges mit Schwerst-Kriminellen. Hier würden also die bereits Verurteilten mittleren Chargen der Mafia-Banden einsitzen müssen und auch zukünftig Verurteilte hineinkommen - dazu gehörte u.a. der oben schon erwähnte Verbrecher mit dem Spitznamen Beira-Mar.

Favela in Belo Horizonte

Laut Angaben der ‚Folha de São Paulo’, der größten Tageszeitung Brasiliens, wurden alle wesentlichen Sicherheitseinrichtungen des Gefängnisses mit dem Namen ‚Bangu 1’ nach der Übergabe des Baus an die lokalen Behörden außer Kraft gesetzt und abgebaut, noch bevor es eingeweiht wurde. Alle Türen und Absperrungen wurden entfernt, die sicherstellen sollten, daß es zwischen Häftlingen und Aufsehern wie auch zwischen Häftlingen und Besuchern - wie auch Anwälten - zu keinem physischen Kontakt kommen könnte. Ebenso wurde das gesamte Überwachungssystem mit Kameras usw. nie benutzt. Das Gefängnis wurde also so betrieben wie alle anderen Gefängnisse in Brasilien auch.

So hörte man denn auch schon kurz nach der Einweihung davon, daß die Insassen, soweit sie Sergeanten der Drogen-Banden in den Favelas gewesen waren, von dort aus per Handy ihre ‚Geschäfte’ weiter führten. Abgehörte Telefongespräche belegten, daß sie ungehindert Mordaufträge per Telefon gaben und ähnliches. Später bekam man sogar ein Video zu sehen, daß nach des Gouverneurs eigenen Angaben von Häftlingen erstellt wurde (man stelle sich vor, es konnten Video-Kameras in die Gefängnisse und die fertigen Videos herausgeschmuggelt werden), indem man sah, daß während der Zeit der Zellenöffnungen (alle Häftlinge konnten im Gefängnis herumlaufen, sich ungehindert miteinander verständigen) offen Rauschgift angeboten und verkauft wurde.

Doch damit waren die sehr speziellen Vorlieben dieses Gouverneurs noch keineswegs erschöpft. Er liebte es auch, sich mit Gestalten aus der Unterwelt zu umgeben. Er berief zum Sportminister von Rio de Janeiro einen Politiker, der bereits mehrmals aufgefallen war, weil er engste Beziehungen zu den Chefs der Terrorbanden in der Favela Mangueira hatte. Er besuchte z.B. den Boss der Mangueira-Bande regelmäßig im Gefängnis, als dieser verurteilt war. Nach Absitzen seiner Strafe durfte dieser Drogen-Unter-Boss dann sogar ein Amt in der Aufsicht des Maracanã-Stadions einnehmen, in das ihn sein Freund, der Sportminister, berufen hatte (Die Favela Mangueira liegt gleich neben dem Maracanã-Stadion).

Kaum glaublich war auch der nächste Skandal, der sich abspielte. Es war eine neue Direktorin berufen worden in genau jenes Spezialgefängnis, das oben bereits erwähnt wurde. Diese Frau war offenbar ziemlich unerschrocken und pflichtbewusst und wohl auch nicht bestechlich - bezeichnend, daß für so etwas anscheinend immer eine Frau kommen muß, die Herren der Schöpfung scheinen generell nicht unbedingt die Mutigsten zu sein. Jedenfalls ordnete sie an, daß ein Teil der speziellen Sicherheitsmaßnahmen des Gefängnisses wieder eingeführt wurden und auch spezielle Restriktionen für den Anwaltskontakt.

Dazu muß man wissen, daß diese Drogenbanden-Unter-Bosse mit ganzen Horden von Anwälten arbeiten. Der oben genannte Beira-Mar z.B. beschäftigte 14 Anwälte nur für sich. So hat er täglich Besuch von einem oder mehreren Anwälten (Es wäre übrigens leicht, anhand der Bezahlung dieser Anwälte den Weg zurück zu den Geldquellen der Verbrecherbanden und eventuell zu höheren Chargen zu verfolgen, aber das wurde noch nicht einmal versucht.). Besagte Gefängnisdirektorin beschränkte nun die Zahl der Anwaltsbesuche pro Woche und ließ auch die Gespräche mit den Anwälten abhören. Allerdings begann sie bereits mit dem Abhören, als der zuständige Richter dies noch gar nicht genehmigt hatte. Sie staunte nicht schlecht, als sie eines der Anwaltsgespräche abhörte. Der Häftling und der Anwalt sprachen die Einzelheiten ihrer (der Direktorin) Ermordung ab! Das entsprechende Band leitete die Direktorin direkt an den Gouverneur Garotinho und bat um speziellen Schutz.

Der erklärte daraufhin, er könne nicht aktiv werden, denn die Abhöraktion sei illegal gewesen. Wenige Tage später wurde die Direktorin erschossen aufgefunden. Sie war genau auf die Art ermordet worden, wie es auf dem Tonband vereinbart worden war. Der Gouverneur sagte, er habe mit den Ermittlungen zu diesem Mord nichts zu tun. Bis heute wurde angeblich nicht aufgeklärt, wer diesen Mord in Auftrag gegeben hatte, obwohl es jeder weiß.

Charakteristisch, daß dies zwar für drei Tage auf der Titelseite der Zeitungen und am Anfang der Nachrichten im Fernsehen kam, aber dann abrupt fallengelassen wurde und der nächste Skandal berichtet wurde. Alle diese Skandale werden von den Medien nicht verfolgt. Es werden keine Aufklärungen verlangt, nicht darauf gedrungen, daß die Parlamente, Staatsanwälte und die Polizei untersuchen. Die anfängliche Erklärung, es werde alles brutalstmöglich aufgeklärt, wird für bare Münze genommen und dann nicht mehr nach der Aufklärung gefragt (das kennen wir gut aus Deutschland, Roland Koch läßt grüßen).

Das ist auch verständlich, denn die Medien sind ja eben in den Händen genau jener Superreichen Brasiliens, aus deren Kreisen die Hintermänner kommen. Die Medien kochen einen Skandal nach dem anderen hoch, in schneller Abfolge, so daß die einzelnen schnell dem Vergessen anheim fallen. So wird die Öffentlichkeit scheinbar informiert, doch in Wirklichkeit nur unterhalten, im Endeffekt düpiert.

Ebenso charakteristisch, daß diese Art von Skandalen in den Wahlkämpfen von den gegnerischen Kandidaten nicht benutzt wird, um diese Kandidaten anzugreifen. Die Krähen hacken einander...

Interessant, daß genau dieser Politiker Garotinho bei der ersten Runde der letzten Präsidentenwahlen in Brasilien auf den dritten Platz kam – nach Lula und dem konservativen Politiker Serra, den er dann im zweiten Wahgang schlug. Auffallend, daß er in ‚seinem’ Staat Rio de Janeiro über 70% der Stimmen bekam, ein kaum glaubwürdiges Ergebnis. Es besteht, nicht zuletzt auch aufgrund der späteren Wahlen auf kommunaler und Landesebene, der starke Verdacht, daß in Rio de Janeiro massiv Wahlen gefälscht werden.

Es werden die gleichen Wahlmaschinen wie in den USA verwendet, von denen bereits bewiesen ist, daß sie manipuliert werden können. Bei den Wahlen der Landtagsabgeordneten in Rio hatten eine Anzahl von Kandidaten bei den Zwischenergebnissen bereits eine höhere Stimmenzahl, als ihnen am Ende zugesprochen wurden.

Wie auch in den USA, gibt es bei diesen Maschinen außerhalb des elektronischen Gedächtnisses keine Dokumentation auf Papier, was ein Nachzählen unmöglich macht.

Dies waren einige Eindrücke von den Zuständen, die bereits den Anfang der kapitalistischen Barbarei kennzeichnen, auf die wir auch in Deutschland zusteuern, wenn wir nicht vorher den echten Sozialismus errichten.


Hier der letzte Artikel aus Elmar Gettos Brasilien-Reihe, die inzwischen schon vielfach zitiert wird. Dieser Artikel wurde am 6. Februar 2006 in der "Berliner Umschau" veröffentlicht. Die anderen Teile kann man hier im Blog ebenfalls finden.

Anmerkung von Karl Weiss vom 30. September 2006:
Der oben angesprochene Politiker Garotinho ist inzwischen soweit desavouiert, daß er Statthalter auf den Gouverneursposten von Rio de Janeiro schicken muß. Zuerst ließ er seine Frau (Rosinha) zum Gouverneur wählen, jetzt kandidiert ein anderer Strohmann, eingewisser Cabral, für ihn - und steht an erster Stelle der Umfragen für die morgigen Wahlen. Man sieht ihn auf Plakaten hier in Rio de Janeiro zusammen mit dem oben bereits erwähnten Sportminister, der auf den Künstlernamen "Chiquinho da Mangueira" hört. Der kandidiert nämlich als Bundestagsabgeordneter. Damit wird deutlich, daß nicht nur Oligarchen aus Posten der Politik die kriminellen Organisationen schützen, sondern auch die kriminellen Banden direkt in die Politik eindringen.


Hier die Links zu allen Teilen der Reihe „Brasilien jenseits von Fussball und Samba“

- Teil 1: „Wie der Amazonas zu seinem Namen kam“

- Teil 2: ‚Menschenfresser-Country’

- Teil 3: „Ausgerottete Künstler“

- Teil 4: Niemeyer ist 100 – ‚Auf dem Höhepunkt des Schaffens’

- Teil 5: Brasilien und Gold

- Teil 6: Die Landschaften Brasiliens – Der Amazonas-Regenwald

- Teil 7: Brasilien und der Strom

- Teil 8: Die Landschaften Brasiliens – Mata Atlântica

- Teil 9: Santos Dumont und der erste Motorflug

- Teil 10: SIVAM – Big Brother in Amazonien

- Teil 11: Sprit aus nachwachsenden Rohstoffen

- Teil 12: Regenwaldvernichtung und Trockenheit im Amazonasgebiet

- Teil 13: Wie unsere Zukunft in der beginnenden kapitalistischen Barbarei aussähe – „Ich habe kein Leben“

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