Brasilien

Dienstag, 12. August 2008

Brasilien: Die Insel der Glückseligen?

Kommt aus Brasilien der Todesstoss für die Menschheit?

Von Karl Weiss

Während sich in vielen Ländern die Hiobsbotschaften überschlagen, die Industrieumsätze schrumpfen, der Konsum zusammenschrumpelt, die Arbeitslosigkeit ausbreitet, die Immobilienpreise zusammenfallen und gleichzeitig massive Preiserhöhungen bei Lebensmitteln und bei der Energie die Bürger kasteien, scheint Brasilien so etwas wie die Insel der Glückseligen zu sein.

Brasilien (topographisch)

Ein kräftiges Wirtschaftswachstum, das höchste seit drei Jahrzehnten, wird vom privaten und industriellen Inlandskonsum getragen, der wiederum auf einem deutlich gesteigerten Kreditvolumen beruht. Die Immobilienpreise steigen, der Autoabsatz boomt, die Lebensmittelpreissteigerungen sind geringer als anderswo und Benzin und Alkohol als Kraftstoffe sind kaum im Preis gestiegen.

Die International Herald Tribune schreibt in einem Artikel auf der Titelseite über Brasilien, das Land habe "überbordende Hoffnungen".

Tatsächlich sinkt die Zahl der Armen und der im Elend lebenden in Brasilien, nicht gewaltig, aber sie sinkt. Die expandierende Wirtschaft braucht mehr Arbeitskräfte, offizielle und inoffizielle Arbeitsplätze öffnen sich.

Der offizielle Mindestlohn, der allerdings keineswegs überall gezahlt wird, wurde drei Jahre in Folge deutlich über der Inflation erhöht und hat heute mit 415 Reais (etwa 170 Euro) den höchsten Stand in der Geschichte erreicht (in Dollar umgerechnet).

Bush und Lula in Brasilien

Präsident Lulas Anti-Hunger-Programm „Bolsa familia“ (Familien-Stipendium) funktioniert für Millionen im Land, wenn auch nicht überall. Pro Kopf erhält die arme Familie 60 Reais (etwa 20 bis 25 Euro) pro Monat. Das bekämpft den Hunger in deutlichem Masse, jedenfalls dort, wo das Geld bei den Bedürftigen ankommt. Lulas Popularität ist ungebrochen.

Der Real hat den höchsten Stand gegenüber dem Dollar seit der Mega-Abwertung unter Präsident Cardoso im Januar 1999 ereicht. Das bremst zwar die Exporte, aber die brechen trotzdem weiterhin Rekorde. Auf der anderen Seite verhindert das aber auch eine Inflation durch die stark gestiegenen Importe. Die hohe wirtschaftliche Aktivität erfordert deutliche Ausweitungs-Investitionen, die viel Geld kosten und zum grossem Teil importiert werden müssen. So verdoppelt zum Beispiel im Moment Fiat die Kapazität seiner Autofabrik im Grossraum Belo Horizonte annähernd, siehe hier. Das erfordert auch massive Investitionen bei hunderten von Zulieferern. Viele von diesen Maschinen- und Ausrüstungsinvestitionen gehen an deutsche Firmen.

Neben dem Mindestlohn und der ‚bolsa familia’ hat vor allem eine erleichterte Kreditvergabe zum Anstieg des Konsums beigetragen. In Brasilien waren bezahlbare Kreditkonditionen seit Jahrzehnten selten bis gar nicht zu haben. Der offizielle Zentralbank-Zinssatz, also der, zu dem sich die Banken refinanzieren können – der in den USA im Moment bei 2% liegt und in der EU zwischen drei und vier Prozent – ist in Brasilien momentan auf annähernd 13% festgelegt, der höchste Satz in der Welt.

Für Konsumentenkredite von den Banken ergibt das Werte von 25 bis 50 % Zinsen jährlich, da kann sich jeder ausrechnen, wie schwierig da jede Anschaffung wird. Muss man sein Konto überziehen oder seine Kreditkartenrechnung auf mehrere Monate verteilen, zahlt man bis zu 150% Zinsen!

Zuckerhut von der Botafogo-Bucht aus

Allerdings gibt es vom Staat gesponsorte Hypothekenkredite für Häuslebauer und Käufer von Eigentumswohnungen. Da kommt man auf etwa 13 % jährlich. Diese Kredite waren aber bisher mit relativ kurzen Laufzeiten versehen.

Nun haben die Banken in letzter Zeit begonen, diese Laufzeiten zu verlängern. Damit wurde die Bautätigkeit deutlich belebt, denn im Endeffekt kommt es ja für den Konsumenten auf die Höhe der Monatsraten an. Gleichzeitig zogen auch die Immobilienpreise an. Ein Bekannter des Berichterstatters konnte eine Eigentumswohnung, die er vor zwei Jahren für 80 000 Reais erstanden hatte, nach eineinhalb Jahren für 113 000 Reais verkaufen.

Es werden in beträchtlichem Masse einfache und kleine Eigentumswohnungen gebaut. Man stelle sich vor, hier in Belo Horizonte hat ein Bauträger 3-Zimmer-Winzwohnungen in ungünstiger Lage für eine Monatsrate von 99 Reais angeboten (etwa 40 Euro). Wer will da noch in Miete leben?

Auch die Autofirmen haben sich billigeres Geld im Ausland beschafft und boten den Käufern von Neuwagen Kredite an, die ebenfalls auf etwa 13% Zinsen im Jahr hinauslaufen. Auch die Banken der Autofirmen bzw. jene, mit denen diese zusammenarbeiten, sind vor zwei Jahren auf die Idee gekommen, die Laufzeiten für Autokredite, die nie mehr als drei Jahre betrugen, auf vier, fünf, sechs und sogar sieben Jahre auszuweiten.



Das senkt die Monatsraten und führte zu einem Boom von Autokäufen, was die ganze Wirtschaft ankurbelte. Ein anderer Bekannter des Berichterstatters konnte daher auch einen neuen VW Gol kaufen und die Raten auf 5 Jahre verteilen, siehe diesen Artikel dazu.

Auch die Einzelhandelsfirmen, die Elektro-Elektronik-Artikel verkaufen, erleichterten das Kaufen auf Pump: Wer eine Kreditkarte hat – und damit als relativ solide gilt – kann in der Regel den Kaufpreis auf 12 Monate verteilen, wobei die Zinsen bereits im Verkaufspreis eingerechnet sind. „Alles in zwölf mal ohne Zinsen auf Karte“ ist der Werbespruch der Aktualität in Brasilien. Auch das führte zu einem Absatz-Anstieg, z. B von Fernsehern mit grösserem Bildschirm oder LCD-Fernsehern, von Foto-Handys, von Laptops usw., aber auch Kabelfernsehanschluss, Internet-Breitbandanschluss und ähnliches können sich jetzt mehr leisten. Manche Familien können sich zum ersten Mal eine Waschmaschine kaufen. Die Kreditmenge in Brasilien, die vorher weit unter den Werten anderer Länder lag, hat sich mehr als vervierfacht.

Da aber auch die Zahl der Arbeitsplätze gestiegen ist und in einigen Branchen echte Lohnerhöhungen vereinbart wurden – wie auch im Staatsdienst nach langen Jahren wieder -, hat dieses gestiegene Kreditvolumen – bisher jedenfalls – noch nicht dazu geführt, dass der Prozentsatz geplatzter Kredite angestiegen wäre.

Während also andere Länder in die Wirtschaftskrise rutschen oder schon drin sind, scheint sich Brasilien am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen – auch die Wachstumsrate von Indien beruht auf internem Konsum, nur in untergeordneter Weise auf Exporten. Das funktioniert natürlich nur, wenn ein grosser Nachholbedarf entsteht, so wie auch beim deutschen Wirtschaftswunder in den 50er- und 60er Jahren. Der USA steht dieses Mittel nicht zur Verfügung, denn dort war bereits ein wesentlicher Teil der Bevölkerung auf einem hohem Niveau des Konsums.

Die Lebensmittelpreiserhöhungen kamen auch in Brasilien an, aber in deutlich geringerem Masse als in anderen Ländern, weil man nur begrenzt Lebensmittel einführt, sondern den grössten Teil im eigenen Land herstellt.

Treibstoffpreise Brasilien
Treibstoffpreise Brasilien Juli 08
Hier der Vergleich der Treibstoffpreise an der gleichen Tankstelle (eine der billigen freien). Im oberen Bild aufgenommen im Juli 2007, im unteren im Juli 2008. Man sieht, die Preise für Benzin (Gasolina) und Alkohol (Álcool) sind im gleichen Bereich (stiegen jetzt im August auch etwas), nur der Dieselpreis hat sich drastisch erhöht. Zum Vergleich: Die Preise aus 2007, die heute in etwa wieder die gleichen sind, ergeben umgerechnet 0,88 Euro für Benzin und 0,54 Euro für Alkohol (Die Bezeichnung comum heisst "normal")

Auch die Benzinpreissteigerungen sind hier nicht oder jedenfalls weit geringer angekommen als in anderen Ländern. Das hat einen einfachen Grund: Hier herrschen nicht die Ölmultis, sondern die halbstaatliche Petrobras, in der immer noch die Regierung das sagen hat. Lula liess die Petrobras seit 2005 keine Benzinpreiserhöhungen mehr durchführen bzw. konterkarierte Erhöhungen mit Steuersenkungen und so scheint in dieser Hinsicht wirklich eine Art von Insel der Glückseligen zu bestehen. Die Alkoholpreise müssen sich an den Benzinpreisen orientieren, sonst wechseln die Leute wieder zurück zum Benzin, steigen also auch nicht. Die Autos, die sich heute verkaufen, sind durchweg "flex", d.h. sie vertragen Benzin und Alkohol und jede Mischung davon.

Allerdings: Dies gilt gilt nicht für Diesel. Das ist, so wie in anderen Ländern, teurer geworden, und zwar kräftig. Allerdings gibt es in Brasilien keine Pkw mit Dieselmotor. Durch die Diesel-Preiserhöhungen wird aber der ganze Transport teurer (es gibt ja fast keine Eisenbahnen) und die Inflation angeheizt.

Indien und Brasilien haben gute Chancen, relativ ungerupft aus der Weltwirtschaftskrise hervorzugehen, während China wohl deutlich von ihr betroffen sein wird, denn seine Exporte werden schwere Einbrüche erleben und die Dollarreserven werden an Wert verlieren.

In Brasilien gibt es aber noch weitere günstige Umstände: Es ist das Land mit den grössten Eisenerz-Exporten und Eisenerz ist in den letzten Jahren über 150% im Preis gestiegen. In Zukunft wird aber Stahl und Stahlhalbzeug einen ständig steigenden Teil des Exports ausmachen.

Es sind nämlich riesige Stahlwerke im Bau in Brasilien: Hier im Bundeststaat Minas Gerais ist es das Stahlwerk Usiminas, das noch in brasilianischem Streubesitz ist, das seine Kapazität fast verdoppeln wird, während im Staat Rio de Janeiro gleich hinter der Rio-Stadtgrenze unmittelbar nebeneinander im Hafen von Sepetiba zwei neue Stahlwerke gebaut werden, jedes von ihnen mit Investitionen im Endausbau von etwa 9 Milliarden Dollar, eines von der deutschen Thyssen-Krupp, das andere von der einheimischen CSN. Beide werden im Endausbau an die 10 000 Menschen beschäftigen.

Diese beiden zukünftigen Verbraucher von Eisenerz sind so gewaltig, dass man im Moment ernsthaft erwägt, ein Förderband von etwa 450 km Länge von hier aus der Region Belo Horizonte, wo die grossen Eisenerzlager sind, zur Küste nach Rio de Janeiro zu bauen.

Der zweite Rohstoff, den man zur Stahlherstellung braucht, die Kohle, wird dort direkt von Schiffen aus dem billigsten Anbieterland angeliefert.

Logo Petrobras

Aber das ist noch nicht alles: Zusätzlich hat die halbstaatliche brasilianische Ölgesellschaft Petrobras vor der brasilianischen Küste bedeutende Felder von Erdgas und Erdöl gefunden, die allerdings unter mehreren tausend Metern Wassertiefe und zusätzlich weiteren Tausenden von Metern Gestein liegen, siehe hierzu auch diesen Artikel.

Erdöl 1

Ein wesentlicher Teil dieses Öls und Gases wird bis etwa 2015, 2020 gefördert werden können, dazu auch das Öl aus einem kleineren Feld in flacherem Wasser, das aber eine hochbezahlte leichte Sorte ist. Diese Funde liegen im wesentlichen im Meer vor der Küste von Rio de Janeiro.

Wenn Rio sich demnächst um die Olympischen Spiele 2016 bewerben wird – und das hat man ernsthaft vor -, dann wird für jenes Jahr eine vollkommen verschiedene Stadt Kandidat sein als jenes Rio de Janeiro, in dem der Berichterstatter in den ersten Jahren des Jahrtausends lebte. Statt der Welthauptstadt der Kriminalität und des Sex-Tourismus, blendend schön, aber auch abgrundtief hässlich, wird sich dann eine der grossen Weltmetropolen des Erdöls und der Stahlindstrie präsentieren.

Rio de Janeiro, Zuckerhut und Corcovado von Niteroi aus

Brasilien wird dann ein beachtlicher Spieler im Karussel der Ölhersteller und –exporteure sein. Neben den beträchtlichen Einnahmen aus dem Verkauf von Eisenerz, Stahl und Stahlhalbzeug wird man dann auch jene aus dem Verkauf von Erdgas, Rohöl und dessen Produkten haben, ähnlich dem heutigen Russland.
In Planung sind auch zwei riesige neue Raffinerien zur Verarbeitung des Ölreichtums.

Doch das Wort von der Insel der Glückseligen ist trotzdem nicht angebracht. Brasilien hat alle jene hässlichen und unangenehmen Seiten nicht verloren, die einen hier oft fast verzweifeln lassen. Es ist weiterhin ein Land der extremen Ungleichheiten, denn die Reichen und Superreichen profitieren von diesem Boom natürlich weit stärker als das einfache Volk, ist weiterhin das Land der korrupten Politiker, ist weiterhin nicht einmal ansatzweise eine Demokratie, sondern wird von einer korrupten Oligarchie regiert, hat weiterhin kein akzeptables Fernsehprogramm (das hat es mit Deutschland gemein), die Löhne sind weiterhin zu niedrig, das Gesundheitswesen ist weiterhin ein einziges Desaster, die Polizei ist genau so gefährlich wie die Kriminellen, das Schul-, Hochschul- und Erziehungssystem ist katastrophal schlecht – und das zunehmend -, auch wenn es dort gute Nischen gibt, die Lehrer werden weiter bezahlt, dass es eine Schande ist, das Justizsystem ist eine Lachplatte, in den ländlichen Bereichen herrschen weiterhin die Grossgrundbesitzer wie Götter, werden Kleinbauern vertrieben, wird beliebig gemordet und das Land gestohlen.

Weiterhin ist Brasilien eine Doppelherrschaft der Regierung einerseits und von Verbrecherbanden und kriminellen Organisationen auf der anderen, die ganze Gebiete beherrschen, vor allem in den Grossstädten und die Regierung zu Vereinbarungen und Stillhalteabkommen zu zwingen verstehen.

Regenwald-Abholzung Brasilien

Vor allem aber vernichtet Brasilien den Amazonas-Regenwald, ungebremst und sogar zunehmend, ohne dass irgendwelche ernsthaften Massnahmen dagegen unternommen werden, weil die Politik nichts unternehmen will, auch gar nicht kann, denn sie kann nicht gegen die Oligarchie regieren. Die müsste zuerst abgelöst werden, aber das will die Politik nicht, im Gegenteil, die Politik ist eben gerade im wesentlichen die Oligarchie.

Brasilien: Soja-Pflanzungen auf Regenwald-Gelände

Diese Regenwaldvernichtung wird, wenn sie nicht gebremst wird, in absehbarer Zeit zur Versteppung oder sogar Verwüstung des ganzen Amazonasgebietes führen und dies wird die bereits beginnende Klimakatastrophe so beschleunigen, dass es kein zurück mehr geben wird. Das Ende der Menschheit, wie wir sie kennen, wird dann abzusehen sein.

Globale Erwärmung

So kann es sein, dass gerade die scheinbare „Insel der Glückseligen“ den entscheidenden Anstoss zum Ende der Menschheit gibt, wie wir sie kennen. Es wird höchste Zeit, dass wir diesem System den Garaus machen!


Veröffentlicht am 12. August 2008 in der Berliner Umschau


Originalveröffentlichung

Sonntag, 10. August 2008

Brasilien jenseits von Fussball und Samba, Teil 7: Brasilien und der Strom

Teil 7: Brasilien und der Strom oder Wie (ein Teil der) Ausbeutung der Entwicklungsländer funktioniert

Von Elmar Getto

Brasilien ist das Land mit der bei weitem größten Süßwassermenge auf der Erde. Dementsprechend wurde schon früh begonnen, die benötigte Elektrizität aus Wasserkraft zu gewinnen. Das Großprojekt des Itaipú-Dammes war auch in Deutschland bekannt geworden, weil da Siemens und die MTU das zur Zeit der Fertigstellung im Jahre 1994 größte Wasserkraftwerk der Welt mit insgesamt 24 Riesenturbinen bauten. Heute kommt etwa 70% des benötigten Stromes in Brasilien aus Staudammprojekten, nach anderer Quelle 85%.

Strom aus Wasserkraft ist billiger als der thermoelektrischer Kraftwerke, weil diese Wasserkraftwerke trotz der riesigen Investitionen kaum Kosten für die eigentliche Stromerzeugung verursachen, denn das Wasser wird von der Sonne immer wieder umsonst nach oberhalb des Stausees gefördert. Zwar sind nach der Berechnungsweise in Europa die Atomkraftwerke noch billiger, aber diese Rechnung geht ja nur auf, weil man die Kosten der Entsorgung des strahlenden Materials nicht den Betreiber zahlen läßt, sondern den Steuerzahler.

So sehr die großen Stauseen von Umweltschützern immer wieder kritisiert werden, weil sie oft zur Ausrottung von Arten beitragen, schien Brasilien doch relativ gut weggekommen zu sein mit seinen relativ niedrigen Energiekosten.

Allerdings muß man hier eine starke Einschränkung machen: Ein wesentlicher Teil des Vorteils durch die niedrigen Kosten wird wieder aufgefressen, weil für die Investitionen Kredite bei der Weltbank und anderen Finanzinstitutionen aufgenommen werden mußten. Siemens und MTU haben das Kraftwerk natürlich nicht umsonst gebaut, sondern kräftig daran verdient und auch die deutsche Bundesregierung hat keineswegs einen Teil davon als ‚Entwicklungshilfe’ gezahlt. Die damals aufgenommenen Schulden bestehen vielmehr weiterhin (auch wenn die Schulden manchmal ‚umgeschichtet’ werden, verringern sie sich doch nicht) und Brasilien zahlt horrende Zinsen jedes Jahr – für 2004 wird geschätzt, daß Brasilien in etwa 70 Milliarden Dollar (70 Billion of Dollars) nur an Zinsen für seine Schulden gezahlt hat.

Der verbleibende relative Vorteil der Kosten änderte sich, als die imperialistischen Länder neben der Telephonie, der Trinkwasserversorgung und dem Verkehr auch die Elektrizität als ideales Ausbeutungsinstrument der in neokolonialer Abhängigkeit gehaltenen Länder entdeckten.

Zunächst wurde Brasilien in den neunziger Jahren vom Internationalen Währungsfond „angehalten“ (in Wirklichkeit unter Androhung des Staatsbankrotts gezwungen), weite Teile der Elektrizitätswirtschaft zu privatisieren. Man teilte die staatliche Elektrizitätsverwaltung in Unternehmen der Versorgung der Verbraucher, der Stromübermittlung und der Stromerzeugung auf und verkaufte nach und nach den größten Teil ‚für einen Appel und ein Ei’.

Während die Investitionsvolumen der verkauften Unternehmen zusammen mehrere Hundert Milliarden Dollar ausmachten, wurden sie für zusammen nur einige wenige Milliarden Dollar verkauft, also etwa zu einem hundertstel ihres Wertes.

Gleichzeitig wurden in Brasilien – ebenfalls unter ‚sanfter Mithilfe’ des Internationalen Währungsfonds – Regeln eingeführt, die es ausländischen Besitzern von Unternehmen in Brasilien erlauben, anfallende Gewinne ohne weiteres außer Landes zu schaffen.

Drei der „Filetstücke“ der brasilianischen Elektrizitätsversorgung sicherte sich die französische EDF (Eletricité de France). Sie kaufte die ‚Light’, einziger Anbieter von Strom im Staat Rio de Janeiro, dazu ein Unternehmen, das viel von dem in Itaipú erzeugten Strom über weite Teile des Landes verteilt, und noch einen kleineren Stromerzeuger.

Die Verträge, die von der brasilianischen Regierung mit diesen Käufern der Elektrizitätsunternehmen gemacht wurden, sind beeindruckende Beispiele imperialistischer Macht. Sie enthielten keinerlei Verpflichtung für die Elektrizitätsunternehmen, entsprechend dem steigenden Energiebedarf Brasiliens Investitionen vorzunehmen und damit die Versorgung zu sichern und einen festgelegten Mindestteil der Gewinne zu investieren. Sie enthielten Klauseln, die den Unternehmen ständig Gewinne garantieren. Wenn sie keine Gewinne ausweisen, aus welchem Grund auch immer, dürfen sie die Strompreise erhöhen. Sie enthielten keinerlei Klauseln, die den Unternehmen eine korrekte Instandhaltung der Anlagen auferlegt, keine Klauseln, daß sie Strom beim billigsten Anbieter kaufen müssen, kurz, alle Vorteile liegen beim Käufer aus dem imperialistischen Land, alle Nachteile bei der brasilianischen Bevölkerung.

Die brasilianische Regierung rechtfertigte sich, daß man ohne diese günstigen Bedingungen keine Käufer gefunden hätte. Wer dann aber fragte, warum dann überhaupt verkauft wurde, bekam nur Ausflüchte, Aggressionen und Verdrehungen zu hören.

Ausserdem stanken diese Privatisierungen - wie meist - zehn Kilometer gegen den Wind nch Korruption. Da sich angesichts der märchenhaften Bedingungen für den Käufer natürlich die Kandidaten die Tür in die Hand gaben, konnte man als verantwortlicher Politiker natürlich absahnen. Entweder man gab klammheimlich demjenigen, der die höchsten Bestechungssummen zahlte, privilegierte Informationen, die ihn die Ausschreibung gewinnen liessen, oder man manipulierte das Ausschreibungsverfahren so, dass der "erwählte" Kandidat zum Zuge kam.

Ob der damalige Präsident Cardoso persönlich davon profitierte, weiss man nicht. Was man aber weiss: Seit er abgewählt wurde, lebt er in einem Appartment an der Fifth Avenue in New York und nimmt sein Abendessen in einem Restaurant ein, das nach Aussagen eines mit ihm verbündeten Politikers für ein Gläschen Conhaque 200 Dollars berechnet (man stelle sich vor, was die anderen sagen).

Die erste Folgerung aus diesen Verkäufen war die Arbeitslosigkeit Tausender von Brasilianern, die von den neuen Besitzern entlassen wurden. Es stellte sich schnell heraus, daß es sich nicht, wie von der Regierung behauptet, um „überflüssige Bürokratie-Angestellten“ handelte, sondern im wesentlichen um Leute, die Instandhaltung gemacht hatten. Damit war schon klar, daß mangelnde Instandhaltung zu Stromausfällen führen würde – und so kam es.

Während die Brasilianer sich nicht an große ‚Black-outs’ in den Siebziger oder Achtziger Jahren erinnern konnten, begannen diese wenige Jahre nach den Verkäufen zur Regel zu werden. Am Silvestertag 2004 gab es gerade wieder einen größeren Black-Out in den Staaten Espirito Santo und Rio de Janeiro.

Die nächste Folgerung des Verkaufs großer Teile der Elektrizitätswirtschaft an Unternehmen aus imperialistischen Ländern war noch schwerwiegender, es begann die Geschichte des Super-Black-Outs. In den Jahren 1997 und 1998 war die Wirtschaft Brasiliens und die Industrieproduktion gewachsen und verbrauchte nun deutlich mehr Strom (Im Jahr 1998 war Brasilien die zehntgrößte Wirtschaftsnation auf der Erde). Während des Jahres 2000 gab es zwar kein Wirtschaftswachstum mehr, aber der Stromvebrauch stieg immer noch etwas an, hauptsächlich wegen des Bevölkerungswachstums.

Plötzlich gegen Ende des Jahres 2000 erklärte die brasilianische Bundesregierung, es drohe ein Super-Black-Out, d.h. der völlige und unwiderrufliche Zusammenbruch der brasilianischen Stromversorgung, wenn nicht neu in die Elektrizitätswirtschaft investiert würde, um neue Kapazitäten zu schaffen. Hastig wurden Pläne zusammengestöpselt, eine Anzahl von Gaskraftwerken zu bauen (zu diesem Zeitpunkt war gerade der Vertrag mit Bolivien über die Lieferung von Ergas und den Bau einer Pipeline von Bolivien nach Brasilien abgeschlossen worden). Es stellte sich aber schnell heraus, daß das erste dieser Kraftwerke nicht vor 2003 ans Netz gehen würde und das sei viel zu spät.

Während des Jahres 2001 wurde nun der drohende Super-Black-Out zum wichtigsten Nachrichtenthemas Brasiliens. Die Regierung erklärte, es müsse Strom gespart werden, zunächst ohne zu sagen wie. Im Laufe des Jahres wurde es dann aber immer klarer: Die Regierung hatte vor, die Bevölkerung mit drakonischen Maßnahmen zum Stromsparen zu zwingen. Dann kam es heraus: Wer nicht 20% der Kilowattstunden gegenüber dem Schnitt von drei Monaten Anfang 2001 sparte, bekam die Stromversorgung gekappt- zunächst für drei Tage, dann für sechs Tage usw.

Nun wurden die Brasilianer, die sowieso schon Meister im Improvisieren sind, zu Stromsparern. Das meiste ließ sich durch Verkürzen der Zeit unter der Dusche einsparen. In Brasilien gibt es kaum Häuser mit zentralen Warmwassersystemen – es gibt ja auch – bis auf den extremen Süden – keine Heizungen in den Häusern. Gas- und Elektroboiler sind selten, die meisten können sie sich nicht leisten.

So hat man denn in Brasilien die Elektrodusche erfunden: Im Duschkopf wird durch eine Metallspirale Strom in der Größenordnung von 3 000, 4 000 oder 5 000 Watt gejagt. Diese Spirale ist vom Wasser umspült und heizt es auf. Das geht nur, wenn die Spirale nicht isoliert ist, also offen im Wasser liegt, sonst wäre die Wärmeübertragung nicht schnell genug. Klingt abenteuerlich, funktioniert aber: Fast alle der 170 Millionen Brasilianer, die nicht zur Oligarchie gehören, duschen so.

Bald stellte sich aber heraus, daß es schwer ist, das Duschverhalten der Menschen zu ändern. Doch dann sprach sich herum, daß man die 20% auch anders erreichen kann: Zunächst nehme man die Tiefkültruhe/-schrank außer Betrieb, die hat meistens schon 10% vom Verbrauch gefressen. Dann ersetze man alle Glühbirnen durch Fluoreszenz-Birnen (‚Neon-Birnen’), das macht in der Regel weitere 10% aus. So schaffte es tatsächlich die überwiegende Mehrheit der Brasilianer, 20% Strom zu sparen. Wer allerdings keinen Tiefkühlschrank hatte und vorher schon Fluoreszenzbirnen gekauft hatte, sah nun dumm aus: Einige tausend brasilianische Familien mußten sich Stromsperren gefallen lassen. Sogar Familien mit kleinen Kindern wurde unnachsichtig der Strom gesperrt.

Natürlich hätten die Privatisierungen nur dann irgendeinen Sinn ergeben, wenn die neuen Besitzer zu Investitionen verpflichtet worden wären, die für die Stromversorgung Brasiliens notwendig waren. Was aber wirklich geschah: Die ausländischen Eigner der Firmen machten stattdessen gute Gewinne und transferierten sie an die Mutter.

Als besonders schlau erwies sich dabei die französische EDF. Sie kauft in Brasilien mit ihrem Tochterunternehmen ‚Light’ teuren Strom bei ihrem eigenen brasilianischen Stromverteilungsunternehmen zu einem Phantasiepreis, weist Verluste aus und hat so das Recht auf andauernde Preiserhöhungen weit über die Inflation hinaus. Das Geld von der Stromverteilungs-Tochter, die in Profiten schwimmt, fließt zu 100% nach Frankreich. Eben wurde wieder eine außerordentliche Strompreiserhöhung genehmigt – über die jährliche in Höhe der Inflation hinaus. Etwa 5 Millionen Brasilianer zahlen ab Februar 2005 6,3% mehr für den Strom. Die Brasilianer beschweren sich über die immens gestiegenen Strompreise. Für manche Familien stellt die Stromrechnung bereits 10% oder mehr ihrer Ausgaben dar.

Diese Praxis ist besonders empörend, da es, viel näher als die andere EDF-Tochterfirma, im Nachbarstaat Minas Gerais bei der (noch staatlichen) Furnas weit billigeren Strom zu kaufen gibt, der dort aus der Wasserkraft eines riesigen Stausees gewonnen wird. Da Rio de Janeiro nun den Strom von dort nicht mehr abnimmt, hat die Furnas beachtliche Überkapazitäten und produziert Verluste von etwa 8 Milliarden Dollar jährlich, für die der brasilianische Steuerzahler aufkommen muß. Der Brasilianer zahlt also einerseits mehr für seinen Strom und andererseits mehr Steuern, um die Überkapazitäten zu finanzieren.

Diese Tatsachen lassen auch die ganze Story mit dem Super-Black-Out unwahrscheinlich erscheinen, denn 2004 war der brasilianische Stromverbrauch deutlich höher als im Jahre 2001 und es sind noch fast keine neuen Kapazitäten dazugekommen. Das Ganze riecht nach Manipulation.

Im übrigen hatten alle privatisierten Elektrizitätsunternehmen das Anrecht, die Mindereinnahmen, die durch den tatsächlich in 2001 zurückgegangenen Stromverbrauch entstanden waren, vollständig vom brasilianischen Staat ersetzt zu bekommen.

Nach Schätzungen einer brasilianischen Zeitung zieht die Eletricité de France im Moment aus ihren brasilianischen Unternehmen JÄHRLICH in etwa soviel Geld heraus, wie sie der Kauf insgesamt gekostet hat. Profite von 100% der Investitionssume jährlich – das sind die tatsächlichen Verhältnisse.

Heute sind die Strompreise in Brasilien in etwa so hoch wie in anderen Teilen der Welt. Der ganze Vorteil der niedrigen Kosten aufgrund der Wasserkraft-Struktur fließt zu Konzernen in imperialistischen Ländern.

Falls Brasilien irgendwann einmal auf die Idee käme, seine Elektrizitätsversorgung wiederhaben zu wollen – was keineswegs abwegig ist -, müßte es natürlich zunächst Abfindungen zahlen – zumindest in der Höhe des Kaufpreises plus Inflationsanpassung plus Zinsen. Dann bekäme es ein heruntergekommenes Netz, schrottreife Kraftwerke und überlastete Umspannstationen zurück und müßte alles in riesigen Investitionen wieder auf Vordermann bringen.

Hier bekommt man einen deutlichen Eindruck, wie (ein Teil der) Ausbeutung der in neokolonialer Abhängigkeit gehaltenen Länder funktioniert.

Der von bestimmten Medien und von den Faschisten in Deutschland verbreitete Eindruck, die Entwicklungsländer würden Unmengen an Entwicklungshilfe erhalten und so gewissermassen die deutsche Bevölkerung ausbeuten, ist nichts als ein Ammenmärchen. Was da wirklich an ‚Entwicklungshilfe’ läuft – ganz abgesehen von der Fragwürdigkeit vieler Projekte – kommt nicht einmal auf 1% von dem, was von Banken, Konzernen, Spekulanten und - im geringsten Maße – Staaten aus diesen herausgesaugt wird.

Auch die immer wieder gerne verbreitete These, das Volk in den imperialistischen Staaten sei in irgendeiner Weise an der Ausbeutung der Entwicklungsländer beteiligt oder würde davon profitieren, wird hierdurch eindeutig widerlegt. Es sind die Großkonzerne, Multi-Milliardäre und Großbanken, an die am Ende alles geht.

Heute der 7. Teil der Brasilien-Reihe von Elmar Getto. Der Artikel erschien ursprüglich am 10. Februar 2005 in "Rbi-aktuell", hier leicht vom Verfasser redigiert


Hier die Links zu allen Teilen der Reihe „Brasilien jenseits von Fussball und Samba“

- Teil 1: „Wie der Amazonas zu seinem Namen kam“

- Teil 2: ‚Menschenfresser-Country’

- Teil 3: „Ausgerottete Künstler“

- Teil 4: Niemeyer ist 100 – ‚Auf dem Höhepunkt des Schaffens’

- Teil 5: Brasilien und Gold

- Teil 6: Die Landschaften Brasiliens – Der Amazonas-Regenwald

- Teil 7: Brasilien und der Strom

- Teil 8: Die Landschaften Brasiliens – Mata Atlântica

- Teil 9: Santos Dumont und der erste Motorflug

- Teil 10: SIVAM – Big Brother in Amazonien

- Teil 11: Sprit aus nachwachsenden Rohstoffen

- Teil 12: Regenwaldvernichtung und Trockenheit im Amazonasgebiet

- Teil 13: Wie unsere Zukunft in der beginnenden kapitalistischen Barbarei aussähe – „Ich habe kein Leben“

Montag, 4. August 2008

Brasilien jenseits von Fussball und Samba, Teil 6: Die Landschaften Brasiliens - Der Amazonas-Regenwald

Teil 6: Die Landschaften Brasiliens: Der Amazonas-Regenwald

Von Elmar Getto

Es irrt, wer sich ganz Brasilien als einen Dschungel vorstellt, den Dschungel Amazoniens und den Dschungel der Großstädte. Zwar ist die Regenwald-Landschaft des Amazonasgebietes wirklich das größte zusammenhängende Urwaldgebiet der Erde und nimmt mehr als 50% der Fläche Brasiliens ein und die Großstädte wie São Paulo und Rio de Janeiro sind wirklich städtischer Dschungel, aber Brasilien hat noch 8 weitere Landschaftstypen zu bieten: Mata dos Cocais, Cerrado, Caatinga, Floresta tropical, Pantanal, Mata das Araucárias, Campos Gerais und Mangues litoráneos.

Regenwald

Aber langsam, fangen wir am Anfang an. Brasilien ist ein Land von kontinentalen Ausmaßen, mit der fünftgrößten Flächenausdehnung (etwa 8,5 Millionen Quadratkilometer) nach Rußland, Kanada, China und den Vereinigten Staaten, deutlich größer als Australien und Indien. Es ist das größte Land der Südhalbkugel, auch wenn man nur den Teil südlich des Äquators zählt. Es ist das einzige Land der Erde, durch das sich sowohl der Äquator als auch einer der Wendekreise zieht (in diesem Fall der Wendekreis des Steinbocks).

Das Amazonasgebiet im weiteren Sinne in Brasilien nimmt etwa 5,5 Millionen Quadratkilometer ein, also deutlich mehr als die Hälfte der brasilianischen Gesamtfläche, davon sind etwa 60% (3,3 Millionen Quadratkilometer) – noch – mit Regenwald bedeckt. Dabei handelt es sich bei diesen Regenwäldern aber keineswegs um eine einheitliche Landschaft.

Brasilien (topographisch)

Der überwiegende Teil der dortigen Regenwälder sind Überschwemmungs-Regenwälder, d.h. sie stehen einen Teil des Jahres (in der Hochwassersaison – das ist meist um den August herum) unter Wasser. Dieser Typ des Regenwaldes ist weitgehend ohne Unterholz, also kein „Dschungel“, weil ja hier auf dem Boden nur Pflanzen überleben können, die es schaffen, innerhalb eines Jahres (oder mit etwas Glück innerhalb von zwei Jahren) so hoch zu wachsen , daß sie bereits eine monatelange Überschwemmungsperiode überstehen. Dabei handelt es sich fast ausschließlich um Bäume. Der Besucher einer der Urwald-Lodges im Bereich der Großstadt Manaus kann also bequem im Regenwald spazieren gehen und Ausschau nach Äffchen oder nach den beliebten eßtellergroßen Spinnen (Vogelspinnen) halten.

Die sind völlig harmlos und giftfrei, können allerdings beißen. Der Führer läßt schon einmal eine auf seinem Arm laufen. Neben diesen kurzweiligen Urwaldspaziergängen bietet man dort auch das morgendliche Piranhas-Fischen an – als Köder verwendet man erstklassiges Rindfleisch. Zum Mittagessen werden dann die gefangenen Piranhas gegrillt (War das nicht umgekehrt, daß die Piranhas uns fressen? Verkehrte Welt! Außerdem hätte das Rindfleisch besser geschmeckt, bevor es durch den Magen der Piranhas ging).

Abends fährt man mit einem Boot Krokodile fangen. Genau gesagt sind es Kaimane (Jacaré) und es ist der Führer, der sie packt. Das ist nicht ganz so schwer und gefährlich, wie man es sich vorstellt, denn die verharren ganz still, geblendet von den hellen Taschenlampen – aber wehe, wenn sie einen Moment aus dem Lichtkegel kommen. Zu finden sind sie auch leicht, denn ihr Augen reflektieren den Lampenschein. Der Führer greift sich natürlich nicht gerade die 2 oder 3 Meter langen Exemplare, sondern die von 1 m oder kleiner. Er bringt sie ins Boot und dann gibt es Photo—Session.

Die männlichen Touristen dürfen ihre Furchtlosigkeit beweisen, reihum das Untier halten und sich photographieren lassen. Blitzlicht nicht vergessen! „Eine Hand am Kopfansatz, eine am Schwanzansatz, vom Körper weghalten und nicht loslassen, auf keinen Fall loslassen!“ Danach setzt man das verstörte Wesen wieder in sein Habitat.

Am nächsten Tag ist dann schon wieder Furchtlosigkeit angesagt. Es wird gefragt, ob man sich nicht mit einem Bad im Fluß erfrischen will. Da man aber noch den Fischreichtum (Piranhas) und Kaiman-Reichtum der Gewässer im Gedächtnis hat, ist man eher zögerlich. Erst wenn man dann ein paar kleine Indio-Mädchen sich dort im Wasser vergnügen sieht und der Führer versichert hat, daß nach seinem Wissen noch keinem Touristen etwas zugestoßen sei, gehen die Mutigsten ins Wasser. Das Wasser ist so trüb, angereichert mit winzigsten Schwebstoffen, die nichts anderes als Teile des Regenwaldes sind, schon in Zersetzung begriffen, daß es bereits in 1 Meter Wassertiefe zappenduster ist, wenn man taucht.

Die nächste Lektion im Überwinden von Urängsten kommt etwas später, wenn man eine Boa constrictor von 5 Metern Länge streicheln darf. Diesmal ist Halten nicht angesagt. Der Führer meint, die könne sich schon einmal blitzschnell um den Körper schlingen und dann gehe einem schnell die Luft aus. Man brauche dann vier starke Männer, um das Leben des Menschen zu retten. Übrigens, Schlangen sind überhaupt nicht schleimig, sondern ganz trocken.

Die Ausflüge per Boot gehen zu einem berühmten See mit zig Victoria Regias (das sind die Seerosen mit den riesigen schwimmenden Blättern, auf die man ein Kleinkind setzen kann, was mit herumgereichten Photos bewiesen wird – das Kleinkind sollte allerdings still sitzenbleiben) und zum Zusammenfluß des Rio Solimões mit dem Rio Negro in der Nähe von Manaus, wo sie den Amazonas im engeren Sinne bilden, hier schon Kilometer breit. Noch ein gutes Stück kann man die beiden Farben der Flüsse im gemeinsamen Bett verfolgen – das hellbeige, trübe Wasser des Solimões rechts und das fast klare, dunkelbraune des Negro links. Dort trifft man mit etwas Glück einige der rosa Süßwasserdelphine, die es nur hier gibt und die sich – wie Meeresdelphine – einen Spaß daraus machen, mit den Booten zu schwimmen.

An höher gelegenen Stellen wächst aber auch Unterholz und bildet den berühmten undurchdringlichen Dschungel. Es gibt auch Bereiche im Amazonasgebiet, die keineswegs dicht bewaldet sind, wie z.B. die Gebirgs-Region an der Grenze zu Venezuela, wo sich auch Brasiliens höchster Berg, der Pico de Neblina findet, genauso hoch wie die Zugspitze. Es gibt auch tiefer liegende Regionen, die fast das ganze Jahr unter Wasser stehen und wieder eine andere Art von Regenwald beherbergen.

Amazonas

Andere Bereiche des Amazonasgebietes sind ebenfalls nicht mehr bewaldet, besonders im Süden und Westen des Gebietes. Das hat aber keine natürlichen Ursachen, sondern hier wird abgeholzt und abgebrannt. Die Vernichtung von Regenwald im Amazonasgebiet hat sich in den letzten Jahren noch weiter beschleunigt.

Alle noch auf der ECO Rio im Jahre 1992 vollmundig angekündigten Fortschritte sind nicht eingehalten worden. Das euphorisch als „Rettung des Regenwaldes“ angekündigte System SIVAM (die vollständige Überwachung des Amazonasbeckens auf der Basis von Radarstationen und Satelliten) ist Wirklichkeit geworden, wird aber zu allem Möglichen genutzt, nur nicht zur Verhinderung der Regenwaldvernichtung und zur Verfolgung der Täter. Auf SIVAM wird u.a. noch in einer der nächsten Folgen der Brasilien-Serie "Jenseits von Fussball und Samba" eingegangen.

Geht das Abholzen und Abbrennen im beschleunigten Rhytmus der letzten Jahre weiter (und man muß eher befürchten, daß sich der Rhytmus noch steigert), wird der Regenwald im Amazonasgebiet binnen dreißig bis vierzig Jahren auf eine Anzahl unzusammenhängender Wälder reduziert sein, deren (positiver) Einfluß auf das Klima gering sein wird.

Die jetzige Klimagenesung durch die Urwälder des Amazonasbeckens wird von allen Wissenschaftlern als ausschlaggebend für das gesamte Klimageschehen im Bereich des atlantischen Ozeans und der Karibik und darüber hinaus angesehen. Der Regenwald verdunstet riesige Mengen Wasser pro Tag und nimmt die dafür benötigte hohe Energiemenge aus dem Wetterablauf heraus. Der Einfluß, den das Ausbleiben oder wesentliche Verringern dieses Effekts auf das Klima der Region und darüber hinaus haben würde, ist im Einzelnen umstritten unter den Forschern, aber alle sind sich einig, daß diese Auswirkungen katastrophal sein würden.

Brasilien: Soja-Pflanzungen auf Regenwald-Gelände

Die Szenarien schließen unter anderem folgendes ein:

- Vervielfachung der Zahl der schweren und superschweren Hurrikans, die sich auf die Karibik, Mittelamerika, Mexiko und die Vereinigten Staaten zu bewegen würden

- Extreme Intensivierung und Perpetuierung des Effektes „El Ninho“, was eine dramatische Erhöhung der Umwetter an den Pazifikküsten des amerikanischen Kontinents hervorrufen würde.

- Beeinflussen oder sogar Umlenken des beständigen Südostwindes, der vom Südatlantik in die Karibik bläst und damit Wasser in den Golf von Mexiko drückt, was den Golfstrom, die stärkste Meereströmung auf der Erde, auslöst. Ein Ausbleiben des Golfstromes würde wesentliche Teile Europas in sibirische Kälte stürzen und nach heutigen Begriffen unbewohnbar machen.

- Ausdehnung der Hurrikan-Vorkommen auf den Südatlantk. Diese würden dann die Küsten Brasiliens, Uruguays und Argentiniens heimsuchen.

- Ausbreiten von Steppen und Wüsten in Südamerika

Ebenso hätte eine wesentliche Verringerung der Regenwälder im Amazonasbecken Auswirkungen im Sinne einer Beschleunigung der Erderwärmung, weil die Bäume ja Kohlenstoff speichern, das als Kohlendioxid, dem Treibhausgas, freigesetzt würde. Eine weitere Erderwärmung würde die oben genannten Klimaveränderungen, also vor allem das häufigere Auftreten und die Intensivierung katastrophaler Stürme und Unwetter, noch beschleunigen.

Regenwald-Abholzung Brasilien

Wer die jetzt noch vorhandenen majestätische Grösse des Regenwaldgebietes am Amazonas einmal ‚erleben’ will und aus irgendwelchen Gründen vorhat, nach Brasilien oder Argentinien zu fliegen, der sollte einmal statt des direkten Fluges einen über Miami oder Orlando nehmen und dann einen Tagflug von Miami/Orlando nach São Paulo/Rio de Janeiro. Diese Strecke ist von vielen Luftfahrtgesellschaften intensiv beflogen mit insgesamt 12 täglichen Flügen, davon mindestens ein Tagflug und einer Anzahl von Flügen, die alle zwei Tage oder wöchentlich gehen.

Auf diesem Flug, man fliegt in südöstlicher Richtung – Südamerika liegt ja deutlich weiter östlich als Nordamerika - erreicht man den südamerikanischen Kontinent etwa auf der Höhe von Caracas, der Hauptstadt Venezuelas. Kurz danach fliegt man über das Orinokobecken, wo ebenfalls in riesigem Umfang Regenwald zerstört wird. Nach der darauffolgenden Bergkette ist man bereits über (fast) unberührtem Regenwald, der zum Amazonasbecken gehört und nun hat man 4 und einhalb Stunden Flug über Regenwald vor sich. Erst wenn man 4 einhalb Stunden später den Fluß Araguaia mit der Grenze der brasilianischen Bundestaaten Mato Grosso und Goiás überfliegt, weicht der Regenwald anderen Landschaften, weil man hier ins Gebiet der zentralen brasilianischen Hochebene kommt.

Zählt man den Orinoko mit, ist man sogar 5 Stunden über Regenwald geflogen (Fünf Stunden, das ist etwa die Zeit eines Fluges von der äußersten südwestlichen Ecke Portugals zum hohen Norden des Ural, also diagonal durch ganz Europa). Von oben wird einem klar, warum manche dies die „Grüne Hölle“ genannt haben. Man sieht nur grün und gewundene Flußläufe dazwischen, kein Haus, kein Dorf, kein Nichts – und das für 5 Stunden Flug! Würde man genau aufpassen und z.B. den Moment abpassen, wann man über den eigentlichen Amazonasstrom fliegt, könnte man schon Ansiedlungen erkennen, aber wer kann schon 4 einhalb bis 5 Stunden intensiv beobachten.

Dieses beeindruckende Erlebnis könnte einen fast zur Annahme bringen, eine so gewaltige Masse Wald könne man nicht so schnell niederbringen, aber das ist ein Irrtum. So massiv er hier auch auftritt, der Regenwald ist ein extrem empfindliches Gebilde.

Der Hauptgrund ist, daß die Humusschicht extrem dünn ist. Während ein Wald in den „gemäßigten Zonen“ der Erde, wie in Deutschland, eine meterdicke Humusschicht erzeugt (das ist vor allem verrottendes organisches Material), hat ein tropischer Regenwald lediglich eine Humusschicht von mehr oder weniger 10 Zentimetern.

Die Ursache ist, alles verrottet hier bedeutend schneller. Die höheren Temperaturen und die hohe Luftfeuchtigkeit führen alles, was von den Pflanzen herunterfällt (über die Aktion von Mikrolebewesen) innerhalb kürzester Zeit in Feinhumus über, der dann sofort wieder anderen Pflanzen als Nahrungsquelle dienen kann und dient. Im deutschen Wald dagegen kann man das ganze Jahr über die Blätter vom vergangenen Herbst liegen sehen. Im Frühling kann man an vielen Stellen noch deutlich die zwei Schichten der Blätter vom Vorjahr und vom Jahr davor unterscheiden und die vor eineinhalb Jahren abgefallenen Blätter als Einzelstücke identifizieren. D.h. das Verhältnis zwischen lebender organischer Masse und toter organischer Masse ist im tropischen Regenwald fast ganz auf der Seite „lebend“, im deutschen Wald weitgehend auf der Seite „tot“.

Sind unter den zehn Zentimetern nur Sand oder Felsen, müssen sich die Bäume zur Seite hin abstützen, also ein Wurzelwerk fast ausschliesslich nach den Seiten entwickeln (einige der Bäume können auch Wurzeln in Sand bohren, die dann zum Abstützen dienen, aber dazu braucht man eben Sandboden). Viele der wirklich hohen Urwaldriesen bilden einen sternförmigen Stamm aus, der ihnen eine bessere Abstützung ermöglicht. Andere lassen Wurzeln auch aus den Ästen nach unten wachsen, um damit zusätzliche Stützen zu haben. Trotzdem, sie sind bei weitem nicht so standfest wie ein Baum mit Pfahlwurzel in Deutschland, der sich zehn oder zwanzig Meter in den Boden bohrt.

Öffnet man im Regenwald eine Schneise, wird der Wind viele der umliegenden Bäume fällen. Zwar kann der Regenwald in einem jahrelangen Prozess solche Schneisen zuerst mit kleinen Pflanzen, dann Büschen und schliesslich kleineren und letztendlich größeren Bäumen wieder auffüllen, aber das klappt eben auch nur, wenn man die Schneise ganz sich selbst überläßt. Eine Schneise, in der bereits Erosion begonnen hat, kann kaum noch geschlossen werden.

Ist ein Stück Land einmal abgebrannt worden, ist Ackerbau getrieben worden oder hat man Gras und Kräuter für die Rinder wachsen lassen, ist die Humusschicht verschwunden und es kann sich kein neuer Regenwald mehr bilden. Die häufigen Regenfälle erodieren dann dieses Stück, was zum Niedergang auch des umliegenden Regenwaldes führt. Die Erosion breitet sich dann selbständig aus. Es braucht gar nicht mehr abgeholzt und abgebrannt werden.

Um dort neuen Regenwald entstehen zu lassen, muß man zunächst Humus aufbringen und dann typische Bäume und Sträucher des Regenwaldes pflanzen, ein extrem umständlicher, teurer und langwieriger Prozess. Bis auf einem so zurückgewonnenen Waldgebiet wieder die richtigen Urwaldriesen wachsen können, die schon mal bis zu 70 Meter hoch werden, dauert es leicht 100 und mehr Jahre.

Die andere wesentliche Frage im Zusammenhang mit dem Verschwinden bzw. Verringern des Regenwaldes ist die der Bio-Diversität, des Artenreichtums. Dabei handelt es sich nicht um den natürlichen Prozeß, daß einige Spezies verschwinden und neue entstehen, sondern daß das Verschwinden, die Ausrottung, einseitig beschleunigt wird und die Natur mit dem Formen neuer Spezies nicht mehr nachkommt, also die Gesamtzahl der Spezies – sowie ihrer Unterarten – sich verringert. Bis zu einem bestimmten Punkt hat das wenig Auswirkungen auf die Bewohnbarkeit des Planeten durch Menschen – ab diesem Punkt aber verschlechtern sich dramatisch die menschlichen Lebensbedingungen bis hin zur drohenden Ausrottung der Menschheit, weil der Mensch in Symbiose mit Tieren und Pflanzen lebt. Verschwinden grosse Teile von ihnen, kann auch der Mensch nicht mehr überleben.

Das Amzonasgebiet ist der Hort der größten Zahl von Spezies auf der Erde. An der Oberfläche leben ca. 2 Millionen verschiedener Spezies.

Was die Tiere betrifft, schätzt man, daß bisher erst etwa 30% davon bekannt sind. Über 95% der Spezies im Amazonasgebiet sind Wirbellose, also Insekten, Spinnentiere, Krebse, Krabbentiere, Garnelen, Schmetterlinge, Ameisen, Flöhe, Asseln, Quallen, Skorpione, Würmer, Seesterne, Einzeller wie Bakterien und Amöben und noch Hunderte von anderen Klassen, die nur da zu sein scheinen, um Biologiestudenten zur Verzweiflung zu bringen.

Die höheren Pflanzen machen in etwa 90 000 Spezies aus. Allein an Baumarten kommen pro Hektar Amazonaswald zwischen 40 und 300 verschiedene vor.

Diese ganze Bio-Diversität ist heute massiv bedroht. Selbst wenn heute das Abbrennen und Abholzen der Wälder deutlich eingeschränkt würden, ginge die Ausrottung von Arten noch lange ungehemmt weiter. Die menschlichen Aktivitäten haben nämlich bereits schwer umzukehrende Prozesse in Gang gesetzt, obwohl das Amazonasgebiet nur gering besiedelt ist.

Am verheerendsten wirkt sich das Quecksilber aus. In großen Teilen des Amazonasgebiets wird Gold aus den Sanden gewonnen mit dem Verfahren der Extraktion durch Quecksilber. Dieses Gold-Gewinnen wird industriemässig und zehntausendfach betrieben und die dabei verwendeten Quecksilbermengen gehen zu 100% in die Flüsse über. Dort reichern sie sich in den Sanden an und werden nach und nach in Form wasserlöslicher Salze an das Flußwasser abgegeben. Viele Gewässer im Amzonasgebiet enthalten heute bereits deutliche Mengen von Quecksilber. Besonders empfindliche Arten werden dadurch bereits ausgerottet. Das rottet dann wiederum Arten aus, die von jenen gelebt haben und danach solche, die von den anderen gelebt haben usw., d.h. es sind immer ganze Nahrungsketten betroffen. Andere Tiere und Pflanzen werden zwar vom Quecksilber nicht getötet, nehmen es aber in ihre Struktur auf. Wen sie dann wieder anderen als Nahrung dienen, werden diese dann mit Quecksilber angereichert und eventuell ausgerottet. Selbst wenn heute sofort mit der Quecksilber-Gold-Methode aufgehört würde, fänden sich noch über Jahrzehnte Quecksilberkonzentrationen in vielen Teilflüssen, Pflanzen und Tieren.

Der zweite verheerende Einfluß auf den Artenreichtum wird durch die häufigen menschlichen Invasionen in vorher unberührte Gebiete verursacht. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Goldsucher und um Drogenhändler.

Der Goldreichtum der Flußsande im Amazonasgebiet muß ja irgendwo herkommen, also forscht man in höher liegenden Gebieten nach Goldvorkommen. Es wird geschätzt, daß mindestens 10 000 Gruppen von Goldsuchern im Amazonasgebiet unterwegs sind. Von Zeit zu Zeit treffen sie auf einige der Indios, die noch übriggeblieben sind und die gewaltsamen Auseinandersetzungen füllen die Schlagzeilen brasilianischer Zeitungen. Im Prinzip braucht man zum Goldsuchen zwar eine Lizenz und auch der Zugang zu unberührten Gebieten ist von Erlaubnissen abhängig, der zu Indio-Reservaten sogar völlig verboten, aber wo kein Kläger, da auch kein Richter. Diese Gruppen sind in der Regel von reichen Brasilianern und Ausländern mit guten Beziehungen zu Regierungsstellen angeheuert und ausgerüstet worden, die dafür sorgen, daß sie unbehelligt bleiben.

Außerdem ist das Amazonasgebiet einer der größten Drogenumschlagplätze der Erde. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Kokain aus den benachbarten Ländern Peru und Kolumbien, Kokain, der Party-Droge, die auf keiner Party der Wohlhabenden in USA und Europa fehlen darf. Das hauptsächliche Ziel der Transporte sind die USA und bestimmte Umschlagpunkte in Mittelamerika, an denen auf Schiffe nach Europa umgeladen wird. Der Transport wird wesentlich mit Kleinflugzeugen durchgeführt. Zuerst wird das Kokain zu einem der Flußarme geschafft, die in den Amazonas münden. Von dort geht es mit Booten zu Schneisen, die man in den Urwald schlägt und wo man Zwischenlagerplätze und eine Rollbahn für Kleinflugzeuge anlegt. Mit diesen Flugzeugen wird die Droge dann zu neuen Umschlagplätzen in Mexiko, Nicaragua, Honduras, Costa Rica oder Panama geflogen, von wo aus man direkt in die USA fliegt oder sie wird zu improvisierten Landebahnen an Stränden in Mittelamerika geflogen, wo auf Boote und dann auf Schiffe umgeladen wird, die nach Europa gehen.

Dies alles läuft unter Oberaufsicht und heftiger Anteilnahme der CIA ab, wie der heldenhafte Reporter Garry Webb aufdeckte, der dafür sterben mußte. Ein großer Teil der Drogengelder geht an die CIA, die dafür sorgt, daß alles reibungslos läuft und viele seiner sonstigen Aktivitäten damit finanziert, wie Attentate auf Staatsoberhäupter, Terroranschlage, Produktion von Bin-Laden-Videos, Ausbildung von arabischen Selbstmord-Jet-Piloten und andere. Damit ist auch klar, daß niemand, weder die brasilianische Regierung noch die US-Amerikanische irgend etwas dagegen unternehmen wird.

Diese häufigen menschlichen Einfälle in vorher unberührte Urwaldgebiete vertreiben eine Anzahl von scheuen Tieren, teilweise dauerhaft. Damit verschieben sich wiederum ökologische Gleichgewichte und Arten sterben.

Wenn wir noch lange brauchen, um diesem kapitalistischen System den Garaus zu machen, wird es schon sehr spät sein. Jedes Jahr zählt. In nicht allzu ferner Zukunft sind die Prozesse unumkehrbar.


Heute also der sechste Teil der Brasilien-Reihe von Elmar Getto, hier leicht redigiert vom Autor. Er erschien ursprünglich in 'Rbi-aktuell' am 18. Januar 2005.

Hier die Links zu allen Teilen der Reihe „Brasilien jenseits von Fussball und Samba“

- Teil 1: „Wie der Amazonas zu seinem Namen kam“

- Teil 2: ‚Menschenfresser-Country’

- Teil 3: „Ausgerottete Künstler“

- Teil 4: Niemeyer ist 100 – ‚Auf dem Höhepunkt des Schaffens’

- Teil 5: Brasilien und Gold

- Teil 6: Die Landschaften Brasiliens – Der Amazonas-Regenwald

- Teil 7: Brasilien und der Strom

- Teil 8: Die Landschaften Brasiliens – Mata Atlântica

- Teil 9: Santos Dumont und der erste Motorflug

- Teil 10: SIVAM – Big Brother in Amazonien

- Teil 11: Sprit aus nachwachsenden Rohstoffen

- Teil 12: Regenwaldvernichtung und Trockenheit im Amazonasgebiet

- Teil 13: Wie unsere Zukunft in der beginnenden kapitalistischen Barbarei aussähe – „Ich habe kein Leben“

Dienstag, 29. Juli 2008

BRASILIEN JENSEITS VON FUßBALL UND SAMBA, TEIL 5: BRASILIEN UND GOLD

EL DORADO - DER GRÖSSTE GOLDFUND BIS DAHIN

Wie die Kolonialländer ausgeraubt wurden

Von Elmar Getto

"Das brasilianische Gold hinterliess Baracken in Brasilien, Tempel in Portugal und Fabriken in England." (Eduardo Galeano, lateinamerikanischer Schriftsteller)

Brasilien (topographisch)

Gold faszinierte die Menschheit seit Urzeiten. Bis etwa um 1620, als das erste Gold in Brasilien gefunden wurde, hatte die Menschheit schon beachtliche Mengen davon angesammelt, sei es, um Schmuckstücke daraus zu machen oder einfach, um die Macht zu nutzen, die Gold (und damit Geld) auch damals schon gab. Ab diesem Jahr wurde aus Brasilien während der folgenden 200 Jahre noch einmal in etwa die gleiche Menge an Gold abtransportiert und nach Europa gebracht, wie jene, die bereits im Besitz der Menschheit war.


Brasilien ist an Bodenschätzen eines der reichsten Ländern der Welt, in dieser Hinsicht vergleichbar mit Südafrika. Vor allem Gold, Diamanten und Smaragden finden sich in beiden Ländern – die erdhistorisch zusammen lagen, bevor die Kontinente auseinanderdrifteten – in beeindruckenden Mengen. Beide Länder haben gewaltig unter diesem Reichtum gelitten und leiden darunter, so wie der Kongo, der bis heute wegen seiner Diamanten nicht zur Ruhe kommt, so wie der arabische Raum, der ohne Unterbrechungen überfallen wird wegen seines Ölreichtums, zerstückelt und in kleinen Teilen verspeist.

Gold

Als ab 1492 Amerika erobert wurde, legte man das Hauptaugenmerk auf etwaige Goldvorkommen. Tatsächlich fand man auf dem Gebiet des heutigen Mexico und der heutigen Vereinigten Staaten ein wenig Gold, aber nichts, was den Aufwand gerechtfertigt hätte (erst viel später wurden die USA einer der wesentlichen Goldproduzenten). Die Suche der Spanier nach „Eldorado“ blieb ohne Resultat. Wer eine Zeit später wirklich so etwas wie ein „Eldorado“ entdeckte, waren die Portugiesen, die sich mit dem östlichen Teil des südamerikanischen Kontinents hatten zufrieden geben müssen.

Portugal war aufgrund seiner Großmachtambitionen bereits bis über beide Ohren verschuldet – an die britische Krone. England benutzte seine engen Bindungen zu Portugal, um ein Gegengewicht gegen die damalige Weltmacht Spanien auf der iberischen Halbinsel in seinen Händen zu haben.

Als Karl der Fünfte im Jahre 1516 den spanischen Thron bestieg (den er von seinem Großvater Ferdinand - der Kolumbus nach Westen geschickt hatte - geerbt hatte) und 1519 dann auch den Deutschen und Österreichischen Thron erbte (von seinem anderen Großvater Maximilian dem Ersten), als er ‚Mexico’ und ‚Peru’ erobert hatte (will sagen die Azteken und die Inkas versklavt hatte), herrschte der spanische Herrscher über das bei weitem größte Imperium, das es je in der Menschheitsgeschichte gegeben hatte – man sagte, daß in seinem Reich die Sonne nie unterging. Spanien war, was heute die USA ist – der ‚Herr der Erde’.

Rio de Janeiro Botanischer Garten 1

England war zu diesem Zeitpunkt eine aufstrebende Macht. Heinrich der Achte von England (der zwei seiner Gattinen enthaupten ließ, darunter Anna Bolena, die Mutter der späteren Elisabeth I.) war anfänglich noch Verbündeter Karls V., solange es gegen Frankreich ging, aber im weiteren Verlauf der Geschichte (Elisabeth I., konnte bereits die Armada Spaniens besiegen - 1588) wurde die Auseinandersetzung zwischen England und Spanien zum wesentlichen Kampf um die Weltherrschaft, der erst im Jahre 1805 mit der Niederlage der spanischen Armada gegen die englischen Schiffe Admiral Nelsons bei Trafalgar endgültig zugunsten Englands entschieden wurde.

Während dieser ganzen Zeit benutzte England Portugal als Faustpfand gegen Spanien, zum einen als Verbündeter, aber ebenso als abhängige Macht aufgrund ihrer massiven Verschuldung gegenüber England. Es konnte also nichts Schlimmeres passieren für Spanien (und nichts Besseres für England), daß ausgerechnet auf dem Gebiet Portugals in Südamerika große Goldvorkommen entdeckt würden, aber genau dies geschah.

Corcovado von Botafogo aus

Als das Innere des inzwischen schon ‚Brasilien’ genannten portugiesischen Kolonie in Südamerika erforscht wurde, fand man unter anderem im Jahr 1620 auf dem Gebiet einer Ansiedlung genannt Sabará eine ergiebige Goldmine. Heute ist Sabará nicht mehr als ein kleiner Ort in der Nähe der Millionenstadt Belo Horizonte, Hauptstadt des Bundestaates Minas Gerais (‚Allgemeine Minen’, man stelle sich vor, wieviel Minen es geben muß, bis man einen ganzen Bundesstaat so nennt).

Rio de Janeiro, Zuckerhut und Corcovado von Niteroi aus

Bis dahin war Gold im wesentlichen in den Flußsanden gefunden worden. Von Zeit zu Zeit fand man kleine schimmernde Goldstückchen. Es gab aber auch schon Goldminen, wo Gold aufgrund seiner Farbe zwischen Quarzgestein und ähnlichem gefunden wurde – so z. B. im Harz und im Schwarzwald – heute alle längst ausgebeutet. Etwa zu dieser Zeit wurde aber die Entdeckung gemacht, daß Gold auch in schwarzen Einlagerungen zwischen Gneis und Granit gefunden werden kann. Dort ist das Gold in so kleinen Partikeln vorhanden, daß sie schwarz statt golden erscheinen. Die zeitweilige Hauptstadt von Minas Gerais, die damals ‚Vila Rica’ (reiche Anziedlung) hieß und sich schnell zur größten Goldstadt der damaligen Welt entwickelte, heißt bis heute Ouro Preto, ‚schwarzes Gold’.

Schnell stellte sich heraus, daß nicht nur in Sabará und Ouro Preto, sondern in vielen Gemeinden der ganzen Region Gold in allen möglichen Formen vorkommt, und nicht nur Gold, sondern auch Diamanten und Smaragden. Es gelang Portugal, diese Entdeckungen weitgehend geheim zu halten und in aller Stille ein System der Maultier-Transporte aus der Region ‚Zentrales Minas Gerais’ an die Küste zu organisieren, nach Parati, wo die Schätze nach Portugal eingeschifft wurden (man kann heute diese Maultierpfade noch besichtigen), um von dort in grossen Teilen umgehend nach England weiter gesandt zu werden, um die Schulden zu bezahlen. Wenn Sie heute unsagbare Schätze im Tower von London bewundern können, wenn die britische Königsfamilie eine der reichsten der Welt ist, so haben Gold und Edelsteine aus Brasilien wesentlich dazu beigetragen.

Nachforschungen in Ouro Preto ergaben, daß zum Zeitpunkt des Höhepunkts des Goldbooms in der Region, das war etwa um 1780 herum, allein im Gebiet der Gemeinde Ouro Preto über Tausend (1000!) Goldminen arbeiteten, von denen keine weniger als 10 Tonnen Golderz pro Jahr produzierte, einige wesentlich mehr. Nimmt man einen Durchschnitt von etwa 15 Tonnen, sind das allein für eine Gemeinde 15.000 Tonnen pro Jahr Golderz (das etwa 5% reines Gold enthält).

Es gab aber mehr als 50 Gemeinden in der Region im Bereich von Hundertfünfzig Kilometern um Belo Horizonte herum (die Region ‚Zentrales Minas Gerais’), die in ähnlicher Weise Gold produzierten. Nehmen wir nur 25 von ihnen mit einem Schnitt von 500 Goldminen mit einem Schnitt von 10 Tonnen pro Jahr (das ist tief geschätzt), so gab es zu dieser Zeit in der Region eine jährliche Produktion von 140.000 Tonnen Golderz (einschliesslich Ouro Preto). Nimmt man an, dass für den gesamten Zeitraum von 200 Jahren ein Schnitt von nur einem Zehntel dieses Wertes erreicht wurde (erneut tief geschätzt), also 14.000 Tonnen Golderz jährlich, so hat die Europäische Union (man kann heute nicht mehr ein einzelnes Kolonialistenland verantwortlich machen, denn im finanz-politischen Sinne sind alle unsere Länder in der Europäischen Union aufgegangen) sich aus der Region ‚Zentrales Minas Gerais’ etwa in der Grössenordnung von 2 Millionen und 800 Tausend Tonnen Golderz und damit 140 000 Tonnen reines Gold unrechtmässig angeeignet (um das Wort Raub zu vermeiden).

Das wäre nach dem heutigen Goldwert von etwa 10.000 Dollar pro Kilogramm reinem Gold ein Gesamtwert von 1,4 Billionen Dollars, in englischer Zählung "1,4 Trillion Dollars".

In Wirklichkeit sind diese Werte weit höher, denn zum damaligen Zeitpunkt war der Goldwert viel höher als heute. Außerdem wurde ja nicht nur in dieser Region Gold gefunden und abgebaut, sondern auch in anderen Regionen Brasiliens, wenn auch diese Region die zentrale Goldregion war. Ebenso kommt dazu, daß aus Brasilien ja nicht nur Gold herausgeholt wurde. Für Diamanten z.B. dürfte fast die gleiche Relation gelten, nämlich daß etwa die Hälfte aller Diamanten der Menschheit zum Zeitpunkt 1822 (der Unabhängigkeit Brasiliens) aus Brasilien stammten, für Smaragde sogar noch mehr. Einige der größten Smaragdvorkommen der Erde sind in Brasilien, z.T. ebenfalls in der genannten Region, z.T. im Bundesstaat Pernambuco.

Der damalige Goldpreis für ein Kilo lag nach einem Buch, das vor einiger Zeit in Brasilien veröffentlicht wurde, in der Größenordnung des Jahreseinkommens eines hohen königlichen Beamten, wie z.B. Vasco da Gama (das ist der, der den Seeweg nach Indien um das Kap der Guten Hoffnung herum entdeckt hat).

Jenes Buch sagt, dass der Goldpreis in den folgenden 200 Jahren in etwa in dieser Höhe blieb. Nehmen wir den Betrag des Jahresgehaltes eines heutigen Ministers (Sekretärs) der Europäischen Union, das dürften mindestens 200.000 Euro sein (das ist wieder niedrig geschätzt), so können wir sehen, daß der damalige Werte des Goldes etwa 20 mal so hoch wie heute war. Würden wir diesen Faktor 20 auf den obigen Betrag von ‚1,4 Trillion Dollars’ anwenden, so kommen wir etwa auf "28 Trillion Dollars" (eine Trillion in englischer Zählweise ist eine 1 mit 12 Nullen).

Angesichts solcher Beträge, die aus Brasilien geraubt wurden, sollten wir einen Blick auf die heutige Situation Brasiliens werfen:

Während die Brasilianischen Banken (und die ausländischen Banken in Brasilien) Jahr für Jahr neue Rekordprofite vermelden, während die Reichen in Brasilien in einem Meer von Freudentränen schwimmen vor lauter steigenden Profiten, sinkt das Volk mehr und mehr in eine noch tiefere Armut. Die offiziellen Zahlen der UNO (man weiß nicht, inwieweit sie zuverlässig sind) sagen, daß 70 der 170 Millioner Brasilianer unterhalb der offiziellen Armutsgrenze von 1 Dollar pro Tag und Person leben und daß von diesen 70 Millionen 50 Millionen an Hunger und Unterernährung leiden. Diese Zahlen sind noch untertrieben, denn man weiß nicht, wie die UNO sich vorstellt, daß man mit unter 1 Dollar pro Tag evtl. nicht an Unterernährung leiden könnte.

Favela in Belo Horizonte

Die offiziellen Zahlen der Arbeitslosigkeit sind geschönt, aber der Industrieverband von São Paulo hat neue Zahlen veröffentlicht, die im Grossraum São Paulo eine tatsächliche Arbeitslosigkeit von fast 30% der aktiven Bevölkerung zeigen und diese Zahl dürfte der tatsächlichen deutlich näher sein und auch ähnlich oder höher in anderen Regionen sein.

Die Folge dieser tiefen Armut ist, daß tagtäglich Hunderte von Kindern in Brasilien an den Folgen der Armut sterben (von den Erwachsenen gar nicht zu reden).

Man mag der Meinung sein, daß hierfür hauptsächlich die ungleiche Verteilung des Einkommens im Land die Ursache ist. Tatsächlich ist die Menge an Geld beachtlich, die jedes Jahr von korrupten Politikern aus den öffentlichen Kassen in die eigenen Taschen umgeleitet wird, aber sie gehen nach Schätzungen einer unabhängigen NGO (Non-Governamental Organisation) nicht über etwa 20% des Budgets hinaus und machen damit nur einige Prozent des Bruttosozialprodukts aus.

Dagegen haben die Zinszahlungen für die Schulden Brasiliens jetzt die Marke von 50% des Staatshaushaltes überschritten. Im Jahr 2003 zahlte Brasilien etwa 50 Milliarden Dollar (‚50 Billion Dollars’) an Zinsen. Das sind nur die Zinsen, darin sind noch keinerlei Rückzahlungen enthalten. Die Höhe der Gesamtschulden Brasiliens sind aufgrund der Ereignisse der letzten Jahre (drei kurz aufeinanderfolgende Wirtschaftskrisen, jeweils verbunden mit hohen Zinsen, erneuten Kreditaufnahmen und steigendem Dollarkurs, was die Schulden im Zeitraum der 8 Jahre der letzten Regierung mehr als verdoppelt hat) so angewachsen, daß sie objektiv unbezahlbar geworden sind. Selbst in Tausenden von Jahren und selbst unter günstigsten Umständen könnte das brasilianische Volk dies nicht zurückzahlen.

Nun mag jemand sagen, na, warum hat sich Brasilen denn auch soviel Geld geliehen?

Nur ist Brasilen eben schon mit diesen Schulden geboren worden und hat es seitdem nicht geschafft, sich derer zu entledigen. Als 1822 der damalige Statthalter des portugiesischen Königs (seines Vaters), Dom Pedro I., die Unabhängigkeit Brasiliens erklärte, war dies nicht der heroische Akt der Auflehnung gegen den Vater, sondern die gut durchgerechnete Möglichkeit für Portugal, sich unbezahlbarer Schulden (an die englische Krone) zu entledigen. Die Gesamtschulden Portugals wurden (als Preis für die Unabhängigkeit) schlichtweg auf Brasilien übertragen.

Auch muß man sehen, in welcher Position sich ein an sich reiches Land wie Brasilien damals befand. Es war vollkommen ausgeraubt und arm und wurde kurz danach auch von Dom Pedro I. zurückgelassen in schwierigsten finanziellen Verhältnissen.

Wenn wir die oben genannte Summe von 28 Trillion Dollars diesen Zuständen gegenüberstellen, ergeben sich weitgehende Folgerungen. Dabei muß man auch noch berücksichtigen, daß dies tiefe Schätzungen waren, die nicht einmal anderes Gold außerhalb dieser Region einschlossen, ebensowenig wie andere Güter und Edelstoffe, die aus Brasilien herausgeholt wurden.

Nehmen wir einmal an, Brasilien würde heute Schadenersatz (Reparationen, Ausgleichzahlungen) verlangen, was es in Wirklichkeit nicht tut.

Wenn aber (mit vollem Recht) jüdische und andere Zwangsarbeiter (der Begriff Sklaven, den es ja schon gibt für Zwangsarbeiter, wurde aus guten Gründen peinlichst vermieden) des faschistischen Deutschen Hitlerregimes vom heutigen Deutschland Ausgleichszahlungen verlangen konnten und bekommen haben für sich bzw. für ihre Nachkommen, so hat ganz offensichtlich auch ein kolonialistisch ausgebeutetes Land das Recht dazu.

Diese Ausgleichszahlungen an ehemalige jüdische und andere Sklaven des "Dritten Reiches" waren mehr symbolische Zahlungen, die nur Bruchteile des Wertes betrugen, den ihre Arbeit wirklich Wert war, soweit den Medien entnommen werden konnte. Um dies zahlen zu können, wurde ein Fond geschaffen, in den einerseits die deutsche Bundesregierung einzahlte (das waren also Steuergelder, die aus dem deutschen Volk herausgeholt wurden) und andererseits von betroffenen Industriefirmen erwartet wurde einzuzahlen. Nach diversen begründeten Drohungen mit Schadenersatzprozessen in Milliardenhöhe in den USA fand sich schließlich wirklich ein Teil der Firmen bereit, ein paar ‚peanuts’ beizusteuern.

Würde Brasilien vergleichsweise sich mit 10% zufriedengeben und würde auf Schadenersatz für alle anderen Werte verzichten außer dem Gold aus der Region ‚Zentrales Minas Gerais’, so hätte die Europäische Union immer noch 2,8 Trillion Dollars (oder entsprechend weniger in Euro) zu entrichten. Nehmen wir nun an, Brasilien würde in unendlicher Güte eine Rückzahlungsdauer von 500 Jahren akzeptieren, so wären Jahresraten von etwa 50 Milliarden (Billions) Euro fällig. Da die Gesamtschulden Brasiliens etwa 600 Billions of Euro betragen, wären die Schulden in zwölf Jahren bezahlt und es ständen immer noch 488 Jahre von jährlichen Zahlungen aus.

Natürlich ist klar, daß die Europäische Union nichts dergleichen als Schuld anerkennen und bezahlen wird. Das herrschende Finanzkapital in der EU wird ganz im Gegenteil darauf bestehen, daß Brasilien weiterhin Jahr für Jahr astronomische Summen nur als Zinsen zahlt und wird auch nicht mit sich darüber reden lassen, wenigstens die Schulden zu erlassen, die Brasilien von Portugal geerbt hat.

Der International Monetary Found (IMF, dessen Vorsitzender der jetzige Bundespräsident Köhler bis kurz vor seiner Wahl war) hat letzthin die hervorragende Zahlungsmoral und –pünktlichkeit Brasiliens gelobt und angekündigt, daß Brasilien mit seiner jetzigen Politik keine neuen ‚Abmachungen’ mit dem IMF mehr schließen muß, sondern jederzeit ‚gut’ ist für neue Anleihen, um die Schulden Brasiliens (und damit seine jährlichen Zinszahlungen) noch weiter zu erhöhen. Der IMF ist also zufrieden mit der Zahl der sterbenden Kinder in Brasilien.

Da Köhler nun deutscher Bundespräsident ist – und gerade noch Fachmann für Kindermord war – hat er in seiner Weihnachtsansprache uns auch gleich deutlich gemacht, daß dies nun auch auf Deutschland zukommen wird. Er forderte uns auf, Nachbarschaftshilfen einzurichten und uns an afrikanischen Ländern zu orientieren, denn er weiß nur zu genau, daß die herrschende Allparteienkoalition afrikanische und brasilianische Zustände nun auch in Deutschland einführen will. Hartz IV ist nur der erste Schritt dazu. Da wird man Nachbarschaftshilfe brauchen, um die Zahl der täglich wegen Armut sterbenden deutschen Kinder niedrig zu halten.


Dies ist der fünfte Beitrag der Brasilien-Reihe von Elmar Getto, ursprünglich veröffentlicht in "Rbi-aktuell" vom 29.12.2004, hier in einer vom Autor berichtigten und leicht redigierten Version


Hier die Links zu allen Teilen der Reihe „Brasilien jenseits von Fussball und Samba“

- Teil 1: „Wie der Amazonas zu seinem Namen kam“

- Teil 2: ‚Menschenfresser-Country’

- Teil 3: „Ausgerottete Künstler“

- Teil 4: Niemeyer ist 100 – ‚Auf dem Höhepunkt des Schaffens’

- Teil 5: Brasilien und Gold

- Teil 6: Die Landschaften Brasiliens – Der Amazonas-Regenwald

- Teil 7: Brasilien und der Strom

- Teil 8: Die Landschaften Brasiliens – Mata Atlântica

- Teil 9: Santos Dumont und der erste Motorflug

- Teil 10: SIVAM – Big Brother in Amazonien

- Teil 11: Sprit aus nachwachsenden Rohstoffen

- Teil 12: Regenwaldvernichtung und Trockenheit im Amazonasgebiet

- Teil 13: Wie unsere Zukunft in der beginnenden kapitalistischen Barbarei aussähe – „Ich habe kein Leben“

Sonntag, 13. Juli 2008

Niemeyer ist 100 – 'Auf dem Höhepunkt des Schaffens'

BRASILIEN JENSEITS VON FUßBALL UND SAMBA, TEIL 4:
Niemeyer ist 100 - "Auf dem Höhepunkt des Schaffens"


Von Elmar Getto

Niemeyer – wer war das noch gleich? Oscar Niemeyer! Aaaah richtig, jener große Architekt des 20. Jahrhunderts, der Brasilia gezeichnet hat! Wann ist der eigentlich gestorben? Hat jemand irgendetwas von ihm gehört?

Niemeyer

Oscar Niemeyer lebt, ist im Dezember 2007 100 Jahre alt geworden und erklärte in einem Interview, er stehe auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Er betont, daß er Brasilianer ist. Er hält weiter seinen kommunistischen Ansichten die Treue und arbeitet intensiv, im Moment an mehreren großen Projekten, abgesehen von einigen Oberaufsichten über die Realisierung älterer Projekte. Einer seiner Mitarbeiter im Studio im obersten Stock eines Gebäudes an der Copacabana in Rio mit Blick auf eine der beeindruckendsten Landschaften der Erde, wo Niemeyer weiterhin von Montag bis Samstag arbeitet, sagt: „Ich arbeite mit Niemeyer seit 35 Jahren, aber ich habe nie eine Phase gesehen, in der er so kreativ war. Er zeichnet jeden Tag Formen, die man noch nie gesehen hat.“


Brasilien (topographisch)

Dies ins Stammbuch jener kleingeistigen Philister in den Manager-Etagen deutscher Firmen, die Menschen mit 50 Jahren bereits zum alten Eisen werfen.

Niemeyer ist mit Sicherheit das größte Phänomen der Architektur des 20., aber eben auch des 21. Jahrhunderts und ebenso ein Phänomen in seiner Aktivität mit 100 Jahren. Ein großer Teil dessen, was sich moderne Architektur nennen kann, basiert auf seinen Ideen und Werken. Er hat die moderne Architektur mehr beeinflußt als alle anderen. Für sein Lebenswerk hat er 2004 den japanischen Kaiser-Preis erhalten. Die Irakische Architektin Zaha Hadid, die in London lebt, erwähnte ihn bei der Preisverleihung des Pritzker-Preises (der 'Nobel' der Architektur) 2004 ausdrücklich als hauptsächlichen Einfluß.

Niemeyer Nationalkongress

Keine brasilianische Stadt, die etwas auf sich hält, ohne Werke Oscar Niemeyers.

In São Paulo steht bis heute das erste moderne Wohnhochhaus aus den vierziger Jahren, in Form eines S, das heute zwischen vielen anderen ähnlichen fast nicht mehr auffällt. Nur war es eben das erste und fast alles, was heute an Wohnhochhäusern gebaut wird, wird zum Abklatsch oder zu etwas weniger Gelungenem als dieses erste. Auch die Gedenkstätte für Lateinamerika (1988) von ihm in dieser Stadt bleibt ein Anziehungspunkt für Architekturstudenten.

Niemeyer

Einen seiner größten Siege feierte Niemeyer 2004, als im Ibirapuera-Park in São Paulo das Auditorium eingeweiht wird, das er in den fünfziger Jahren (!) projektierte, ein Gebäude, bei dessen Anblick jedem das Wort ‚hypermodern’ einfällt.

Der Ibirapuera-Park war in den fünfziger Jahren von Burle Marx, einem anderen berühmten Brasilianer, wohl dem besten Landschafts-Architekten des 20. Jahrhunderts, konzipiert worden und einige Gebäude wurden von Niemeyer eingefügt, doch das Auditorium war damals nicht gebaut worden. Es ist an einer Seite offen, bezieht so den Park mit ein und öffnet die Veranstaltungen für alle Parkbesucher, ein demokratisches Auditorium (was natürlich nur in einem warmen Land wie Brasilien möglich ist).

Niemeyer Palácio Planalto

In Rio de Janeiro ist es vor allem das Monument der Gefallenen des 2.Weltkriegs am Strand von Flamengo, das die Aufmerksamkeit jedes Besuchers findet. Von ihm ist auch das Gebäude des Lateinamerikanischen Parlaments und das des Museums der modernen Kunst, gleich in der Nähe. Eines der gelungesten in seiner Leichtigkeit ist aber mit Sicherheit sein Museumsbau in Niteroi, der Stadt auf der anderen Seite des Zuckerhutes, eine Art UFO, schwebend über dem Meer an einer felsigen Steilküste, genau an jenem Punkt, an dem man die schönste Sicht auf das gegenüberliegende Rio de Janeiro mit seinen runden Bergformen hat, die fast wie von Niemeyer geschaffen scheinen (in Wirklichkeit dürfte es anders herum sein: Die runden Bergformen haben zum Teil die Ideenwelt Niemeyers geprägt).

Niemeyer Museum zeitgenössische Kunst

Rio hat seinem Sohn Oscar Niemeyer auch die treffendste Huldigung dargebracht: Die Straße zwischen den Stränden São Conrado und Leblon im Stadtgebiet von Rio, über einem Felsabsturz ins Meer, einer der landschaftlich schönsten Punkte der Erde, heißt schon seit vielen Jahren Avenida Niemeyer.

In Belo Horizonte steht der erste moderne Sakralbau, das Kirchlein des heiligen Franziskus am Ufer des Pampulha-Sees mitten in der Stadt, das 1940 eingeweiht wurde. Es war das erste Mal, daß jemand geschwungene Formen in Beton in einem Gebäude eingesetzt hat. Gerade war der Stahlbeton erfunden worden und damit die Möglichkeit, einem Gebäude jede beliebige Form zu geben, rund, mit weiten Überhängen usw.

Sankt-Franziskus-Kirche von Niemeyer

Die katholische Kirche weigerte sich jahrelang, das neue Kirchlein zu weihen, das vom damaligen Bügermeister der Stadt, Juscelino Kubitschek, in Auftrag gegeben worden war. Das Werk eines Atheisten und Kommunisten, das wollte man nicht als Kirche.

Erst als Architekten und Architekturstudenten aus aller Welt begannen nach Belo Horizonte zu pilgern, nahm man das Geschenk an. Zusammen mit seiner Rückwand, völlig in blauen Fliesen, geschaffen vom brasilianischen Maler Portinari (darstellend das Leben des Heiligen), stellt das Kirchlein nicht mehr ein architektonisches Werk, sondern ein einmaliges Kunstwerk dar, etwas, das man von späteren modernen Sakralbauten nicht sagen kann. Seine Form in vier Bögen mit einem kleinen Glockenturm, der nach oben hin breiter wird, ist der eigentliche Anfang und Ausdruck aller modernen Architektur. Heute gibt es kein Brautpaar in Belo Horizonte mehr, das nicht in dieser Kirche getraut werden will.

Franziskus-Kirche Oscar Niemeyer-3

Und schließlich - Brasilia. Als Kubitschek 1955 zum Präsidenten gewählt worden war, beschloß er, das Augenmerk Brasiliens, das immer auf der Küste gelegen hatte, ins Landesinnere zu lenken. Dort sollte eine neue Hauptstadt, Brasilia, geschaffen werden, weit im Inneren des Landes, auf einer dürren Hochebene gelegen, am Rande des Bundestaats Goias, und dort ließ er – wie in den USA – einen eigenen Bundestaat schaffen und ihn ‚Föderativer Distrikt’ (Distrito Federal) nennen.

Diese neue Hauptstadt sollte vor allem die Modernität Brasiliens und den Fortschritt (der in der Fahne Brasiliens steht) dokumentieren und so gab er den Architekturauftrag an Niemeyer, der den Plan der ganzen Stadt in Form eines Flugzeugs entwarf. Auch die einzelnen Regierungsgebäude und die Kathedrale wurden von ihm gezeichnet. Niemeyer lebte drei Jahre auf der Baustelle und entschied und überwachte jedes Detail.

Kongress Brasilien Brasilia

Steht man heute auf dem ‚Platz der drei Gewalten’ in Brasilia, vor sich das Parlamentsgebäude mit der konkaven Kuppel für den Senat und der konvexen für das Abgeordnetenhaus, zur rechten den Präsidentenpalast mit einer großen Auffahrtsrampe über einem riesigen Wasserbecken, zur Linken das Gebäude des Obersten Gerichtshofs mit einer überdimensionalen modernen ‚Justitia’, dann wird einem klar, daß diese Gebäude, vor fast 50 Jahren eingeweiht, heute kein Architekt besser oder moderner konzipieren könnte. Niemeyer selbst sagt dazu im Interview: „Wenn Sie dort stehen, mögen Ihnen die Gebäude gefallen oder nicht, aber Sie können nicht sagen, Sie hätten so etwas schon einmal gesehen.“

Niemeyer Nationalkongress

Vom genannten Platz geht die große Mittelachse Brasilias aus, an der alle Ministerien stehen. Am anderen Ende der Achse war schon damals ein Kulturzentrum vorgesehen, das aber nicht zur Ausführung kam. Es ist jetzt in Planung. Das zentrale Gebäude wird ein kuppelförmiger Bau von 80 Metern Durchmesser sein, aus dem ein Beton-Halbkreis herausragt, so daß der Eindruck vom Saturn mit seinem Ring entsteht.

Niemeyer Nationalmuseum Brasilien

Sollte jemand einmal nach Brasilien reisen, wird er wohl auch in Ouro Preto halt machen, der am besten erhaltenen Barock-Stadt Brasiliens (wir hören demnächst noch von ihr, wenn es um das brasilianische Gold geht). Dort kann man im ‚Grand Hotel’ absteigen, das von niemand Geringerem als Niemeyer konzipiert wurde.

Hier zeigt er, in einem Umfeld herausragender barocker Architektur, die Lösung für das Problem jedes Architekten, der mit einem historischen Umfeld konfrontiert ist: die Bescheidenheit. Er maßt sich weder an, Barockarchitektur zu imitieren, noch stellt er modernistische Niemeyer-Architektur großkotzig gegen die historischen Kirchen. Er schafft einen niedrigen, langgesteckten Bau am Berghang, der seine Modernität nicht verleugnet, sich aber ganz zurücknimmt in modernistischen Details. Wer dort absteigt, kann sein Früstück in einem Raum mit Blick über die Stadt einnehmen, der vom Meister persönlich mit Zeichnungen auf den Wänden und einem Spruch ausgeschmückt ist.

Franziskus-Kirche Oscar Niemeyer-4

Aber Niemeyer arbeitet(e) nicht nur in Brasilien. Sein internationaler Durchbruch kam, als er 1947 den Zuschlag für sein Projekt für das UN-Gebäude in New York bekam. Danach folgten Hunderte von Projekten: Er konzipierte eine Moschee in Algerien, die den damaligen Premier Boumedienne, der gerade den langen Befreiungskrieg gegen die Franzosen gewonnen hatte, zum Ausruf hinriß: „Das ist eine revolutionäre Moschee!“

Er entwarf für die KP Frankreichs das neue Zeitungsgebäude, noch vor wenigen Jahren überraschte er erneut mit einem Observationsturm mit Hotel und Restaurant in Brighton in England und 2004 wurde eine riesige Skulptur von ihm nach Frankreich geschafft, die an der Nationalbibliothek in Paris aufgestellt wurde.

Rio de Janeiro, Zuckerhut und Corcovado von Niteroi aus

Überhaupt ist Niemeyer nicht nur Architekt, sondern auch ein Zeichner und Bildhauer von hoher künstlerischer Qualität. In Niteroi z.B., wo inzwischen 11 seiner architektonischen Werke zu bewundern sind, viele innerhalb von Gehweite (es gibt dort einen Niemeyer-Weg, der einige verbindet), wurde vor kurzem das neue Theater eingeweiht, in dem er ebenfalls die Idee des „offenen Theaters“ zur Ausführung bringt. Dort hat er die gesamte Malerei in der Innenausstattung und an der Aussenwand sowie eine Anzahl von Skulpturen selbst ausgeführt.

In einer Anzahl von Ländern, in denen der Antikommunismus Staatsreligion ist, so wie die USA und die Bundesrepublik, wird Oscar Niemeyer im allgemeinen mit Mißachtung gestraft. Wo kämen wir hin, wenn wir noch einen Kommunisten als Genie feiern würden? Wenn überhaupt erwähnt, wird er als ‚umstrittener Architekt’ bezeichnet, seine Gebäude in Brasilia als ‚pathetisch’.

Franziskus-Kirche Oscar Niemeyer-2

Auch brasilianischen reaktionären Politikern ist Niemeyer ein Dorn im Auge. Der Bürgermeister von Rio de Janeiro, Maia, ein Politiker vom Typ Stoiber, der seine Wiederwahl sichert, indem er rigoroseres Vorgehen gegen die Kriminellen verspricht, während die Kriminalität ohne Halt ansteigt, ließ eine Anzahl von Skulpturen entfernen, die Niemeyer auf eigene Kosten am Leme-Strand hatte aufstellen lassen und die von der Bevölkerung angenommen worden waren.

Eine andere Art der Mißachtung ist, speziell, wenn sich Deutsche mit ihm beschäftigen, die wiederholte Erwähnung seiner ‚deutschen Abstammung’, die ihn selbst auch in Wut bringt, so als ob ein ‚richtiger’ Brasilianer (Wer wäre das? Ein Indio, ein Schwarzer?) niemals in der Lage wäre, Herausragendes zu leisten. Hat man je gehört, daß große Geister aus den USA (ja, auch in einem Land, das von George W. Bush regiert wird, gibt es große Geister, ich erwähne nur Noam Chomsky) andauernd als ‚von irischer, italienischer, englischer, deutscher oder sonstiger Abstammung’ bezeichnet werden? Wird etwa andauernd erwähnt, daß Thomas Mann ‚brasilianischer Abstammung’ war (seine Mutter war Brasilianerin)?

Oscar Niemeyer 99

Das größte Projekt, das momentan in Bau ist, ist sein neu konzipiertes Regierungszentrum des Bundesstaates Minas Gerais auf einer Fläche von etwa 42 Fußballfeldern in einem Stadtteil von Belo Horizonte. Das verwegendste ein Museum in Fortaleza, das im Meer gebaut wird. Auch in Niteroi ist ein Merresmuseum unter dem Meeresspiegel in Planung. Eben eingeweiht wurde die neue Zentrale der brasilianischen Itaipu-Verwaltung (Itaipu ist das riesige Staudamm- und Stauseeprojekt an der Grenze zu Paraguay zusammen mit diesem Land). Neben dem Verwaltungsgebäude und einem großen Auditorium umfaßt es einen See, einen Turm, eine Brücke über den See usw. Die Paraguayaner auf der anderen Seite des Flusses waren so begeistert, daß sie das gleiche für ihre Seite bei ihm in Auftrag gaben.

Befragt, was er an seinem 100. Geburtstag machen werde, antwortete er: „Ich werde verschwinden. Nichts ist wichtig. Jeder hinterläßt eine kleine Geschichte und verflüchtigt sich.“ (Mit 100 wird wohl die Frage nach dem Geburtstag irgendwie identisch mit der Frage nach dem Todestag.)

Franziskus-Kirche Oscar Niemeyer-5

Schließen wir mit dem Satz, den Niemeyer in seinem Arbeitsraum zwischen einigen Zeichnungen an die Wand geschrieben hat: „Das wichtigste ist nicht die Architektur, sondern das Leben, die Freunde und diese ungerechte Welt, die wir verändern müssen.“


Dieser 4. Teil von Elmar Gettos Brasilien-Reihe wurde am 27.12. 2004 in "Rbi-aktuell", heute Berliner Umschau, veröffentlicht, hier vom Autor redigiert und aktualisiert.

Weitere Artikel zu Niemeyer im Blog:

- Was schert es den Mond...

- Niemeyer ist 100 - und arbeitet noch jeden Werktag


Hier die Links zu allen Teilen der Reihe „Brasilien jenseits von Fussball und Samba“

- Teil 1: „Wie der Amazonas zu seinem Namen kam“

- Teil 2: ‚Menschenfresser-Country’

- Teil 3: „Ausgerottete Künstler“

- Teil 4: Niemeyer ist 100 – ‚Auf dem Höhepunkt des Schaffens’

- Teil 5: Brasilien und Gold

- Teil 6: Die Landschaften Brasiliens – Der Amazonas-Regenwald

- Teil 7: Brasilien und der Strom

- Teil 8: Die Landschaften Brasiliens – Mata Atlântica

- Teil 9: Santos Dumont und der erste Motorflug

- Teil 10: SIVAM – Big Brother in Amazonien

- Teil 11: Sprit aus nachwachsenden Rohstoffen

- Teil 12: Regenwaldvernichtung und Trockenheit im Amazonasgebiet

- Teil 13: Wie unsere Zukunft in der beginnenden kapitalistischen Barbarei aussähe – „Ich habe kein Leben“

Sonntag, 6. Juli 2008

Ausgerottete Künstler

Brasilien jenseits von Fußball und Samba

Teil 3: Ausgerottete Künstler

Von Elmar Getto


Nun wieder zurück zu den Indios. Vor nicht allzu langer Zeit ging man davon aus, daß der amerikanische Kontinent erst vor etwa 10.000 bis 12.000 Jahren von Menschen besiedelt wurde, Südamerika erst vor etwa 5.000 bis 7.000 Jahren. Archäologie wurde in den Amerikas wenig bis gar nicht betrieben, denn was wollte man schon finden von den Vorfahren der Indios und Indianer, die man ja zum grossen Teil noch um das Jahr 1500 in der Steinzeit vorgefunden hatte. Allerdings hatten die doch schon sehr entwickelten Kulturen der Azteken, Mayas und Inkas da schon einige Fragezeichen gesetzt. So wurde denn auch die Archäologie praktisch ausschließlich in den Gebieten dieser Kulturen betrieben.

Erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts begann man, zunächst sehr sporadisch, auch außerhalb dieser engen Bereiche nach Spuren der ersten Bewohner der Amerikas zu graben, zunächst mit spärlichen Erfolgen.

Eine erste Sensation stellte sich ein, als man einige Hügel an den Stränden im südlichen Brasilien näher untersuchte.

Es stellte sich heraus, daß die Hügel künstlich aus Sand, Muscheln und Tonerde aufgeschüttet und mit einem bisher unbekannten Verfahren verfestigt worden waren. Diese sogenannten Sambaquis dienten Wohn-, Verteidigungs- und/oder Kultzwecken.

Die Sensation waren die dort gefundenen ‚Zoolithen’, geschliffenen Steinfiguren, die Tiere darstellen, Vögel, Fische usw. In anderen Steinzeit-Ausgrabungen hatte man schon behauene Steine gefunden, die bestimmte Tiere darstellten, aber nie vorher mit einer perfekt geschliffenen Oberfläche und auf einem künstlerischen Niveau, das einen modernen Bildhauer vor Neid erblassen läßt. Der Grad des Realismus der Darstellung wie auch der Grad der Abstraktion von der genauen natürlichen Form läßt auf ein künstlerisches Niveau schließen, die bisher für Steinzeitkulturen absolut unbekannt war.

Diese Kunstwerke konnte man im Original sehen in der Ausstellung ‚Antes’ , die 2004 in Rio de Janeiro gezeigt wurde.

Im Grunde mußte bereits zu jenem Zeitpunkt die gesamte Vorstellung der südamerikanischen Indios als „primitive Wilde“ einer Revision unterzogen werden, was aber noch nicht getan wurde. Doch dann, als die Grabungen auf verschiedene Gegenden Brasiliens ausgeweitet wurden, in den 90er Jahren und den ersten Jahren des neuen Jahrtausends, kamen immer mehr Zeugen hoher künstlerischer Vollendung ans Tageslicht und die Ergebnisse der C14-Analysen verlegten die Besiedlung Südamerikas immer weiter in die Vergangenheit. Über 20 000 Jahre und 30 000 Jahre kam man so schließlich zu den letzten Funden in einem Nationalpark im brasilianischen Bundesland Piauí, wo letztes Jahr Reste eines menschlichen Skeletts eindeutig als 50 000 Jahre alt identifiziert wurde.

Damit ist die gesamte bisherige Auffassung über die Ausbreitung der Menschen über die Kontinente widerlegt und es müssen neue Ansätze verfolgt werden und die Folgen dieser neuen Erkenntnisse für die gesamten bisherige Konzeption der menschlichen Vorgeschichte untersucht werden.

Es wurden in Brasilien Keramiken, z.B. der Santarém-Kultur, gefunden, die bis zu 30 000 Jahre alt sind. Die frühesten Steinzeitkeramiken in Europa sind 32 000 Jahre alt, also eine fast simultane Entwicklung.

Im Moment wird in Brasilien fieberhaft gegraben und es kommen fast wöchentlich neue phantastische Dokumente von fortgeschrittenen kulturellen Erzeugnissen ans Tageslicht. Die oben genannte Ausstellung zeigte einige der letzten Funde und Erkenntnisse. Die Sensation der Archäologie im Moment ist Brasilien!

Die Keramiken der Santarém-Kultur sind von einer feinen Ausarbeitung und haben Ziselierungen, wie sie bei Keramiken extrem ungewöhnlich sind. Auch sie können kaum als Kunsthandwerk betrachtet werden. Sie müssen in einer Reihe von Stücken als Kunstwerke angesehen werden. Diese Kultur verschwand aus unbekannten Gründen, bevor die Europäer Brasilien eroberten.

Etwas ähnliches gilt für die Marajoara-Kultur. Ihre Überreste wurden und werden auf der Insel Marajó ausgegraben, das ist die Insel von der Größe der Schweiz im Delta des Amazonas. Sie trennt die beiden wesentlichen Flußarme, allein der südliche, der an Belém, der Hauptstadt des Bundesstaates Pará (da kommen die Para-Nüsse her) vorbeifließt, über 50 km breit. Auch ihre Keramiken sind von künstlerischem Niveau. Sie kannten bereits eine weiße Glasur, ebenfalls ungewöhnlich bei Steinzeit-Keramiken, auf der sie dann nach dem Brennen mit roten und schwarzen Farbstoffen Keramikmalereien anbrachten, die in voller Schönheit erhalten sind. Sie begruben u.a. ihre Toten in Keramiktöpfen von Menschengröße mit solchen Ausschmückungen.

Was aber wirklich ‚das Aktuellste’ ist in der Archäologie, sind die Ausgrabungen und Entdeckungen in jenem Nationalpark im Bundesstaat Piauí, der schon erwähnt wurde. Dort tauchen fast monatlich unerwartete Neuigkeiten auf. Dort wurden Höhlen- und Felszeichnungen gefunden, die alle in Europa bekannten an Quantität und teilweise auch an Qualität übertreffen. Sie sind aus dem gleichen Zeitraum wie z. B. die von Altamira in Südfrankreich. Ob es sich bei diesen Steinzeitkulturen um Vorfahren der Indios handelt, die später angetroffen wurden, ist noch nicht bekannt. Auch diese Zeichnungen, darunter eine imposante Anzahl von Sex-Darstellungen in verschiedensten Stellungen, konnten in der oben genannten Ausstellung besichtigt werden.

Auch findet man immer wieder neue Muiraquitãs, von denen wir im letzten Teil bei Mario de Andrades ‚Macunaíma’ schon gehört haben. Sie repräsentieren ein Niveau der Jade-Schnitzereien, wie man es vorher nur in entwickelten Kulturen Chinas gesehen hat. Daß viele von ihnen, wie schon erwähnt, die Form eines Frosches haben, erklärt sich nach den neuen Erkenntnissen der Naturmedizin.

Aus bestimmten Fröschen haben die Indios eine Substanz gewonnen, die gute antibiotische Eigenschaften hat. Wenn indianische Medizinmänner also „Zaubergetränke“ brauten, hatte dies Sinn und es konnten tatsächlich Infektionen geheilt werden. Der Frosch symbolisiert deshalb schon lange bei den Indios die Gesundheit und ist damit die beliebteste Form der Muiraquetãs, die ja Amulette darstellen und Gesundheit bringen sollen.

Als ob das noch nicht reichen würde, hat man im brasilianischen Bundesstaat Paraíba auch noch Felsgravuren mit bisher ungeklärtem Alter gefunden (Pedra do Ingá), die einmalig sind. Es handelt sich nicht um Gravuren mit bildlichen Darstellungen, wie man sie bei Steinzeitkulturen erwartet, sondern um Symbole, Muster und Zeichen, die in die Felswand gegraben sind. Andere Steinzeitkulturen haben nach den bisherigen Kenntnissen so etwas noch nicht hervorgebracht. Eine Replika der gesamten Felswand war ebenfalls auf der oben genannten Ausstellung zu sehen.

Zusammengefaßt kann man schon jetzt sagen, daß noch weitere archäologische „Leckerbissen“ zu erwarten sind und daß feststeht, daß die frühen Bewohner Südamerikas z.T. ein künstlerisches Niveau erreichten, das man sonst nur aus „Zivilisationen“ kennt.

Unklar bleibt, ob die Indios, die 1500 von den europäischen Eroberern angetroffen wurden, auch Künstler dieser Qualität waren oder ob alle diese Kulturen zu diesem Zeitpunkt bereits ausgestorben waren. Da sich die Eroberer nie die Mühe gemacht haben, die künstlerischen Ausdrucksformen der Indios auch nur zur Kenntnis zu nehmen, kann man wenig darüber sagen.

Die heute übrig gebliebenen Indios sind mit Sicherheit nicht mehr als ein müder Abglanz von allem, was sie damals darstellten. Entwurzelt, dezimiert, eine geschlagene, untergehende Kultur – und selbst untergehen läßt man sie nicht in Würde.

Als im Jahre 2000 die fünfhundert Jahre seit der „Entdeckung“ Brasiliens gefeiert wurden, protestierten die Indios gegen die einseitige Geschichtssicht, die die Eroberung als „Entdeckung“darstellt und den Aspekt der fast völligen Ausrottung der Indios nicht einmal mit einem Nebensatz erwähnt. Der damalige Präsident Cardoso von Brasilien sprach die unsäglichen Worte: „Die Indios haben schon viel erhalten. Wenn sie heute demonstrieren, so weil sie mehr wollen....“

Man stelle sich vor, ein deutscher Bundeskanzler würde angesichts einer Demonstration von Juden sagen: " Die Juden haben schon sehr viel erhalten. Wenn sie heute demonstrieren, dann weil sie mehr wollen."

Hier ist der Eindruck einer brasilianischen Besucherin der genannten Ausstellung im Moment des Verlassens des Gebäudes:

„Ich war verwirrt, als ich aus den abgedunkelten Räumen der Ausstellung ins Tageslicht hinaustrat, an einem regenverhangenen Sonntag. Wie konnten die Indios jahrhundertelang als primitive Wilde behandelt und ‚verkauft’ werden und haben doch so phantastische Kunstwerke hervorgebracht? Ich stand einen Moment sinnend am Haupteingang des Gebäudes und sah auf den Platz, den Candelária-Platz, gleich links von mir die große Candelária-Kirche. Da fiel mein Blick auf ein kleines, schlichtes Holzkreuz, das dort vor der Kirche steht. An diesem Ort hatte 1993 ein Exekutions-Trupp von Polizisten 6 Straßenkinder erschossen und weitere 5 schwer verletzt, das bekannte ‚Candelária-Massacre’. Ich war wieder auf dem Boden des heutigen Brasiliens, des Brasiliens, das Millionen von Indios auf dem Gewissen hat und darauf besteht, weiterhin massenhaft Menschen zu töten. Sind es doch im Moment etwa 40 000 Brasilianer pro Jahr, die gewaltsam ums Leben gebracht werden.“

Wieviele Indios und Indianer wirklich zum Zeitpunkt der europäischen Eroberung in den Amerikas lebten, ist bis heute umstritten. Niedrige Schätzungen gehen von etwa 5 Millionen in Nord- und 4 Millionen in Südamerika aus. Die letzte Schätzung spricht dagegen von zwischen 50 und 100 Millionen in den Amerikas. Genauso wenig weiß man genau, wieviel davon direkten Massakern zum Opfer fielen, wie viele als Folge der Versklavung starben, wieviele von den von Weißen eingeschleppten Krankheiten dahingerafft wurden, wie viele Selbstmord begingen und wie viele an Hunger und Unterernährung und den damit zusammenhängenden Erkrankungen zugrunde gingen, weil sie nicht mehr den Lebensraum hatten, den ihre Weise zu leben braucht. Sicher ist nur, daß für alle diese Todesarten die Europäer verantwortlich waren.

Will man die Weißen ein wenig von Schuld freisprechen, so schätzt man den Anteil der Toten durch Krankheiten auf mehr als die Hälfte und das mag stimmen, nur kann man nicht davon ausgehen, daß diese Art der Ausrottung immer unbeabsichtigt war.

Besonders die Pocken (englisch: „Smallpox“) haben eine famose Rolle bei den Eroberungen gespielt. Man weiß heute, dass die Truppen des Aztekenkönigs Montezuma durch die Pocken fast halbiert wurden, bevor es die Spanier mit dem Rest aufnahmen. Das gleiche wiederholte sich kurz danach bei der Eroberung des mächtigen und wehrhaften Inkareichs. Die Ureinwohner der Amerikas hatten keinerlei Abwehrkräfte gegen Krankheiten, die gesunde junge Europäer normalerweise überlebten. Pocken und Masern waren für sie immer tödlich, andere typische Krankheiten wie der normale Schnupfen verliefen weit schwerer. Es liegen keine Beweise vor, daß die Spanier dies bereits zu diesem Zeitpunkt bewußt als Waffe einsetzten, aber es kam ihren Absichten sicherlich sehr entgegen. Später wußte man aber mit Sicherheit, daß die Pocken eine tödliche Biowaffe waren.

Es gibt dazu einen Brief aus dem Jahre 1763, geschrieben vom damaligen Oberkommandierenden der Britischen Truppen in Nordamerika, Feldmarschall Sir Jeffrey Amherst, als Antwort auf die Frage eines seiner Kommandeure, eines gewissen Bouquet, der angefragt hatte, ob man nicht die Pocken unter den ‚illoyalen’ Stämmen der Indianer mit Hilfe des Verteilens infizierter Decken verbreiten könne.

Zeichnung von der Übergabe der mit dem Pockenvirus infizierten Decken an die Indianer

Amherst to Bouquet, 17th of July 1763: „You will do well to try to inoculate the Indians by means of Blanketts as well as to try Every other method that can serve to Extirpate this Execrable Race. “ [Großschreibung im Original]

Amherst hatte zu diesem Zeitpunkt gerade siegreich den sieben Jahre dauernden Krieg gegen die Franzosen um die Herrschaft in Kanada abgeschlossen (1756 – 1763) und war nun mit dem ‘Pontiac Aufstand’ der Ottawa-Indianer konfrontiert. Pontiac war der Häuptling der Ottawa-Indianer.

Ist es nicht Ironie, daß ‚Pontiac’ heute eine der großen Automarken in den Vereinigten Staaten ist? Ob da wohl jedes Auto mit einer Decke kommt?

All dies läßt sich leicht verifizieren, wenn man „Jeffrey Amherst“ googelt.

Aber selbst wenn man davon ausginge, daß der krankheitsbedingte Teil der Ausrottung immer unabsichtlich geschehen wäre, sind auch die Massaker, die Versklavung und die die bewußte Beschneidung des Lebensraumes schon genügend, um den ach so christlichen Europäern den bewußten und massenhaften Genozid vorzuwerfen – und das über mehrere Jahrhunderte hinweg.

Und um speziell vom Christentum zu reden, die Missionare waren zu allen Zeiten und sind es noch heute Hauptträger und Mittäter dieses wahrscheinlich größten und langdauernsten Genozids der Menschheitsgeschichte. Sie kamen üblicherweise mit oder kurz nach den Eroberern, sie setzten sich dort fest und gaben damit allen eventuell einschleppbaren Krankheiten die beste Chance, die Ureinwohner zu infizieren. Sie setzten alles daran, sie von ihren Gewohnheiten abzubringen und halfen dadurch, sie ihrer Lebensgrundlage zu berauben. Sie versuchten, die Medizinmänner, die nach heutigen Erkenntnissen weit fortgeschrittenes Wissen über Naturmedizin hatten, zu desavouieren und raubten den Indios und Indianern damit eine andere Grundlage zum Überleben, vor allem aber segneten sie und die Kirchen, die sie gesandt hatten, alle einzelnen Genozid-Maßnahmen ab, seien es die Massaker, die Versklavung oder der Landraub. Der Papst verkündete auf Anfrage ausdrücklich, daß diese Indios keine unsterbliche Seele hätten und damit wie Tiere behandelt werden durften. Als die Jesuiten einmal gegen die Behandlung der Indios protestierten, ließ der Papst die Jesuiten aus Südamerika abziehen. (Diese Fakten kommen u.a. im Film „Mission“ vor, der im Gebiet der Grenze zwischen Brasilien und Paraguai spielt.)

Die missionarische Tätigkeit war (und ist), bestens belegt, eines der wichtigsten Probleme, das die amerikanischen Ureinwohner hatten (und haben). In dieser Erkenntnis haben heute die meisten Staaten in Südamerika, speziell Brasilien, Paraguai und Bolivien, die Missionstätigkeit bei Stämmen, die noch im Regenwald und entfernt von den Weißen leben, unter Strafe gestellt. Ungeachtet dessen gibt es weiterhin gewisse religiöse Organisationen, die unter höchster Geheimhaltung solche Stämme suchen und ‚missionieren’.

Ein Beispiel dafür kann man in einem Bestseller des US-amerikanischen Autors John Grisham, „Das Testament“ nachlesen, in dem er u.a. von einer Missionarin im Pantanal im Grenzgebiet zwischen den drei genannten Staaten erzählt. Während der Roman natürlich erfunden ist, stellt er in einer Anmerkung des Autors am Schluß des Buches fest, daß er seine Kenntnisse dieser Gegend, in der es noch Indio-Stämme gibt, die keinen oder wenig Kontakt zu Weißen hatten, von einem baptistischen Missionar hat, der ihn auf eine Tour ins Innere des Pantanal mitgenommen hat. Im Buch selbst wird auch über die strenge Geheimhaltung dieser baptistischen Missionstätigkeit berichtet.

Wenn heute gewisse Politiker von unserer ach so hehren westlich-christlichen Zivilisation und ihren hohen Werten schwafeln, (die es gegen die Angriffe durch die so weit unter unserer stehenden muselmanischen Kultur zu verteidigen gelte), so sollten wir uns immer daran erinnern, was die Träger dieser westlich-christlichen Zivilisation schon angerichtet haben und, wenn man nur in den Irak sieht, weiter anrichten. Wann hätten je islamische Eroberer auch nur annähernd Vergleichbares getan?


Dies ist der dritte Teil der Brasilien-Serie von Elmar Getto. Er erschien in "Rbi-aktuell", heute Berliner Umschau, am 8. Dezember 2004, hier in einer vom Verfasser redigierten und aktualisierten Version.


Hier die Links zu allen Teilen der Reihe „Brasilien jenseits von Fussball und Samba“

- Teil 1: „Wie der Amazonas zu seinem Namen kam“

- Teil 2: ‚Menschenfresser-Country’

- Teil 3: „Ausgerottete Künstler“

- Teil 4: Niemeyer ist 100 – ‚Auf dem Höhepunkt des Schaffens’

- Teil 5: Brasilien und Gold

- Teil 6: Die Landschaften Brasiliens – Der Amazonas-Regenwald

- Teil 7: Brasilien und der Strom

- Teil 8: Die Landschaften Brasiliens – Mata Atlântica

- Teil 9: Santos Dumont und der erste Motorflug

- Teil 10: SIVAM – Big Brother in Amazonien

- Teil 11: Sprit aus nachwachsenden Rohstoffen

- Teil 12: Regenwaldvernichtung und Trockenheit im Amazonasgebiet

- Teil 13: Wie unsere Zukunft in der beginnenden kapitalistischen Barbarei aussähe – „Ich habe kein Leben“

Sonntag, 29. Juni 2008

'Menschenfresser Country'

Brasilien jenseits von Fußball und Samba

Teil 2: Menschenfresser Country

Von Elmar Getto

Brasilien (topographisch)

Im ersten Teil haben wir berichtet, woher der Name Amazonas kommt und von einem Teil der Indios, welche die portugiesischen und spanischen Eroberer in jenem Land antrafen, das kurze Zeit später Brasilien heißen sollte, jenem Teil nämlich, der noch in der Urgemeinschaft lebte.

Aber viele indianische Stämme waren schon weiter entwickelt und waren auch recht wehrhaft.

(...) Es gab auch Begegnungen, die nicht so freundlich abliefen. Der spanische Seefahrer Pinzón, einer der Kapitäne der Kolumbus-Reise von 1492, wurde Ende des Jahres 1499 von der spanischen Krone mit einer weiteren Expedition beauftragt. Er erreichte den amerikanischen Kontinent im Januar 1500, abgetrieben durch einen Sturm, in Südamerika (die Seefahrer mußten damals bei jeder Atlantiküberquerung mit der Strömung von den Kanarischen oder Kapverdischen Inseln aus nach Westen segeln und kamen damit immer genau in die dort bis heute bestehende „Küche der Hurrikans“).

Später konnte rekonstruiert werden, daß Pinzón, entgegen seiner Annahme, in der Nähe der heutigen Stadt Fortaleza, Hauptstadt des brasilianischen Bundeslandes Ceará, anlandete, am Cap Ponta de Mucuripe, wo ein kleiner Fluß ins Meer mündet, der heute noch den Namen trägt, den die Indios ihm gegeben haben: Curú. Damit hatten eigentlich die Spanier Brasilien entdeckt, denn Cabral machte seine Entdeckung ja erst im April des gleichen Jahres, aber dies hatte keine praktischen Konsequenzen.

Pinzón, offenbar ein Mann vom Typ George W. Bush, wurde bekannt dafür, daß er alle Indios, die er antraf, versuchte gefangenzunehmen und als Sklaven auf die Schiffe laden zu lassen. Er selbst beschreibt die Begegnung mit dem Stamm der Potiguar, die ihn dort am Strand des heutigen Ceará erwarteten, so als ob die Indios angegriffen hätten. Wir können aber getrost davon ausgehen, daß er es war, der die Gefangennahme versuchte und die Wehrhaftigkeit der Indios kennenlernen mußte.

Potiguar war der Überbegriff für eine Gruppe von Indio-Stämmen, die zu jener Zeit die gesamte Küste vom Norden Cearás bis hinunter zum heutigen Bundesland Paraíba bewohnten, eine Strecke von 600 Kilometern. Sie waren bereits fortgeschrittener in der Entwicklung, kannten erste und einfache Formen von Ackerbau (Manniok-Wurzeln), hatten schon eine entwickelte Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau und erste frühe Formen einer Familienbildung. Dort am Strand traten den Spaniern nur die Männer, die Krieger des Stammes entgegen, vorsichtig auskundschaftend, was die fremdartigen Männer von den scheinbar riesigen Schiffen, in schillerndes Metall gekleidet, im Schilde führten.

Außerdem hatten die Potiguars eine kleine Unart, die damals viele Indios in Südamerika hatten, sie aßen Menschen.

Aber bevor wir berichten, wie die Eroberer diese ‚Unart’ kennen lernen sollten, sind wir ja noch in Ceará in und an der Flußmündung des Curu.

Als sie (wahrscheinlich) von den Leuten Pinzóns angegriffen wurden, nahmen die Potiguar mit einem Trick einen blitzschnell gefangen und töteten ihn. Offensichtlich zogen sich die europäischen Eroberer daraufhin auf ihre Landungsboote in der Flußmündung zurück.

Die folgende Szene dort in der Flußmündung in Ceará im Januar 1500 ist schon fast Legende. Die Indio-Krieger griffen die Spanier in ihren Booten an, nur mit steinzeitlichen Pfeil und Bogen und Lanzen gegen die waffenklirrenden und Rüstung tragenden Europäer, im Wasser watend gegen die von oben aus den Booten kämpfenden Spanier. Das Resultat dieses ungleichen Gefechts kann sich jeder ausmalen.

Hören wir den Bericht von Pinzón selbst über diesen ungleichen Kampf:

„Im Fluß verteilen sich jene wehrhaften Männer rund um die Boote, klammern sich an die Bootsränder und versuchen uns vom Flußufer zu erreichen. Unsere Lanzen und Schwerter schlachteten sie wie Schafe, denn sie waren nackt. Doch selbst so zogen sie sich nicht zurück. Sie können eines unserer Boote erobern, selbst nachdem ihr Anführer von einem Pfeil durchbohrt und getötet worden war. Der Rest konnte sich retten. Um es kurz zu machen (...): Sie töteten acht von unseren Männern mit Pfeilen und Wurfspeeren und es gab fast keinen von uns, der nicht eine Verletzung aufzuweisen hatte. Wenn ihre Pfeile vergiftet gewesen wären, keiner von uns würde mehr existieren.“

Fast alle Indios wurden also abgeschlachtet. Einer der ersten Momente des Kontakts von Europa und Südamerika wurde zum Menetekel: Die Europäer würden die Indios ausrotten.

Der atlantische Regenwald, der damals noch fast die gesamte Küste des heutigen Brasiliens bedeckte (heute gibt es nur noch 8% davon), hat zwar die höchste Zahl von Spezies pro Quadrat-Kilometer von allen bekannten Habitats, kannte aber nicht jene Art von Baumfröschen, deren hochwirksames Gift viele Indiostämme sich zunutze machten (Gerade vor kurzem wurde berichtet, daß man herausgefunden hat, daß es ein Käfer ist, der dieses Gift produziert und der eine Nahrung für jene Frösche darstellt). So hatten die Potiguar keine Pfeilgifte und das spanische Landungsteam überlebte zum großen Teil.

Ein Jahr später, 1501, ebenfalls beim ersten Kontakt mit dem südamerikanischen Festland, traf eine portugiesische Expedition unter Coelho (wir berichteten schon im 1. Teil von ihr) auf eine andere Gruppe von Potiguar-Indios, ein Stück weiter südlich, im heutigen brasilianischen Bundesland Rio Grande do Norte, nahe dem Cap, das man als ‚Horn von Südamerika’ bezeichnen kann, das am weitesten nach Osten vorspringt.

Die dortigen Potiguar-Indios hielten sich in sicherer Entfernung und Coelho sandte einen Trupp von sechs Männern zur Erkundung aus. Doch die sechs kehrten nicht zurück. Nach einer Woche war der Strand plötzlich voll von Indio-Frauen. Einer der Schiffsjungen wurden von einem Landungsboot zu ihnen geschickt. Sie betasteten ihn von allen Seiten, erschlugen ihn dann und verschwanden in höchster Geschwindigkeit mit seinem Leichnam zur Kuppe eines nahegelegenen Hügels. Gleichzeitig tauchten die Männer auf, die sich bisher versteckt hatten und setzten die Portugiesen (und Americo Vespucci, der uns diese Szene schildert) unter einen Pfeilhagel. Kanonenschüsse verjagten zwar die Männer, aber nun mußten die erstarrten Eroberer mit ansehen, wie die Potiguars den Leichnam des Schiffsjungen in Stücke schnitten, an einem großen Feuer grillten und verzehrten. Die Männer machten gleichzeitig Handzeichen, die nur so verstanden werden konnten, daß das gleiche auch mit den sechs Männern geschehen war.

Diese Szene, geschildert in allen Details, war Teil eines der Briefe von Americo Vespucci an seine Florentiner Auftraggeber und wurde später in die Broschüre aufgenommen, die in ganz Europa Verbreitung fand. Die Folgen waren verheerend und sind es bis heute. Brasilien wurde seit der Zeit, als es noch nicht einmal einen Namen hatte, zum Land der ‚Menschenfresser’ und ist es im Grunde bis heute.

Allerdings muss man, um den Indios Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, auch erwähnen: Menschen zu essen war eine Kulthandlung, nicht etwas, das den Hunger stillen sollte. Die Indios hatten sehr wohl schon den gleichen Respekt vor dem menschlichen Körper, wie wir ihn heute haben, auch wenn er tot ist. Sie assen Menschen, um sich deren Kraft, deren Intelligenz, deren Kenntnisse und Fertigkeiten anzueignen. Niemals wurden Menschen nur darum getötet, um sie zu essen.

Vier Jahrhunderte später, in den zwanziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts, formierte sich eine kleine Gruppe von brasilianischen Intellektuellen und Künstlern zu einer Gruppe (in Europa hätte man gesagt „ ... von Expressionisten“), nannte sich ‚Modernisten’ und veranstaltete 1922 in São Paulo die ‚Woche der modernen Kunst’, was einen heftigen Skandal auslöste. Wurden die Expressionisten in Europa beschimpft, verspottet und angepöbelt und ein wenig später als „entartet“ bezeichnet, warum sollte es ihren Freunden in Brasilien besser ergehen?

Die wichtigsten Exponenten dieser Bewegung des ‚Modernismus’ in Brasilien waren der geniale Musiker, Dichter und Schriftsteller Mario de Andrade (1893 – 1945), der (nicht mit ihm verwandte) Poet, Schriftsteller, Dramaturg, Anwalt und Journalist Oswald de Andrade (1890 – 1954) und dessen spätere Frau, die Malerin und Bildhauerin Tarsila de Amaral (1886 – 1973). Sie kamen aus wohlhabenden Familien und kannten Paris und die dortigen Expressionisten. Tarsila war schon mit Picasso zusammengetroffen.

Mario de Andrade hatte bereits als Jugendlicher Gedichte verfaßt, in denen er Worte erfand, deren ‚Bedeutung’ aus den Assoziationen hervorging, die ihr Klang hervorrief. Sein wichtigster Roman ‚Macunaíma’ dürfte das wichtigste Dokument des brasilianischen Modernismus in der Schriftstellerei darstellen, wurde aber in Europa nie wirklich zur Kenntnis genommen. Bis heute rätseln Experten über die Bedeutung einiger Stellen im Roman.

Er handelt u.a. von der Suche des Titelhelden, der ‚keinerlei Charakter’ habe, in allen Gegenden Brasiliens nach einem Muiraquitã, einem Amulett mit Zauberkräften in Gestalt eines Frosches, das einer der Frauen des indianischen Cumurí-Stammes gehört hatte, nach denen der Amazonas benannt worden war. Muiraquitãs sind aus Jade geschnitzte Amulette in Form von Tieren, denen auch heilende Eigenschaften zugeschrieben wurden.

Mario mischt die Stile, wie Mythologie, Geschichtsschreibung und Folklore mit Parodie, Chronik und lyrischem Epos, das Ganze in brasilianischem Portugiesisch mit vielen regionalen Slang-Ausdrücken und kommt immer wieder auf die indianischen Wurzeln zurück.

Macunaímas Suche stellt wohl die Suche des Brasilianers nach seiner Identität zwischen Portugiesen, Indios und Schwarzen dar. Keine Frage, daß ausführlich Menschen(-teile) verspeist werden, gibt es brasilianischeres?

Immerhin gibt es ‚Macunaíma’ seit 2001 als Suhrkamp Taschenbuch Nr. 3198. Es wird bei „buch.de“ für € 3,95 verkauft. Muß wohl auf kein großes Interesse gestoßen sein, daß man es jetzt verramscht.

Mehrfach hatten die ‚modernistischen’ Brasilianer von europäischen Intellektuellen hören müssen, sie kämen ja aus einem Land, wo man Menschen ißt.

O Abaporu - Tarsila de Amaral

Als nun Tarsila 1928 eines ihrer Meisterwerke gelungen war, das Gemälde ‚O Abaporu’, gaben sie und ihr Mann Oswald ihm diesen Namen, der ‚Menschenfresser’ in der indianischen Sprache Tupi-Guarani bedeutet.

In trotziger Reaktion auf die arroganten Sprüche der europäischen Intellektuellen, in bewußter Annahme ihrer ‚Brasilianität’ (das ist die Übersetzung eines der von Mario de Andrade erfundenen Worte) und in einer symbolischen Anspielung auf die verschiedenen Einflüsse, die sie ‚verschlangen’ und zu etwas Neuem umgestalteten, nannten sie ihre Gruppe jetzt „Bewegung der Antropofagen“ (Menschenfresser in der griechischen, wissenschaftlichen Bezeichnung) und Oswald gab das ‚Anthropofagische Manifest’ heraus.

Hier ein Zitat aus der Schrift der Kunstdirektorin eines Museums in Südafrika anläßlich der südafrikanischen Beteiligung an der Kunst-Biennale 2004 in São Paulo, Brasilien, in Bezug auf dieses Manifest:

„Das ‚Manifesto Anthropófago’ des brasilianischen Schriftstellers Oswald de Andrade, 1928 geschrieben, erklärte „Menschenfresserei“ als Prozeß des Absorbierens und Mischens anderer Kulturen. In Brasilien ist „Anthropofagia“ (Menschenfresserei) ein ‚transhistorisches’ Kunst-Konzept, das die eurozentrische Konzeption der Geschichte der Kunst herausfordert.“

Tarsila de Amaral kann ohne weiteres in einem Atemzug genannt werden mit Franz Marc oder Wladimir Kandinski, ist hier aber weithin unbekannt, von Mario de Andrade und seinem Macunaíma ganz zu schweigen.

Die europäische Kunstszene ignoriert fast völlig diese bedeutenden brasilianischen Beiträge zur Kunstrichtung, die hier generalisierend als ‚Expressionismus’ (die brasilianischen Künstler haben sich dieses ‚Etikett’ nie zu eigen gemacht) bezeichnet wird und das ist charakteristisch. Es reicht, aus ‚Menschenfresser Country’ zu kommen und man wird in Europa von oben herab angesehen.

Der Eurozentrismus ist eine generelle Eigenschaft der europäischen Kultur, nicht nur in der Kunstszene. Man macht sich hier leicht lustig über die Unkenntnis vieler US-Amerikaner über Dinge außerhalb ihres Landes, hat aber selbst tiefsitzende Vorurteile. Man beginnt dies als Europäer erst zu bemerken, wenn man eine Zeit in einem Entwicklungsland gelebt hat. Das Gefühl, ‚etwas Besseres zu sein’ als jemand aus einem Entwicklungsland wird uns in Europa mit der Muttermilch eingetrichtert und es gelingt selbst in einem bewußten Prozeß kaum, sich davon zu befreien.


Heute der zweite Teil von Elmar Gettos Brasilien-Serie, erschienen ursprünglich in "Rbi-aktuell", heute Berliner Umschau, am 1. Dezember 2004, hier in redigierter und aktualisierter Fassung


Hier die Links zu allen Teilen der Reihe „Brasilien jenseits von Fussball und Samba“

- Teil 1: „Wie der Amazonas zu seinem Namen kam“

- Teil 2: ‚Menschenfresser-Country’

- Teil 3: „Ausgerottete Künstler“

- Teil 4: Niemeyer ist 100 – ‚Auf dem Höhepunkt des Schaffens’

- Teil 5: Brasilien und Gold

- Teil 6: Die Landschaften Brasiliens – Der Amazonas-Regenwald

- Teil 7: Brasilien und der Strom

- Teil 8: Die Landschaften Brasiliens – Mata Atlântica

- Teil 9: Santos Dumont und der erste Motorflug

- Teil 10: SIVAM – Big Brother in Amazonien

- Teil 11: Sprit aus nachwachsenden Rohstoffen

- Teil 12: Regenwaldvernichtung und Trockenheit im Amazonasgebiet

- Teil 13: Wie unsere Zukunft in der beginnenden kapitalistischen Barbarei aussähe – „Ich habe kein Leben“

Freitag, 27. Juni 2008

Entsetzliches Ende für drei junge Leute

Einsatz des Militär im Inneren: Hier sieht man die Resultate

Von Karl Weiss

Drei junge Männer, eigentlich noch Heranwachsende, wurden von Truppen, die in einer Favela in Rio de Janeiro eingesetzt waren, gefangen genommen und an die gegnerische kriminelle Organisation der Nachbarfavela ausgeliefert, die sie zu Tode folterten. Ihre Leichen wurden im Abfall gefunden.

Favela in Belo Horizonte

Die drei jungen Leute wurden eventuell von der kriminellen Organisation, die diese Favela beherrscht, zu Diensten gezwungen. Von der konkurrierenden Kriminellen-Organisation des anderen Hügels wurden sie als Feinde angesehen. Zu Tode foltern ist in der kapitalistischen Barbarei, die in Rios Favelas bereits herrscht, das, was jedem „Feind“ passiert.

Insofern ähneln sich die großen imperialistischen kriminellen Organisationen, wie der Staatsapparat der USA, und die kleineren regionalen kriminellen Organisationen, die nur ein paar Hügel unter sich haben. Die einen sagen Feind, die anderen "feindliche Kombattanten", die einen foltern gleich zu Tode, die anderen dafür umso länger.

Guantánamo Wagen

Das Ganze hat Zusammenhänge, die bis zum Präsidenten Lula gehen.

Es begann mit einer sozialen Aktion, die ein Kandidat für die Bürgermeisterwahlen im Oktober in Rio, Crivella, in der Favela Providência durchführen lassen wollte. Es ging um Renovierungsarbeiten von Fassaden und Dächern der Häuser in der Favela.

Lula, mit dem Crivella politisch verbunden ist, erklärte, man müsse zur Sicherung der sozialen Aktionen in den Favelas Truppen dort hineinschicken. So standen plötzlich für den Krieg ausgebildete Männer mitten in einer Favela, die von einer mafiaähnlichen kriminellen Gross-Organisation beherrscht wird.

Das konnte natürlich nicht gut gehen.

Die Soldaten hatten dort gar nicht den Auftrag, für gesetzmässige Verhältnisse zu sorgen. Sie sollten lediglich die Sicherheit der Renovierungs-Arbeiten gewährleisten. So wurde dann auch schnell eine Vereinbarung mit der Mafia-Organisation der Favela geschlossen: Ihr lasst uns hier in Ruhe das Renovieren überwachen und wir lassen euch in Ruhe euren „Geschäften“ nachgehen.

Aber es gab irgendwelche Probleme mit der konkurrierenden kriminellen Organisation des Nachbar-Favela-Hügels Mineira. Welcher Art diese genau waren, ist bis heute nicht an Tageslicht gekommen. Jedenfalls hat der Kommandant der Truppe (oder ein Unter-Kommandant) offenbar mit den Kriminellen des Nachbar-Hügels eine Vereinbarung getroffen, die beinhaltete, dass man drei junge Männer aus der Providência-Favela zum Abschlachten erhält. Gesagt – getan!

Allerdings kam alles schnell heraus, nachdem die Leichen in Müllbehältern gefunden worden waren. Zeugen hatten gesehen: Die drei waren vom Militär fstgenommen worden. Als die Bewohner erfuhren, was die Soldaten mit ihren Kindern/Verwandten/Kameraden gemacht hatten, rebellierten sie gegen die Militärs und es kam zu hässlichen Zusammenstössen.

Dann griff wieder Präsident Lula ein und verurteilte die Tat der Truppe. Ein Gericht entschied, sie muss die Favela sofort verlassen. Aber das Militär steht in Brasilien über dem Gesetz. Die Soldaten blieben trotzdem da.

Tausende erschienen zur Beerdigung der Folteropfer und die ganze Sache bekam soviel Gewicht, dass der Verteidigungsminister nun wirklich die Truppen abzog. Damit waren aber auch die Renovierungsarbeiten beendet – halb fertig. Nun streitet man sich darum, wie man die Arbeiten beenden will.

So vermischt sich in Gegenden mit einer Doppelherrschaft von einerseits der Regierung und andererseits kriminellen Profi-Organisationen vom Mafia-Stil viel Blut mit Schweiss, wenn man gleichzeitig an Orten Präsenz zeigen will, die gar nicht unter der eigenen Oberhoheit stehen und dabei auch noch mit Steuermitteln Wahlkampf betreibt.

Hier kann man in etwa erkennen, was kapitalistische Barbarei bedeutet – und die ist ja erst am Beginn. Man male sich aus, wie die in voller Entwicklung aussieht.

Auf jeden Fall zeigt sich auch an diesem Beispiel: Der Einsatz vom Truppen im Inneren wird immer mit grausamem Blutvergiessen verbunden sein.

New Torture Photo1

Übung von KSK-Truppe gegen Zivilisten

Für die Beibehaltung des Verbots des Einsatzes der Bundeswehr gegen die eigene Bevölkerung!


Veröffentlicht am 27. Juni 2008 in der Berliner Umschau

Originalveröffentlichung


Zusatz zum Artikel

Ein brasilianisches Sensationsblatt hat darüber berichtet, wie die drei zu Tode gefoltert wurden. Man habe angeblich indirekten Zugang zum Obduktionsbericht der drei Ermordeten gehabt. Allerdings hat die Polizei diese Meldung dementiert. Da man aber schon Einzelheiten der Ermordung eines Journalisten vor drei Jahren erfahren hat, kann sie absolut wahr sein. Mit allem Vorbehalt also - und deshalb auch nur als Zusatz:
Die drei seinen am ganzen Körper übersät mit Brandwunden gewesen. Man habe sie offenbar stundenlang mt einem Schweissbrenner oder einer Lötlampe verletzt. Allen dreien sei bei lebendigem Leib der Penis vollständig abgebrannt worden. In den After habe man grosse Holzpflöcke eingeschlagen, die schwere Verletzungen hervorgerufen hätten. Danach habe man ihnen die Hoden abgeschossen. Am Ende seinen allen dreien bei lebendigem Leib mit Salven von Schüssen beide Beine vollständig abgetrennt worden. So habe man sie dann verbluten lassen.
Selbst wenn die Meldung so nicht oder nicht vollständig wahr ist - sie gibt doch einen Einblick, was man sich unter kapitalistischer Barbarei vorzustellen hat, die uns alle treffen wird, wenn wir nicht mit diesem System aufräumen.

Dienstag, 24. Juni 2008

Streik der Lehrer an Staatsschulen in São Paulo

Niedrige Lehrerbesoldung ist charakteristisch für Entwicklungsländer

Von Karl Weiss

Die geringe Bezahlung von Lehrern ist ein typisches Anzeichen von Entwicklungsländern. Während in den entwickelten Industriestaaten die Lehrerbesoldung auf der gleichen Ebene liegt wie die von Richtern oder von Ärzten im Staatsdienst, sind die Personen, die am meisten die Zukunft des Landes bestimmen, die Lehrer, in Entwicklungsländern durchweg chronisch unterbezahlt. In São Paulo, Brasilien, wehren sich nun die Lehrer an den Schulen des Staates (Bundeslandes) mit einem Streik und Demonstrationen gegen die ständig sinkende Realbezahlung.

São Paulo, grösste Stadt der südlichen Hemisphere

In Brasilien war die Bezahlung der Lehrer immer schon weit unterhalb von allem, was Studierte an anderen Arbeitsplätzen verdienen, aber die 8 Jahre Neoliberalismus des Präsidenten Cardoso haben dies zum offenen Skandal werden lassen. Er hat während der ganzen 8 Jahre seiner Herrschaft keine einzige Lohnerhöhung im öffentlichen Dienst zugelassen (mit der Ausnahme einiger kleiner Gruppen), was für die Lehrer bei 50% Inflation während dieser 8 Jahre ihre sowieso schon kleinen Gehälter zu einem Hungerlohn gemacht hat. Dies betrifft sowohl Grundschul- und Hauptschul- als auch Lehrer des 2. Grades (was unseren Gymnasiallehrern entspricht).

Man sehe sich an, was die Lehrer verdienen, die im Streik stehen:

Ein Lehrer der Klassen 1 bis 4 bekommt monatlich bei einer 40-Stunden-Woche 1167 Reais (467 Euro), einer der Klassen 5 bis 8 1351 Reais (540 Euro), Schuldirektoren bekommen 1409 Reais (564 Euro), Schulräte 1638 (655 Euro). Das Hilfspersonal der Schulen (Hausmeister, Bibliothekar usw. ) erhält im Monat 635 Reais (254 Euro), die Mitarbeiter im Schulsekretariat 882 Reais (353 Euro).
Wer schon einmal mit Hartz-IV 347 Euro plus Miete auskommen musste, hat eine Vorstellung, was eine solche Bezahlung bei Vollzeitarbeit bedeutet (die Lehrer müssen natürlich ihre Miete von diesem Gehalt aufbringen).

Jeder kann sich vorstellen, wer unter diesem Bedingungen noch Lehrer wird, nur Idealisten und Leute, die als Lehrer ungeeignet sind.

Die Regierung Lula hat soeben den Bundes-Lehrern – wie auch anderen Bundes-Beschäftigten im öffentlichen Dienst - eine Erhöhung über der Inflationsrate zugestanden. Der Bundesstaat São Paulo aber wird von einem Vertreter der neoliberalen Oppositionspartei PSDB geleitet, der Partei des früheren Präsidenten Cardoso, deren Motto ist: „Keinerlei Erhöhung für öffentliche Bedienstete, Privatisieren von allem und der Markt richtet dann alles.“

Diesmal wird jener Gouverneur aber nicht darum herumkommen, denn der Streik hat offensichtlich eine hohe Beteiligung. Auch wenn der zuständige Staatssekretär behauptete, nur 2% der Schulen seien vollständig geschlossen, so zeigte sich bei der Demonstration und Kundgebung am Freitag im Zentrum von Saõ Paulo, wie gross die Beteiligung ist.

Kundgebung der streikenden Lehrer des Staates São Paulo in der Hauptstadt

Die „ Avenida Paulista“, der traditionelle Ort für Feiern und Demonstrationen in der grössten Stadt der südlichen Hemisphäre, war schwarz vor Menschen. Der Gouverneur hat inzwischen bereits 12% Erhöhung angeboten.


Veröffentlicht am 24. Juni 2008 in der Berliner Umschau


Originalveröffentlichung

Sonntag, 22. Juni 2008

Wie der Amazonas zu seinem Namen kam

Brasilien jenseits von Fußball und Samba

Teil 1: Wie der Amazonas zu seinem Namen kam

Von Elmar Getto

Brasilien (topographisch)

Brasilien, das bleibt für viele neben dem Fußball die Vorstellung von leicht bekleideten dunkelhäutigen Schönheiten. Eine Befragung von Fremdenführern in Rio de Janeiro ergab die Einschätzung, daß etwa 80% der Touristen aus Europa und den USA, die nicht in Geschäften in Brasilien sind, Männer mit klaren sexuellen Absichten sind.



Das Bild der halbnackten dunkelhäutigen Schönen aus Rios Karneval ist fast zum Symbol des Landes geworden, eine schwere Hypothek, die speziell Brasiliens Frauen zu tragen haben.

Rio de Janeiro Botanischer Garten 1

Aber Brasilien ist viel mehr als Fußball, braune Haut und Samba.

- Es ist das Fünfte in der Liste der bevölkerungsreichsten Länder der Erde und ebenso das fünftgrösste in Ausdehnung.

- Es ist das Entwicklungsland mit dem höchsten Brutto-Sozialprodukt (China und Indien können heute nicht mehr als Entwicklungsland betrachtet werden. Heute werden die vier Länder Brasilien, Russland, Indien und China als BRIC-Länder bezeichnet und gelten als Schwellenländer, als Länder an der Schwelle zu einem entwickelten Land.

- Es ist Nr. 11 in der Liste der Industriestaaten weltweit (GNP=Gross National Product), noch vor Spanien. In der Zählung nach Kaufkraft - ohne Verwendung der Wechselkurse, die von verschiedensten Faktoren abhängen - ist Brasilien auf dem 9. oder 10. Platz, etwa gleichauf mit Russland.

- Es besitzt bei weitem die größten Süßwasservorkommen aller Länder.

- Es ist das Land mit der größten Rassenmischung. Mehr als ein Drittel der Brasilianer haben Vorfahren aus mehr als einer der drei grossen Gruppen von Rassen. Das, soweit man die Existenz von Rassen als gegeben betrachtet, was nach heutigen Kenntnisen der menschlichen DNA aber nicht der Fall ist.

- Es besitzt die extremste Ungleichverteilung des Einkommens zwischen Arm und Reich außerhalb Afrikas.

- Es hat eine Anzahl der beeindruckendsten landschaftlichen Schönheiten der Erde, wie das Amazonasbecken, der Küstenregenwald Mata Atlântica, Rio de Janeiro, der Pantanal und die Iguaçu-Wasserfälle.

Rio de Janeiro, Zuckerhut und Corcovado von Niteroi aus

- Es dürfte inzwischen eines der Länder mit der größten Zahl an Gewaltverbrechen sein.

- Es hat nach einer Umfrage unter Touristen die freundlichste Bevölkerung.


Hieronymus Bosch Der Garten der Lüste

Hier beginnen wir die Serie über Brasilien mit einem Blick zurück in die Anfänge des Landes mit diesem Namen. Brasilien wurde - es geht die Sage, durch Zufall - von der Schiffsexpedition unter Pedro Alvares Cabral, einem portugiesischen Seefahrer und Eroberer, im Jahre 1500 entdeckt ("entdeckt" aus der Sicht Europas, in Wirklichkeit erobert), als er vom König Dom Manuel I. ausgeschickt worden war, den Weg Vasco da Gamas zu folgen, der ein Jahr vorher den Seeweg nach Indien um das Kap der Guten Hoffnung (die Südspitze Afrikas) entdeckt hatte.

Vasco hatte Cabral den Rat gegeben, die windarme Zone vor der Westküste des südlichen Afrika in weitem Bogen zu umfahren. Cabral hätte den Bogen etwas zu groß geschlagen, so geht die Sage, so daß er plötzlich Südamerika in der Form eines Berges zu sehen bekam und dann darauf zu hielt, um diese „Insel“ in portugiesischen Besitz zu nehmen, „wenn man schon mal da war“.

Viel wahrscheinlicher ist allerdings, daß der portugiesische König Anweisung gegeben hatte, in diesem Land auf dem Weg nach Indien ‚vorbeizuschauen’, denn zu diesem Zeitpunkt hatte Kolumbus bereits drei seiner vier Reisen in die „Neue Welt“ absolviert und dabei auch einmal südamerikanischen Boden betreten (3. Reise, 1498, auf der Höhe des heutigen Venezuela). Man wußte also, daß da weiter im Süden ebenfalls Land anzutreffen war. Ebenso hatte man bereits im Jahre 1494 im Vertrag von Tortillas mit den Spaniern die „Neue Welt“ in zwei Teile aufgeteilt (zu diesem Zeitpunkt noch ohne Gewissheit, ob es sich um die östlichen Teile Asiens handelt, wie Columbus meinte, oder ob man einen neuen Kontinent entdeckt hatte) und eine imaginäre Nord-Süd-Linie 370 Meilen westlich der Kapverdischen Inseln als Teilung festgelegt (alles östlich ging an Portugal, alles westlich an Spanien).

Die grossen Entdeckungs- und Eroberungsfahrten der Seefahrer (Kolumbus, Vasco da Gama, Magellan und andere) in der Renaissance (die Renaissance ist ja geradezu durch sie definiert) wurden nicht aus Entdeckungsdrang, sondern aus ganz kühlen wirtschaftlichen Gründen in Angriff genommen. Im Jahre 1453 hatten die Türken Konstantinopel erobert, das seitdem Istambul heißt und damit den Europäern den Landweg nach Indien abgeschnitten, das heißt zu den Kräutern und Gewürzen sowie den Textilfarbstoffen, die die Araber dort verkauften (eigentlich stammten diese Waren von den ‚Mollukken’, d.h. aus den Philippinen). Die wichtigsten Seemächte jener Zeit, Spanien und Portugal, sahen sich also herausgefordert, den Seeweg nach Indien zu finden und damit zu Weltmächten aufzusteigen.

Der Handel mit den Gewürzen, Kräutern und Farbstoffen aus Indien war zu jenem Zeitpunkt die größte Quelle des Reichtums in Europa, denn diese wurden fast in Gold aufgewogen (Pfeffer als das damals wertvollste Gewürz wurde sogar buchstäblich in Gold aufgewogen, Zimt stand dem nicht viel nach). Da sage noch jemand, aller Fortschritt der Menschheit käme nur aus dem Krieg – dieser kam aus dem Magen (Gewürze) und der Eitelkeit (Textilfarbstoffe)!

Kopernikus hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die tatsächlichen Verhältnisse festgestellt: Die Erde ist keine Scheibe, sondern eine Kugel und kreist um die Sonne. Gutenberg hatte die Buchdruckerei erfunden (1455) und damit konnte alle Welt von den Neuigkeiten erfahren. Portugiesische Schiffsbauer hatten die hochseegängigen ‚Naus’ entwickelt, die zwar langsam und keineswegs riesig waren, aber wenig Tiefgang hatten und damit ideal für unbekannte Gewässer waren. Die Spanier setzten auf die ‚Caravellen’, die größten und schnellsten Schiffe der Zeit, wenn auch immer bedroht von Felsen und Korallenriffen unter Wasser wegen ihres hohen Tiefgangs.

Damit waren die Voraussetzungen der Renaissance, der Neuzeit, gegeben.

Die Neuzeit unserer Geschichte begann, wie man weiß, mit einem Irrtum: Die Entdeckung Amerikas 1492 wurde von Kolumbus bis zu seinen Tod (1506) als der Seeweg nach Indien gepriesen, den aber in Wirklichkeit Vasco da Gama 1499 entdeckte, indem er Afrika umrundete.

Wer damals große Vermögen machte mit diesem Handel der Güter aus Indien, waren die italienischen Stadtstaaten und die Fugger in Augsburg. Diese waren damit auch am Seeweg nach Indien interessiert. Die einzige Ausnahme war Venedig, das einen Exklusivvertrag mit den Türken hatte und als einzige weiterhin Zugang zu den „Spezereien des Orients“ hatte. Sein Monopol war aus offensichtlichen Gründen den anderen italienischen Stadtstaaten und den Fuggers ein Dorn im Auge.

Die Fugger sandten einen Spion, dem es gelang, einen der Kapitäne von Kolumbus auszufragen. Die Herrscher in Florenz, die Medici, gründeten eigens eine Bank in Sevilla und sandten einen ihrer Teilhaber, einen gewissen Berardi, als Bankdiretor dorthin, um mitzuhelfen, Schiffsexpeditionen zu finanzieren, die den Seeweg nach Indien auftun könnten. Auch Mächtige aus Genua beteiligten sich an den Finanzierungen (Kolumbus war ja Genueser).

Americo Vespucci war Angestellter der Bank der Medici in Florenz (seine Familie war eine der noblen Familien von Florenz) und wurde 1491 nach Sevilla zur dortigen Bankfiliale entsandt. Im darauffolgenden Jahr war Berardis Bank eine der hauptsächlichen Finanzierer der Expedition des Christophorus Kolumbus, den Seeweg nach Indien in Richtung Westen zu suchen. Kurz nach dessen Rückkehr von der historischen Reise 1492 wurde Americo Vespucci Agent von Kolumbus und dessen Repräsentant am spanischen Hof. Drei Schiffe für die dritte Reise von Kolumbus, die 1498 in See stechen sollte, waren Teil eines Riesenauftrags von 12 Schiffen, den der spanische König Ferdinand bei Berardi in Auftrag hatte geben lassen. Die Medicis finanzierten die spanischen Eroberungsreisen, zu diesem Zeitpunkt noch auf der Suche nach einem Seeweg nach Indien nach Westen.

Bevor die 12 Schiffe übergeben werden konnten, starb Berardi und nun war Vespucci der Bankdirektor der Medicis in Sevilla. Er war es, der die Schiffe – verspätet – übergab. So wurde er Freund, Mitarbeiter und Finanzier Kolumbus. Es gelang ihm, auf eine der nächsten Reisen (des Hauptrivalen von Kolumbus) selbst mitgeschickt zu werden. Später trat er in die Dienste des portugiesischen Königs und ging mit auf zwei portugiesische Entdeckungsreisen in die südamerikanischen Besitzungen Portugals, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht Brasilien hießen, sondern „Vera Cruz“ und als Insel betrachtet wurden. Als getreuer Gefolgsmann seiner Auftraggeber aus Florenz sandte er über alle seine Beobachtungen Briefe an Lorenco de Medici.

Americo war vorher eigentlich nur bekannt als kleiner Bruder der schönen Simonetta Vespucci, die von Botticelli in seinem Meisterwerk „Die Geburt der Venus“ verewigt wurde und tragisch bereits 1476 an Tuberkulose starb.

Boticelli Geburt der Venus Ausschnitt

Seine Briefe an das Haus Medici wurden veröffentlicht, zusammengefaßt in einer Broschüre, die durch die neue Druckmethode weit verbreitet wurde. Da wurde u.a. die Schönheit und Exotik des neuen Kontinents und seiner Bewohner sowie ihre Gesellschaft geschildert. Diese Broschüre wurde durch die Fugger und andere finanziert und das in einem solchen Umfang, daß sie praktisch jeder in Europa las, der überhaupt lesen konnte. Ursprünglich in Latein geschrieben, wurde sie in Deutsch, Französisch, Italienisch, Holländisch, Spanisch und Tschechisch übersetzt. Die Broschüre fiel auch – wohl in der lateinischen Form – in die Hände von Thomas Morus, der damals Kanzler des englischen Königs war (man stelle sich vor, zu jener Zeit war es noch möglich, daß wirklich große Geister Kanzler wurden). Angeregt von der Beschreibung einer Gesellschaft in Harmonie und Frieden, schrieb er „Utopia“, das erste Werk in der Menschheitsgeschichte, das eine ‚utopische’ Vorstellung eines idealisierten menschlichen Gesellschaft verbreitet. Es wurde von Erasmus von Rotterdam herausgegeben.

Folgerichtig wurde der neue Kontinent dann auch nach Americo benannt – von einem Kolumbus hatte niemand je gehört (Americo wußte besser als jeder andere, wer den neuen Kontinent entdeckt hatte, erwähnte aber Kolumbus in seinen Briefen nicht ein einziges Mal), aber alle (die lesen konnten) hatten ‚den Americo’ gelesen. So wurde er zum einzigen Menschen, nach dem je ein Kontinent benannt wurde.

Weder der spanische noch der portugiesische König waren an der Entdeckung eines neuen Kontinents als solchem interessiert. Sobald klar war, daß es sich bei den „Inseln“, die man im Westen entdeckt hatte, nicht um Indien oder Asien handelte, sondern um einen neuen Kontinent (und das hatte Americo als erster erkannt und bereits in einem Brief an die Medici im Jahre 1501 belegt), war das einzige, was interessierte, ob es dort Gold und Edelsteine gab. Die Indios in Südamerika hatten wenig Goldschmuck, also ließ man Südamerika zunächst „links“ liegen. Die Spanier hatten aber auf dem nordamerikanischen Festland eine Kultur mit viel Goldschmuck entdeckt, die Azteken, und suchten die ergiebigen Goldminen, aus denen das stammen könnte. So drangen sie über Mittelamerika bis nach Südamerika vor und trafen dort auf die Inkas, ebenfalls mit Goldschmuck, und die Suche nach der Quelle des Goldes wurde intensiviert. Die Jagd nach „Eldorado“ hatte begonnen.

Gold

1540 sandte Spanien auf der Suche nach Eldorado eine Expedition von den Besitzungen der Inkas (heute: Peru), die man kurz zuvor erobert hatte, die Anden hinab in die Ebene, die heute als Amazonien oder Amazonasbecken bekannt ist – und damit kommen wir zu unserem Thema im engeren Sinne.

Der Leiter der Expedition war ein gewisser Francisco de Orellana, der alles minutiös von einem Mönch aufschreiben ließ. Allerdings hatte er (oder der Mönch) offenbar einige Probleme mit der Wahrheit oder sagen wir, er hatte eine selektive Erfassung der Wirklichkeit. Dies bereitete so manchen seiner Nachfolger Schwierigkeiten.

Orellana behauptete nämlich, Eldorado gefunden zu haben. Es sei gelegen auf einer Insel in einem riesigen See, der angeblich an einer Stelle im äußersten Norden des heutigen Mato Grosso, Bundesland Brasiliens, gelegen sei. Er habe lediglich nicht dorthin übersetzen können wegen des heftigen Widerstands des dortigen Indio-Stammes. Tatsächlich gibt es keinen solchen See und nicht Eldorado (Eine ganze Zeit später sollten die Portugiesen im Südosten Brasiliens, im heutigen Bundesland Minas Gerais, tatsächlich die größten bis dahin bekannten Goldvorkommen entdecken, aber das ist heute nicht das Thema, siehe hierzu den Teil 5 der Reihe).

Der Eindruck eines riesigen Sees mit Inseln darin kann am Amazonas in der Hochwasserzeit schon einmal aufkommen. Der Amazonas hat auf der Höhe von Manaus (wo er sich aus dem Zusammenfluss des Rio Negro und des Rio Solimões bildet und bereits eine Breite von mehreren Kilometern erreicht) einen Pegelunterschied von bis zu 15 Metern(!) zwischen der relativ trockenen Periode (September bis Dezember) und der noch viel feuchteren Periode als normal (Januar bis August), allerdings mit starken Schwankungen zwischen den Jahren. In der Hochwasserzeit sind auch viele Gebiete zwischen den Flußarmen überschwemmt und ein grosser Teil der Bäume des Urwalds stehen im Wasser. Bei Niedrigwasser fährt man mit Booten auf tief eingeschnittenen Flußarmen zwischen meterhohen Schlammufern.

Amazonas

Die riesige Schwankung in der Wasserführung des Amazonas führt zu der einmaligen Erscheinung, daß im Oberlauf des Rio Negro (Teilfluß des Amazonas) die Flußgebiete des Orinoko (Venezuela) und des Rio Negro ineinander übergehen. Bei Amazonas-Hochwasser fließt Amazonaswasser in den Orinoko, bei Niedrigwasser umgekehrt.

Was aber besonders die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen fand, war die Beschreibung Orellanas des Indio-Stammes, den er dort angetroffen hatte, die Cumurí: Der hätte nur aus Frauen bestanden und das seien Kriegerinnen gewesen. Und dieser Frauenstamm verteidige „Eldorado“. Orellana war offenbar ein gebildeter Mann. Er kannte griechische Mythologie. Er wußte, das die kriegerischen Frauen, die (fast) ohne Männer auskommen, Amazonen heißen. Er nannte daher das ganze Gebiet, in das er gekommen war „das amazonas“ (also Genitiv „der Amazonen“ in Spanisch). Mit der Zeit verlor sich dann das „das“ und der Begriff ‚Amazonas’ wurde auf den Fluß und dann auch auf die ganze Region angewandt.

Nur fand niemand später an der von ihm angegebenen Stelle den See und Eldorado, aber sehr wohl den Stamm der Cumuri, nur war der keineswegs nur von Frauen gebildet. Offensichtlich war Orellana (oder sein Mönch) so beeindruckt von der Tatsache gewesen, daß bei diesen Indios die Frauen genauso Krieger waren wie die Männer, daß er überhaupt nur noch Frauen gesehen hatte. In der ursprünglichen menschlichen Urgesellschaft gab es noch keine Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern.

Orellana durchquerte das gesamte Amazonasbecken bis zum Atlantik in mehr als zwei Jahren mit seiner Expedition. Einmal bis „Eldorado“ vorgedrungen (fast eine Jahresreise flußabwärts von Machu Picchu), sah er keine Möglichkeit mehr, gegen die Strömung flußaufwärts zurückzukehren, obwohl sein "Chef", Pizarro, dies angeordnet hatte. Später zurück in Spanien wurde er deshalb wegen Hochverrat angeklagt. Man weiß weiter nichts von seinem Schicksal. Er dürfte wohl enthauptet worden sein.

Tatsächlich war das Zusammentreffen der spanischen und portugiesischen Eroberer mit den Indios Brasiliens ein wahrer ‚Crash’ der Kulturen, gegen den die linden Unterschiede zwischen Muslims und europäischen Kulturen, die wir im Moment in Europa als abgrundtief empfinden, eine Kleinigkeit sind.

Auf der einen Seite die Eroberer, die eigentlich in dieser ihrer Eigenschaft die europäische Renaissance, den am weitesten fortgeschrittenen Teil der Menschheit darstellen sollten. In Wirklichkeit waren sie aber bis auf wenige (wie Americo Vespucci) noch Menschen des Mittelalters, unfähig, sich aus den engen Grenzen des Denkens herauszubewegen, die ihnen die Religion und die strengen mittelalterlichen Bräuche auferlegt hatten.

Auf der anderen Seite die Indios Brasiliens, die - nach bisheriger Annahme - allesamt noch in der Steinzeit lebten, ein Teil von ihnen sogar der frühen Steinzeit. Ob das wirklich so ist, muß inzwischen angezweifelt werden, aber darauf kommen wir in einer späteren Folge zurück.

Viele der Indio-Stämme in Brasilien zeichneten sich dadurch aus, daß sie noch keinen Ackerbau und Viehzucht kannten, sondern noch Jäger und Sammler waren (Urgesellschaft).

Die Regenwälder des Amazonas und der brasilianischen Atlantikküste boten so viel Überfluß an leicht zugänglicher Nahrung, daß die Entwicklung zu Bauern und Hirten zum Teil sehr langsam vor sich ging. Es gab so viele Früchte, die man nur zu pflücken brauchte und Wurzeln, die man essen konnte und auch die Jagd offerierte keine besonderen Schwierigkeiten. Die Flüsse (und das Meer) waren voll von Fischen, die Baumkronen voll von Äffchen und Papageien und andere Tiere konnte man auf dem Erdboden jagen. Wenn man gut mit Pfeil und Bogen oder dem Blasrohr umgehen konnte, war der Lebensunterhalt ohne großen Aufwand zu sichern. Dies galt natürlich nur solange, wie eine kleine Anzahl Menschen auf einem riesigen Gebiet lebte. Die Indios mußten nämlich in regelmäßigen Abständen ihr Dorf in jungfräuliche Gebiete verlegen.

Regenwald

Die Beschreibungen der Indios durch die damaligen Eroberer, wie auch die späterer „Besucher”, stimmen in einigen Punkten weitgehend überein: Die Zustände werden mit dem Begriff „paradiesisch” oder „Paradies“, die Indios immer wieder als „unschuldig” oder im „Stand der Unschuld” beschrieben, hervorgehoben wird, wie fröhlich und freundlich sie sind und wie bereitwillig sie Gäste aufnehmen. Auch der Begriff ‚friedlich’ wird weithin verwendet, auch wenn, wie sich heraustellte, die Indios absolut wehrhaft waren.

Sie werden auch als „naiv“, „leichtgläubig“ und „einfältig“ beschrieben. Und – was immer wieder Verwunderung hervorrief: Die Frauen waren geachtet und geehrt („als ob sie gleichwertig mit Männern wären“), in einigen Stämmen war auch noch keinerlei Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen eingeführt. Die Frauen waren genauso Krieger und Jäger wie die Männer – das mag Orellano getäuscht haben, als er Frauen als Kriegerinnen sah.

Und tatsächlich, die meisten Indios in Brasilien lebten noch im Paradies. Die Vorstellung eines Paradieses, in dem die ersten Menschen lebten und aus dem sie später vertrieben wurden, gibt es nicht nur in der christlichen Überlieferung, sondern in allen wesentlichen Kulturen der Menschheit. Es handelt sich schlicht um die durch Überlieferung weitergegebene Tatsache, daß die Menschen die ersten Zehntausende (oder Hunderttausende) von Jahren ihrer Geschichte (oder besser Vorgeschichte) in jenem gesellschaftlichen Zustand lebten, die die spanischen und portugiesischen Eroberer hier zum Teil noch antrafen: Die Urgemeinschaft, manchmal auch der Urkommunismus genannt.

Es gab noch kein Privateigentum, keine Familien und keinen Staat und damit gab es auch noch keine Ausbeutung und Unterdrückung. Das natürliche Gefühl der Solidarität mit anderen Menschen gebot die Gastfreundschaft und man sagte noch die Wahrheit und war damit leicht zu täuschen (Vielleicht mag man schon die kleinen Not- und Freundlichkeitslügen gekannt haben, die uns allen geläufig sind, aber in allen ins Gewicht fallenden Dingen wurde die Wahrheit gesagt). Es gab noch keine ökonomischen Gründe, jemanden zu täuschen. Und – nicht zuletzt – es gab noch keine Unterdrückung der Frau, es gab ja keine ökonomischen Gründe für eine solche Unterdrückung.

Wer sich genauer und auf wissenschaftlicher Ebene mit den damaligen gesellschaftlichen Zuständen auseinandersetzen will, kann dies bei Friedrich Engels in „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ nachlesen.

Demgegenüber war im Mittelalter in Europa die Frau eine Mischung von Haustier und Sklavin. Sie war in jeder Beziehung ‚dem Manne Untertan’. Nicht nur, daß die Mädchen der Leibeigenen dem Adelsherren in der ‚ersten Nacht’ zu Willen sein mußten, die Frauen hatten zum Mann zu nehmen, wer ihnen ausgesucht wurde, die Bauersfrauen und Mägde mußten neben der schweren Feldarbeit die gesamte Hausarbeit tun. Die adeligen Frauen hatten ebenfalls keine gleiche Stellung wie der Mann. Wie wir von den mittelalterlichen Burgen wissen, durften sie nicht einmal im gleichen Gebäude leben wie die Männer, sondern waren in ‚Frauenhäuser’ ausgelagert.

Das wirkliche Leben damals kannte - bis auf Ausnahmefälle – keine romantische Liebe zwischen Mann und Frau. Es gab natürlich die Lieder und Gedichte der Minnesänger und die Idee der romantischen Liebe war bekannt, eine Generation später würde Shakespeare in England diese Idee auf das höchste künstlerische Niveau bringen, aber die Realität war sehr prosaisch.

Eine Frau, die war zum Vögeln und zum Arbeiten da, ein Mann, das war der, dem man zu gehorchen hatte und den man nach Möglichkeit bei guter Laune halten sollte, sonst hagelte es Schläge.

Zum Begriff der „Unschuld“ der Indios hat sicher auch die Tatsache beigetragen, daß fast alle diese Stämme nackt herumliefen. Das Klima machte keine Kleidung notwendig, warum hätten sie sich also kleiden sollen – und schmücken konnte man sich auch ohne Kleidung. Alle Arten von Körperbemalung waren üblich und die vielen phantasiereichen Kopf-, Hals-, Taillen-, Arm- und Bein-Schmuckstücke, meist mit bunten Papageienfedern, kann der Tourist noch heute in Amazonien für wenige Cents erstehen.

Hieronymus Bosch, Garten der Lüste, Ausschnitt 17

Die Nacktheit war für jene Eroberer natürlich viel exotischer als sie es für uns heute wäre. Zwar gab es um die Zeit der Renaissance in Europa noch weithin das gemeinsame Schlafen der einfachen Bevölkerung auf dem Lande in Heu, das natürlich die Kenntnis anderer nackter Personen beinhaltete, aber unter den städtischen Kreisen war bereits die absolute Verpöntheit von Nacktheit und unverhüllten Brüsten vor anderen Personen üblich. Die damaligen Männer der Oberschichten bekamen außer bei ihrer Frau – und eventuellen Geliebten – nie eine zu sehen.

Da standen also Männer, die in mittelalterlicher Strenge, Zucht und Schamhaftigkeit erzogen waren, plötzlich Gruppen von Indios gegenüber, Männlein und Weiblein bunt gemischt und es sprangen ihnen die Brüste der Frauen und auch deren Schamlippen ins Auge (es war meist üblich, die Schamhaare zu entfernen). Auch die Tatsache, daß die Männer ihre Penisse zur Schau stellten, oft bunt angemalt, manchmal extra mit einem kleinen Bändchen an der Taille befestigt, damit ‚er’ auch in schlaffem Zustand nach oben zeigt, muß ihnen extrem fremdartig vorgekommen sein. Schließlich und endlich vermelden die Berichte, daß diese Frauen keine Scham kannten (!), einige forderten die stattlichen Europäer in ihren schillernden Rüstungen sogar erkennbar zu Sex auf!

Kurz, vom ersten Moment an stand Sex in der Luft, wenn diese Begegnungen an den Stränden oder im Urwald stattfanden – immerhin waren die Männer ja wochenlang oder sogar monatelang unterwegs gewesen ohne eine weibliche Seele zu sichten – Frauen an Bord waren grundsätzlich verboten (von Ausnahmen hören wir unten noch).

Karneval in Rio - Tänzerin fast nackt

So berichten denn auch die Chronisten von diesen Begegnungen häufig, daß man – von den Indios eingeladen – für eine Zeit bei ihnen blieb. Teilweise lebte man direkt mit den Indios im Dorf, in anderen Fällen zwang der Kommandant die Männer, auf den Schiffen zu bleiben. Sie konnten aber von dort aus immer wieder „Kundschafteraufträge“ bei den Indios durchführen.

Cabral z.B. hatte ausdrücklich das „Vermischen“ mit den Indios verboten und unter Strafe gestellt, aber die Chronisten lassen keinen Zweifel, daß die Männer trotzdem heimlich in die Dörfer gingen und dort mit offenen Armen - und wohl auch offenen Beinen - empfangen wurden.

Bosch, Garten der Lüste, Ausschnitt 18

Die erste große portugiesische Expedition nach Cabral unter Coelho, 1501 (an Bord: Americo Vespucci) mit dem Auftrag , die vermeintliche Insel näher zu untersuchen (Goldschmuck!), die die gesamte Küste des heutigen Brasiliens hinunterfuhr, was allerhöchstens einen Monat gebraucht hätte, dehnten diese Reise auf fast ein Jahr aus. Sie blieben über einen Monat vor Anker auf der Höhe der Mündung des San Francisco-Flusses, ohne daß sie irgendeine Erklärung dafür gegeben hätten. Etwas weiter südlich, auf der Höhe des heutigen Salvador, blieben sie noch länger und gaben zu, daß dort ein großer Teil der Männer mit Indios in deren Dorf gelebt hatten.

Tänzerin beim Karneval in Rio

Der Sex mit Indio-Frauen mußte aber auch aus anderen Gründen attraktiv für sie gewesen sein. Die mittelalterlichen Frauen zu Hause mußten ständig auf die Scham achten, die auch beim Sex mit dem Ehemann (oder Liebhaber) nicht übertreten werden durfte. Es war absolut undenkbar, in irgendeiner Weise zum Ausdruck zu bringen, daß für die Frau dabei Lust involviert sein könnte. Sex war etwas, was die Frau zu erdulden hat und sie sollte auch noch stolz darauf sein, daß sie absolut nichts dabei empfand. Diejenigen, die doch etwas empfanden, mußten dies gut verbergen.

Bosch, Garten der Lüste, Ausschnitt 7

Hier aber waren Indio-Frauen, die keinerlei Inhibierung kannten, für sie war Sex so fundamental und natürlich wie Essen. Keine von ihnen brauchte vorzuspielen, daß sie eventuell den Sex nicht genoß, keine konnte in Sex etwas anderes erblicken als Lust und Freude.

Auch gab es viele Stämme, in denen es noch keine Art von Verheiratung gab. Oft blieben Paare für lange Zeit zusammen, manchmal sogar fürs Leben, aber die weit überwiegnde Mehrzahl der Frauen und Männer machten Sex mit wechselnden Partnern, so wie es Lust und die Stunde ihnen eingaben. Zwar gab es Tabus, mit wem keine Sex gemacht werden dufte, aber das betraf immer nur eine Hälfte es Stammes. Mit allen anderen durfte man - und man tat es. Es gab keinerlei Regeln, nicht promisk sein zu dürfen (mit Ausnahmen).

Bosch, Garten der Lüste, Ausschnitt 2

Die Männer des Stammes hat also keinerlei Besonderheit darin gesehen, dass die Frauen auf Sex mit den hochgewachsenen "Dicknasen" aus waren - galt doch die Dicke der Nase auch als Anzeichen für ein anderes dickes Organ.

Kurz, die Europäer mussten sich vorkommen, als seien sie in einem Freudenhaus gelandet. Der wesentliche Unterschied aber war - und das wurde in einigen der Aufzeichnungen von damals hervorgehoben - dass die Frauen extreme Freude am Sex hatten und dies oft auch laut hinausschrieen.

Es wird auch tadelnd in den Aufzeichnungen festgestellt, dass dort "Perversionen" an der Tagesordnung waren. Das bezieht sich auf alles, was über die normale Missionarsstellung im Sex hinausgeht, also Oralsex, Analsex, andere Stellungen, Finger im Hintern, Sex vor anderen, Zusehen und Masturbieren, Gruppensex, gleichgeschlechtlicher Sex usw.

Gay-Sex war diesen Männern keineswegs unbekannt. Die spätere völlige Dämonisierung davon gab es noch nicht, ebensowenig die absurde Diskriminierung von Gays. Es gab zu diesem Zeitpunkt noch die Institution von "Lustknaben", ebenso wie die allgemeine Kenntnis, man könne auch mit Männern (Jungen) Sex machen.

Auf den Schiffen schliefen die einfachen Matrosen zusammen mit den Schiffsjungen auf Holzflächen, die etwas mit Pflanzenteilen abgepolstert waren. Das monatelange Zuammenschlafen von Männern dürfte zweifellos in einigen Fällen zu verschiedenen Arten von Sex geführt haben, zumindest des gegenseitigen Stimulierens und Lutschens bis hin zum Analsex. Es gibt eindeutige Zeugnisse, dass die Schiffsjungen teilweise in diesem Sinne missbraucht wurden.

Kein Wunder, daß alle möglichen Vorwände herhalten mußten, um den Aufenthalt an den Küste Südamerikas und in den Indiodörfern zu verlängern. Schließlich entwickelten die Portugiesen sogar einen Spruch, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen: „Não existe pecado embaixo do equador.“ „Es gibt keine Sünde unter dem Äquator“.

Es gibt ebenfalls Anzeichen, daß bei einem Teil der Reisen an den Küsten entlang auch Indio-Frauen mit auf die Schiffe genommen wurden, um sich so auch während der Reise vergnügen zu können. Allerdings war nicht daran zu denken, eventuell eine mit zurück nach Europa zu nehmen, dazu war das Frauenverbot auf den Schiffen viel zu streng. Wenn man Indios mit nach Europa nahm, zuerst Einzelne als eine Art von Trophäe, später ganze Gruppen als Sklaven, waren dies Männer (im zweiten Teil hören wir noch von den Ausnahmen).

Man ließ bei fast allen Expeditionen eine Anzahl von Männern der Schiffsbesatzung zurück, in Palisaden-Forts, fand diese Forts aber später oft verlassen vor und die Männer in den Indio-Dörfern.

Es gab auch auffallend viele Fälle von Desertion. Männer der Schiffsbesatzung verschwanden einfach in den Wäldern und wurden nie mehr gesehen. Einige dieser Deserteure tauchten Jahre später wieder auf, einer als Häuptling eines ganzen Indio-Stammes, ein anderer in einem Indio-Dorf, wo er stolz berichtete, bereits über hundert Indio-Kinder zu haben.

Die ersten Deserteure, über die berichtet wurde, waren zwei Schiffsjungen der Cabral-Expedition. Schiffsjungen waren damals Jungen aus der armen Bevölkerung, die in einer Art von Sklavenzustand auf den Schiffen gehalten wurden und die schwersten, gefährlichsten und unbeliebtesten Arbeiten verrichten mußten.

In der ‚neuen Welt’ war man zwar weit von zu Hause und Desertion bedeutete Todesstrafe – man konnte also nie zurück – aber hier konnte man im Paradies leben, während das Leben auf den Schiffen die Hölle war.

Es gab auch Männer, die darum baten zurückgelassen zu werden und später wieder abgeholt zu werden. Dem wurde am Anfang wenig stattgegeben – man wußte meist gar nicht, ob und wann eine neue Expedition diesen Punkt erreichen würde. Dann aber begann man, den Brasil-Baum (daher der Name Brasil = Brasilien) in beträchtlichen Ausmaß nach Portugal zu schaffen. Aus ihm konnte man einen roten Farbstoff gewinnen, der vorher zu den Seltenheiten gehört hatte, die aus Indien kamen. Nun kam man oft solchen Bitten nach, denn nun wurde ein regelmäßiger Schiffsverkehr zwischen Portugal und Brasilien eingerichtet. Viele der so Zurückgelassenen wurden aber nie wieder gesehen.

Hört man heute, daß nach einer Umfrage unter Fremdenführern von Rio de Janeiro etwa 80% des Tourismus, der nicht Geschäftsreise ist, von Männern mit eindeutig sexuellen Absichten gestellt wird, so muß man dies als geschichtliche Ironie ansehen (Marx: Geschichte wiederholt sich nicht, es sei denn als Farce). Vielleicht sind wir gar nicht so weit von mittelalterlichen Männern entfernt, wie man meint.

Attraktive Exotin

War Sex sicherlich einer der Hauptgründe, warum man – zumindest eine Zeit lang oder sogar auf Dauer– bei den Indios bleiben wollte, so darf man doch die Attraktivität der ganzen Lebensweise, das paradiesische dieses Lebens, nicht unterschätzen.

Man höre nur, was Americo Vespucci z.B. Über die Bucht von Angra dos Reis schreibt: „Einige Male steigerte ich mich hinein in den Duft der Bäume und der Blumen und den Geschmack dieser Früchte und Wurzeln, so sehr, daß ich bei mir dachte, ich sei im Paradies auf Erden. Und was soll ich sagen über die Vielfalt der Vögel, die Farbenpracht ihrer Gefieder und Gesänge, wie viele es sind und von welcher Schönheit? Ich will gar nicht weiter sprechen, denn ich befürchte, ihr werdet mit nicht glauben.“

Angra dos Reis ist genau jene Stelle, an die die Militärjunta Brasiliens beschloß die brasilianischen Atomkraftwerke zu plazieren - mit heftiger deutscher Unterstützung.

Das Leben im 16. Jahrhundert in Europa war hart und entbehrungsreich, die Rückreise voller Gefahren. Hier dagegen traf man eine Gesellschaft, die Teile des Tags mit Spielen, Malen, Bildhauern, Handwerken, Musizieren und Tanzen verbrachte – man mußte lediglich ein oder zweimal am Tag für das leibliche Wohl sorgen, d.h. Früchte pflücken gehen und Tiere oder Fische erlegen und grillen.

Von Zeit zu Zeit mußte das Dorf verlegt werden. Die Tiere im Umkreis lernten, sich entfernt zu halten und die früchtetragenden Bäume waren „abgegrast“. Dann war schwere Arbeit angesagt: Ein neues Haus für den Stamm mußte aus Holz, Blättern und Pflanzenfasern errichtet werden.

Es gab auch Begegnungen, die nicht so freundlich abliefen. Der spanische Seefahrer Pinzón, einer der Kapitäne der Kolumbus-Reise von 1492, wurde Ende des Jahres 1499 von der spanischen Krone mit einer weiteren Expedition beauftragt. Er erreichte den amerikanischen Kontinent im Januar 1500, abgetrieben durch einen Sturm, in Südamerika (die Seefahrer mußten damals bei jeder Atlantiküberquerung mit der Strömung von den Kanarischen oder Kapverdischen Inseln aus nach Westen segeln und kamen damit immer genau in die dort bis heute bestehende „Küche der Hurrikane“).

Später konnte rekonstruiert werden, daß Pinzón, entgegen seiner Annahme, in der Nähe der heutigen Stadt Fortaleza, Hauptstadt des brasilianischen Bundeslandes Ceará, anlandete, am Cap Ponta de Mucuripe, wo ein kleiner Fluß ins Meer mündet, der heute noch den Namen trägt, den die Indios ihm gegeben haben: Curu. Damit hatten eigentlich die Spanier Brasilien entdeckt, denn Cabral machte seine Entdeckung ja erst im April des gleichen Jahres, aber dies hatte keine praktischen Konsequenzen.

Pinzón, offenbar ein Mann vom Typ G.W. Bush, wurde bekannt dafür, daß er alle Indios, die er antraf, versuchte gefangenzunehmen und als Sklaven auf die Schiffe laden zu lassen. Er selbst beschreibt die Begegnung mit dem Stamm der Potiguar, die ihn dort am Strand des heutigen Ceará erwarteten, so, als ob die Indios angegriffen hätten. Wir können aber getrost davon ausgehen, daß er es war, der die Gefangennahme versuchte und die Wehrhaftigkeit der Indios kennenlernen mußte.

Potiguar war der Überbegriff für eine Gruppe von Indio-Stämmen, der zu jener Zeit die gesamte Küste vom Norden Cearás bis hinunter zum heutigen Bundesland Paraíba bewohnten, eine Strecke von 600 Kilometern. Sie waren bereits fortgeschrittener in der Entwicklung, kannten erste und einfache Formen von Ackerbau (Manniok-Wurzeln), hatten schon eine entwickelte Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau und erste frühe Formen einer Familienbildung. Dort am Strand traten den Spaniern nur die Männer, die Krieger des Stammes entgegen, vorsichtig auskundschaftend, was die fremdartigen Männer von den scheinbar riesigen Schiffen, in schillerndes Metall gekleidet, im Schilde führten.

Außerdem hatten die Potiguars eine kleine Unart, die damals viele Indios in Südamerika hatten, sie aßen Menschen.

(wird fortgesetzt)


Die Brasilien-Serie von Elmar Getto. Dieser erste Teil erschien am 24.11.2004 in "Rbi-aktuell", heute Berliner Umschau, hier akualisiert von Verfasser.


Hier die Links zu allen Teilen der Reihe „Brasilien jenseits von Fussball und Samba“

- Teil 1: „Wie der Amazonas zu seinem Namen kam“

- Teil 2: ‚Menschenfresser-Country’

- Teil 3: „Ausgerottete Künstler“

- Teil 4: Niemeyer ist 100 – ‚Auf dem Höhepunkt des Schaffens’

- Teil 5: Brasilien und Gold

- Teil 6: Die Landschaften Brasiliens – Der Amazonas-Regenwald

- Teil 7: Brasilien und der Strom

- Teil 8: Die Landschaften Brasiliens – Mata Atlântica

- Teil 9: Santos Dumont und der erste Motorflug

- Teil 10: SIVAM – Big Brother in Amazonien

- Teil 11: Sprit aus nachwachsenden Rohstoffen

- Teil 12: Regenwaldvernichtung und Trockenheit im Amazonasgebiet

- Teil 13: Wie unsere Zukunft in der beginnenden kapitalistischen Barbarei aussähe – „Ich habe kein Leben“

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