Dienstag, 7. Oktober 2008

Die Konjunktiv-Straftat: 'Könnte begehen ...'

4 Verbrecher

Von Karl Weiss

Mit neuen Straftatbeständen will die Bundesregierung nun endgültig den Menschenrechten in Deutschland den Garaus machen. Da war nicht nur Schäuble, der sich für den vorbeugenden Todesschuss gegen mutmassliche Terroristen und für die Aufhebung der Unschuldsvermutung bei Terrorismusverdacht aussprach, da war nicht nur Verteidigunsminister Jung, der offen aussprach, er würde sich nicht an das Verfassungsgerichtsurteil gegen das Abschiessen von entführten Passagierflugzeuen halten und er hätte bereits Luftwaffen-Piloten, die das für ihn besorgen würden, jetzt hat Frau Zypries auch das Einführen neuer Straftaten angekündigt. Die Vorbereitung von schweren Verbrechen soll jetzt strafbar werden, ebenso das Einstellen von Bombenbauanleitungen in das Internet, die Teilnahme an Terror-Camps und das Beschaffen und Vorhalten von Materialien, die für Terroranschläge dienen können.

Beckstein

Bisher sind fast alle Straftaten (mit der Ausnahme der Straftat der „Unterstützung bzw. Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung“, Paragraph 129 a) in Deutschland im wesentlichen eindeutig definiert. Besonders schwere Straftaten, wie z.B. Mord, sind sogar akribisch beschrieben (in diesem Fall in der Abgrenzung zu Totschlag).

Das ist nur natürlich. Wirklich verurteilt soll nur werden, wer genau jene Bedingungen erfüllt, ansonsten fällt er in eine leichtere Kategorie oder geht straffrei aus. Dies ist zwingend Bestandteil der Gesetzgebung jeden Staates, der die allgemeinen Menschenrechte zur Grundlage seiner Gesetzgebung gemacht hat. Wäre es anders, würde man die Straftaten, speziell die schweren Straftaten, nur generell beschreiben und es jedes Mal einem Richter überlassen, ob er den Angeklagten nach diesem oder einem anderen Paragraphen oder gar nicht bestrafen will, wäre dies ein Rückfall in feudalistische oder obrigkeitsstaatliche Zeiten, als die Feudalherren bzw. die „Obrigkeit“ gleichzeitig die Richter waren und nach Gutdünken entschieden. Dann würden Mörder ohne Strafe ausgehen, während leichte Straftaten mit schwersten Strafen belegt würden und Personen, welche das Wohlwollen des jeweiligen Richters haben, gingen straffrei aus.

Allerdings sind auch jetzt bereits Lücken und zu allgemeine Beschreibungen im Strafgesetzbuch enthalten und die Spanne der Möglichkeiten der Bestrafung ein und desselben Delikts sind oft zu weit gefasst.

Filbinger und Kohl

So kommt es auch heute schon zu schreienden Ungerechtigkeiten wie Kohl, Ackermann, Esser und Hartz, die straffrei ausgingen, oder wie die absurden Strafen, die Schill, als er noch Richter war, für kleine Delikte ausgesprochen hat.

Schill beim Koksen

Zudem hat jeder Staat, der als demokratisch eingestuft werden will, die Unschuldsvermutung im Rechtssystem als Grundlage zu respektieren. Jeder Verdächtige hat solange als unschuldig zu gelten – und dementsprechend behandelt zu werden -, bis er rechtskräftig verurteilt ist. Warum das? Weil man ihm das umfassende Recht auf Verteidigung zugestehen will, das er nur in einem ordentlichen Gerichtsverfahren wahrnehmen kann.

Es darf keine Rolle spielen, dass die Polizei ihn festgenommen hat, dass es Hinweise oder sogar konkrete Verdachtsmomente gegen ihn gibt, dass es Belastungszeugen gibt oder dass er ein Geständnis abgelegt und später widerrufen hat. Erst wenn er mit Hilfe eines Fachmanns (seines Rechtsanwalts) das umfassende Recht zur Verteidigung hatte, kann schliesslich ein Richter über seine eventuelle Bestrafung entscheiden. Bis zum eigentlichen Prozess kümmert sich ja in der Regel niemand um die ihn entlastenden Momente. Staatsanwaltschaft und Polizei wollen typischerweise einen Fall möglichst schnell lösen. Erst im Prozess kann zum ersten Mal gezeigt werden, was ihn entlastet.

Meseberg-Tagung Bundesregierung

Warum wurde dies Prinzip der Unschuldsvermutung eingeführt? Weil es unglaubliche Zufälle gibt. Jeder von uns kann durch eine Ansammlung von zufälligen Umständen plötzlich zu einem Verdächtigen werden. Dann werden wir jedes dieser wichtigen Rechte brauchen wie die Luft zum Atmen, um nicht Teil des Heeres der unschuldig Verurteilten zu werden (in den USA schätzen Fachleute, dass mindestens 20% der Gefängnisinsassen unschuldig sind).

Diese Rechtsprinzipien führen natürlich dazu, dass manchmal Täter nicht verurteilt werden, weil man ihnen die Tat(en) nicht einwandfrei nachweisen kann. Der berufsmässige Verbrecher Al Capone in den USA zum Beispiel, zu Zeiten, als die USA noch die Rechte der Verdächtigen repektierten, konnte wegen Beweisschwierigkeiten für eine gute Weile nicht verurteilt werden. Am Ende konnte man ihm nur Steuerhinterzuiehung im umfangreichen Ausmass nachweisen und ihn so schliesslich doch noch ins Gefängnis bringen. Solche Fälle wurden als unvermeidlicher Ausfluss der Anwendung der Menschenrechte in Kauf genommen, ja, die USA brüsteten sich zu jener Zeit sogar damit, dass dort die Menschenrechte ungeteilt gegolten hätten, auch für Verbrecher.

Doch genau von dort, von den USA, ging dann auch die Tendenz zum Abbau dieser Rechte aus, als unter Reagan die Politik der „Zero tolerance“ eingeführt wurde und als nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 alle diese Rechte, zuerst bedingt, später absolut aufgehoben wurden.

Bush

Diese Rechte werden üblicherweise von bestimmte rechten Politikern als „Täterschutz“ verleumdet. Sie wurden auch bei uns schon mehrfach durchlöchert. Der Generalangriff auf alle diese Rechte hat aber erst jetzt begonnen. Unter dem Vorwand der Terrorismus-Bekämpfung sollen sie ausgehebelt werden. Neue Straftaten sollen definiert werden. So hat Justizministerin Zypriess jetzt angekündigt, man werde ein Gesetz einbringen, das „Beschaffung und Vorhaltung von Materialien unter Strafe stellt, mit denen Anschläge begangen werden können.“ Damit ist der Willkür Tür und Tor geöffnet.
  • Verbrecher Nr. 1: Sie, verehrter Leser
    Praktisch jeder hat sich bereits Materialien beschafft und vorgehalten, mit denen Anschläge begangen werden können. Wenn Sie ein Auto haben, so beschaffen Sie sich und halten vor: Benzin und Öl, die beiden Bestandteile für Molotov-Cocktails, mit denen gefährliche Anschläge durchgeführt werden können.
    Wie viele haben das berühmte Teppichmesser, mit dem angeblich die Anschläge des 11. September durchgeführt wurden?
    Überhaupt Messer. Haben Sie etwa keines?
    Und wenn Sie eine Waffe im Haus haben? Sei es mit Waffenschein und Grund. Wer garantiert uns, Sie werden damit keinen Anschlag begehen?
Stasi 2.0

Generell, so fordert Schäuble, müsse die Strafbarkeit von Vorbereitung zu schweren Straftaten eingeführt werden. Hmmm, da kommen wir von Hundertsten ins Tausendste.

Filbinger - Schäuble
  • Verbrecher Nr. 2: Schon wieder Sie, verehrter Leser
    Nehmen wir einmal an, Sie, verehrter Leser, hätten jahrelange Auseinandersetzungen mit ihrem Nachbarn und einmal hätten Sie ihn auch angeschrien: „Ich bring dich um, du Arschloch!“ Unter Zeugen. Dann planen Sie wirklich ernsthaft, ihn umzbringen. Allerdings wollen Sie nicht gefasst werden und entwickeln einen Plan. Unter anderem lassen Sie einen Privatdetektiv hinter ihm herspionieren, um seine Gewohnheiten zu kennen und Sie kaufen eine Pistole. Der Privatdetektiv allerdings bekommt den Eindruck, sie wollten den Mann umbringen und meldet der Polizei, was er weiss. Nach einiger Zeit wird Ihnen klar, Sie würden irgendwie doch gefasst, ihre Wut ist auch schon verraucht und sie führen Ihren Plan nicht aus. Wieviel Jahre Gefängnis hätten Sie wegen Vorbereitung einer Straftat verwirkt?
Merken Sie, in wie schwieriges Gelände man kommt, wenn man Vorbereitungen strafbar machen will?

Und nehmen wir einmal an, Sie wollten den Nachbarn nie umbringen. Der Privatdetektiv lag falsch. Sie vermuteten in Wirklichkeit, ihre Frau würde mit dem Nachbarn schlafen, deshalb hatten sie den Privatdetektiv ih beobachten lassen. Und die Pistole haben Sie beschafft, weil sie Angst hatten, der Nachbar könnte etwas gegen Sie vorhaben.

Merken Sie den Treibsand, in den man kommt, wenn man Vorbereitungstaten strafbar machen will?

Und da soll auch strafbar sein, wenn man sich in Terrorcamps ausbilden lässt.
  • Verbrecher Nr. 3: Omar Mohammed
    Nehmen Sie einmal den Fall von Omar Mohammed, einem Pakistani, der mit 16 von seinen Eltern in ein Camp geschickt wid, wo er den Islam studieren soll. In dem Camp wird nicht nur der Islam gelehrt, sondern auch Nahkampf und der Umgang mit Waffen. Ebenso wird die körperliche Ertüchtigung betrieben. Ein westlicher Geheimdienst bekam einen Hinweis von einer Person, dies sei ein Terrorcamp. Omar blieb 2 Jahre in diesem Camp, bevor er auf der Universität in Islamabad zu studieren begann.

    Unser Mohammed hat zwar nie vorgehabt, Anschläge zu begehen, aber nun ist er gezeichnet, denn kurze Zeit später wird dies Camp von US-Truppen ausgeräuchert, die aus Afganistan über die Grenze kommen und man findet seinen Namen auf den Teilnehmerlisten. Da Omar aber ein schlauer Junge ist, bekommt er nach seinem Bachelor ein Stipendium für einen „Master“ in Deutschland. Kurz danach wird er an der Uni Hamburg aus dem Hörsaal heraus verhaftet. Da man ihm glaubt, er sei nicht unmittelbar in die Vorbereitung eines Anschlages verwickelt, bekommt er nur 4 Jahre Haft wegen Terrorcamp-Ausbildung.
  • Verbrecher Nr. 4: Der Autor
    Und dann gibt es die Fälle der Chemiker, z.B. der des Schreibers dieser Zeilen. Karl Weiss hat in mehreren Artikeln zum Ausdruck gebracht, dass er gegen den Kapitalismus und für den Sozalismus ist, also klarer Fall von „Verfassungsfeind“. Ist bereits unter Beobachtung durch den „Verfassungsschutz“. Dazu kommt noch, er versucht in zwei Artikeln, deutsche Sicherheitskräfte zu widerlegen, zu ironisieren, ja sogar lächerlich zu machen, siehe hier und hier.
Offenbar ein subversives Element! Und Sozialisten sind sowieso das gleiche wie Terroristen, nicht? Dann kommt noch etwas dazu: Nach Angaben eines Geheimdienstes aus dem Nahen Osten wurde er am Madrider Flughafen zusammen mit A.B. gesehen, der auf der Terrorliste der Vereinigten Staaten steht, die mehr als 1 Million Namen umfasst. Eventuell könnten die beiden ein Päckchen ausgetauscht haben.

In Wirklichkeit waren beide nur zusammengestossen und hatten sich gegenseitig entschuldigt, aber der Gewährsman war nicht nahe genug dran, um das zu bemerken.

Nun, angesichts solch deutlicher Indizien, wird Karl Weiss unter ständige Überwachung gestellt. Nun stellt sich heraus, er ist in der Firma, in der er arbeitet, für Bestellungen verantwortlich, die relativ grosse Mengen leicht entzündlicher Flüssigkeiten umfassen, die speziell für kombinierte Spreng- und Brandanschläge geeignet sind. Zwar braucht man dann noch Zünder, um daraus Bomben zu machen, aber die könnte er ja bei dem Treffen mit A.B. bekommen haben. Ausserdem wurde von dieser Firma bereits einmal ein Menge von Waserstoffperoxid bestellt, aus dem man nach Ansicht der Sicherheitsbehörden Sprengstoff machen kann.

Kurz, das Indiziengebäude ist vollständig, es handelt sich um einen gefährlichen Terroristen! Karl Weiss wird bei seiner nächsten Einreise nach Deutschland festgenommen und nach Ägypten überstellt, das für seine effektive Folter bekannt ist, denn man braucht alle Namen der Terrorgruppe.


Veröffentlicht in der Berliner Umschau am 6.10.2008

Originalveröffentlichung

Montag, 6. Oktober 2008

Brasilianische Fussballmeisterschaft auf der Zielgeraden

Extrem ausgeglichene Meisterschaft

Von Karl Weiss

Die Brasilianische Fussballmeisterschaft tritt in ihre entscheidende Phase. Noch 10 Spieltage sind zu absolvieren und 10 (in Worten : zehn) Vereine haben noch eine Chance, die Meisterschaft zu gewinnen, fünf im engeren Kreis und weitere fünf mit nur wenigen Punkten Rückstand. Acht Vereine sind dagegen noch akut vom Abstieg bedroht, ein weiterer noch nicht endgültig gesichert. D.h. von insgesamt 20 Vereinen in der Liga sind 19 noch direkt in den Kampf um die Meisterschaft oder in den gegen den Abstieg involviert, lediglich Sport Recife als 11. ist in einer „neutralen Zone“.


Alle Bilder in diesem Artikel sind von der Libertadores-Begegnung Fluminense -São Paulo im Mai. Adriano spielt heute nicht mehr bei São Paulo, sondern ist zu Inter Mailand zurückgekehrt.

In Wirklichkeit kann Sport rein rechnerisch noch Meister werden oder absteigen, nur kennt man die Stärke der Teams oben und die Schwäche der unten und so kann man diesen Club ausnehmen. Rein zufällig ist es gerade Sport, das dieses Jahr den Pokal gewonnen hat und damit bereits seinen Platz in der „Libertadores“ sicher hat. Im Gegensatz zur Champions Leage kommen in Südamerika auch die Pokalsieger in die Kontinent-Meisterschaft.

Man kann sich kaum erinnern, je eine so ausgeglichene Meisterschaftsrunde in irgendeinem Land gesehen zu haben.

Der letzte Spieltag wird am 7. Dezember sein, wenn alle zehn Begegnungen um 16 Uhr angepfiffen werden. Man kann jetzt schon darauf wetten, dass an jenem Tag noch Entscheidungen in Bezug auf die Meisterschaft und/oder die Plätze in der ‚Libertadores‘ fallen (dem südamerikanischen Gegenstück zur Champions Leage; außer dem Meister kommen noch der zweite, dritte und vierte in die Libertadores), genauso wie zum Abstieg.



An der Spitze stehen punktgleich Palmeiras São Paulo und Gremio Porto Alegre mit 53 Punkten. Palmeiras war seit Beginn der Saison Favorit. Man hatte sich deutlich verstärkt, hatte Anfang des Jahres Wanderley Luxemburgo als Trainer engagiert und die São Paulo-Meisterschaft gegen den São Paulo F.C. gewonnen. Der jeweils von Luxemburgo trainierte Verein stand die ganzen letzten Jahre in Brasilien auf einem der drei ersten Plätze. Zwar hat Luxemburgo bei Real Madrid schon bewiesen, dass er kein guter Trainer ist für Vereine, die nicht die brasilianische Spielweise praktizieren (viele Kurzpässe und Dribblings), ebenso kann er Mannschaften nicht gut auf Gegner einstellen, die nicht so spielen (was er als Trainer der Nationalmannschaft gezeigt hat), aber wenn beide brasilianisch sind, ist er fast unschlagbar.

Zu Beginn der Meisterschaft hatte Palmeiras allerdings eine ausgedehnte Schwächephase und brauchte lange, bis man begann, sich in der Tabelle emporzuarbeiten. Während der Saison aber bekam an der Spitze ein Verein nach dem anderen Schwächeperioden und so schloss Palmeiras bald auf.

Gremio Porto Alegre hatte sich vorher die Tabellenspitze geholt, als der lange führende Verein Flamengo Rio de Janeiro, Brasiliens Club mit den meisten Anhängern, seine Schwächephase bekam. Doch nun ist es Gremio, das diese Schwächephase hat. Man hat letzte Woche in einem Spiel der Südamerika-Meisterschaft (das ist das Gegenstück zum UEFA-Cup) eine 4:0-Schlappe gegen den Lokalrivalen Internacional erlitten.



Auf dem Sprung stehen dahinter mit vier Punkten Abstand (das ist bei zehn ausstehenden Spielen fast nichts) drei Vereine, jeder aus einer der drei grossen Metropolen des brasilianischen Südostens: Der São Paulo F.C., Flamengo Rio de Janeiro und Cruzeiro Belo Horizonte. Vorjahresmeister São Paulo scheint in einer guten Phase zu sein und darf noch als einer der grossen Anwärter auf die Meisterschaft angesehen werden. Flamengo hat sich nach der Schwächephase wieder gefangen, nachdem man grosse Teile der Saison an der Spitze stand und muss ebenfalls noch als ernster Anwärter angesehen werden.

Interessant: Alle diese 5 Vereine ander Spitze haben fast die gleiche Zahl von Toren geschossen: 43, 44, 45 oder 46.

São Paulo hat bereits 10 Unentschieden zu verzeichnen. Das Team ist Spezialist darin, eine drohende Niederlage noch zu vermeiden. Am anderen Ende der Skala steht Cruzeiro: Mit nur 4 Unentschieden in 28 Spielen hat man die Tabellenführung hauptsächlich deshalb verloren, weil man Rückstände nicht versteht in Unentschieden zu verwandeln. Die höchste Zahl von Siegen (das ist das erste Kriterium bei Punktgleicheit) hat Palmeiras mit 16 (von 28 Spielen, ein weiterer Beweis für die Ausgeglichenheit), die geringste Zahl der Niederlagen haben Gremio und São Paulo mit fünf. Gremio hat auch die beste Tordifferenz. Am Ende dürfte mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit entweder Palmeiras, Gremio oder São Paulo vorne stehen.



Hinter diesen ersten fünf stehen noch mit Chancen auf die Meisterschaft: Coritiba aus der paranaensischen Hauptstadt Curitiba mit 44 Punkten, Botafogo Rio de Janeiro, Vitória Salvador und Goiás Goiánia mit 43 und Internacional mit 42 Punkten.

Der Abstiegsstrudel zieht sich vom 12., das ist Atlético Mineiro mit 34 Punkten, über Santos aus der grössten Hafenstadt Südamerikas mit 33 und Figuerense Florianópolis mit 32 hin zu Náutico Recife mit 30 und Atletico Paranaense aus Curitiba mit 28, die alle noch nicht auf einem Abstiegsplatz stehen, aber auch nur wenige Punkte davor, hin zu den vier auf den Abstiegsplätzen: Auf Platz 17 Portuguesa São Paulo (einer der üblichen Verdächtigen Aufsteiger für den Abstieg), auf Platz 18 Ipatinga aus der Stahlstadt in Minas Gerais (auch einer der üblichen Verdächtigen), beide mit 27 Punkten und dann – wer richtig mitgezählt hat, weiss es schon – auf den beiden letzten Plätzen und in höchster Abstiegsnot zwei der vier grossen Rio-Vereine: Fluminense als Vorletzter mit 27 und Vasco als Letzter mit 26 Punkten. Ja, genau jenes Fluminense, das noch im Juni in den Endspielen der Copa Libertadores stand und nur im Elfmeterschiessen verlor.

Das wäre tatsächlich ein Schlag für Rio, wenn beide absteigen sollten. Aber es sind ja noch 10 Runden zu spielen, da kann noch viel passieren. Sollten beide sich noch retten können, würde der Abstieg wohl auf Portuguesa, Ipatinga, Atletico Paranaense und Náutico zulaufen.



Da kommen jetzt eine grosse Anzahl von 6-Punkte-Spielen, die sicherlich extrem interessant sein werden. So treffen am letzten Spieltag zum Beispiel Fluminense und Ipatinga aufeinander und spielen wahscheinlich um den Abstieg, ebenso wie beim Spiel Santos-Náutico, während gleichzeitig das Spiel Palmeiras gegen Botafogo die Meisterschaft entscheiden könnte.

Am fünftletzten Spieltag steigt in São Paulo das Spiel zwischen den beiden jetzigen Spitzenreitern, Palmeiras und Gremio. Das könnte bereits die Vorentscheidung sein

Am 2. November ist das Duell zwischen Fluminense und Vasco angesagt. Wer da verliert, hat gute Chancen abzusteigen. Am gleichen Tag auch Goiás - Cruzeiro. Da dürfte der Verlierer aus dem Meisterschaftsrennen sein.



Wenn Flamengo am 29. Oktober bei Vitória in Salvador antreten muss und dort verliert, könnte der Traum von der Meisterschaft ausgeträumt sein.

Allerdings könnte das gleiche auch auf Vitória zutreffen, wenn es am 23.10. bei São Paulo spielt.

Für Fluminense könnte das Spiel am 11.10. bereits Schicksalspiel sein, wenn man in Curitiba bei Atletico Paranaense antritt. Ein Auswärtssieg – und man könnte an dem Rivalen vorbeiziehen und aus den Abstiegsplätzen herauskommen, eine Niederlage und die Lichter gingen schon fast aus.


Veröffentlicht am 6. Oktober 2008 in der Berliner Umschau

Originalveröffentlichung

Donnerstag, 2. Oktober 2008

Schrecklich! Bolivien auf der 'schwarzen Liste'

Die Lachplatte

Von Karl Weiss

Kaum der Öffentlichkeit bekannt wurde die „Rache“ der US-Regierung für die Ausweisung des Botschafters Philip Goldberg aus Bolivien: Man setzte Bolivien auf die „schwarze Liste“ der Länder, die „ihren Verpflichtungen in der Bekämpfung des Rauschgifthandels“ nicht nachkommen. Schreck lass nach! Welch entsetzliches Schicksal! Wird Bolivien je wieder Licht sehen?

Botschafter Philip Goldberg

Der US-Botschafter in Bolivien, Philip Goldberg, war einschlägig bekannt. Er war schon für die US-Regierung im Kosovo tätig und hat dort auf serbischer und auf albanischer Seite die Gemüter zur Wallung gebracht gegen den scheinbaren Gegner: Die Serben bzw. die Albaner. Er ist ein berufsmässiger Aufwiegler. Er war die Geheimwaffe, die aus den USA nach Bolivien geschickt wurde, um die dortige staatliche Integrität zur Auflösung zu bringen, nachdem der neugewählte Präsident Evo Morales das Wort „Sozialismus“ in den Mund genommen hatte.

Gezielt hat Botschafter Goldberg den Gouverneuren der Tiefland-Staaten im Osten Boliviens, in denen das begehrte Erdgas gefunden wurde, die Unterstützung der USA in ihrem „natürlichen“ Bestreben zugesichert, sich von den überwiegend aus Indio-Nachfahren bewohnten Hochland-Staaten Boliviens abzuspalten und die „Tiefland-Union“ zu gründen.

Wenn ein Staat gespalten werden muss, Goldmann ist Fachmann. Er traf sich im Wochenrythmus mit den Gouverneuren und auch mit Bürgermeistern aus dem zu bildenden neuen Staat, und ließ eine Menge Geld springen, um sogenannte „Milizen“ (‚milicia‘) aufzubauen, die hauptamtlich nichts anderes machen, als die Bevölkerung, soweit sie nicht abspaltungswillig ist, zu tyrannisieren, und dafür gut bezahlt werden, eine Art von SA-Truppe. Mit Evo Morales dagegen traf sich Goldberg nur einmal und nur für ein paar Sekunden, als es unumgänglich war.

Evo Morales

Was im Kosovo so gut funktioniert hat (der Kosovo ist heute ein anerkannter souveräner Staat, obwohl dies allen Völkerrechtsprinzipien widerspricht), ließ sich allerdings nicht so leicht auf Bolivien übertragen.
  • Zum einen gelang es nicht, die von Indios abstammenden Mehrheit zu irgendwelchen Unterdrückungsmassnahmen gegen die überwiegend von europäischen Einwanderern abstammenden Tieflandbewohner zu bewegen.
  • Zweitens zog nur ein Teil der Tieflandbewohner mit. Sehr viele erinnerten sich noch gut daran, dass Bolivien vor den Ergasfunden hauptsächlich von den Einnahmen aus den Minen lebte, die in den Höhenlagen der Anden liegen.
  • Zum dritten gehören die Gouverneure der nach US-Willen abzuspaltenden Staaten alle zur Oligarchie des Landes, die über zwei Jahrhunderte das Volk bis aufs Hemd ausgezogen und ausgebeutet hat und viele der Ärmeren vergassen das nicht so schnell.
  • Viertens schliesslich: Alle Anliegerstaaten Boliviens, das sind Peru, Brasilien, Paraguay, Argentinien und Chile, traten vom ersten Moment an eindeutig gegen jede Veränderung der Staaten oder Staatsgrenzen in Südamerika an. Brasilien und Argentinien sicherten Morales in den kritischen Tagen des Putschversuchs der Gouverneure sogar Truppen zu, falls er sie anfordern würde.
Morales und Lula in Santiago

So wurde nichts aus dem Putsch und statt einem nagelneuen Tiefland-Staat hat Bolivien einen gestärkten Präsidenten, der sich durchgesetzt hat. Schade für die US-Regierung! Dazu noch die Blamage mit dem heimgeschickten Botschafter!

Da war natürlich eine scharfe Bestrafung fällig.

Wie ist es nun mit dem Rauschgifthandel in Bolivien? Tatsächlich – da beisst die Maus keinen Faden ab – wird in Bolivien in nicht unbedeutendem Umfang die Coca-Pflanze angebaut, aus deren Blättern man Cocain (Kokain) und daraus auch „Crack“ gewinnen kann. Nur – die baut man schon seit vorkolumbianischen Zeiten an und die Nachkommen der Indios (und nicht nur sie ) kauen Coca-Blätter und man macht dort einen wohlschmeckenden Tee daraus. Wird Coca auf diese Weise zu sich genommen, so hat es eine angenehme, leichte beruhigende und schläfrig machende Wirkung. Zu Halluzinationen reicht es nicht (Diese Beschreibung hat der Berichterstatter von einem, der den Tee selbst probiert hat).

Übrigens war das US-Symbol-Produkt Coca Cola am Anfang auch mit einem Sud dieser Blätter angereichert, daher der Name. Erst als Kokain in den Zwanziger Jahren plötzlich als hochkonzentriertes Rauschgift auftauchte, verbannte man dies aus dem Cola. Kokain hat ganz andere Wirkungen als der Coca-Tee: Es führt, inhaliert durch die Nase, zu Hochgefühlen, zu Allmachtsgefühlen und zu Aggressivität.

Angeblich sollen auch geringe Mengen des in Bolivien angebauten Coca zu Kokain verarbeitet worden und ausser Landes geschmuggelt worden sein, aber das ist erwiesermassen bestenfalls ein verschwindend geringe Menge. Weit über 95 % des Kokain der Welt kommt aus Kolumbien und Peru, zwei Ländern, die „unerklärlicherweise“ trotz starker Dollarunterstützung einfach nicht in der Lage sind, den Kokain-Fluss auch nur geringfügig zu verringern. Und die CIA, ich schwöre Ihnen, hat garantiert nichts mit diesen Tatsachen zu tun, die CIA ist eine ehrenwerte Organisation! Ausserdem ist es eine unverschämte und freche Lüge, in Kolumbien gäbe es fast so viel US-Agenten wie Einwohner!

Die Antwort von Evo Morales, nachdem ihm die Hiobsbotschaft überbracht wurde, Bolivien sei auf die „schwarze Liste“ gesetzt worden und damit würde das Land keinen Dollar der „Hilfe gegen den Rauschgiftschmuggel“ mehr erhalten, war: Dass sei nicht schlimm, denn 90% dieser Summe sei sowieso in Form von Aufträgen für US-Firmen „geschenkt“ worden.

Und nun kommt die Lachplatte: Halten Sie sich fest! Die „schwarze Liste“ der Länder, die nicht genügend gegen den Rauschgifthandel unternehmen, hier ist sie:

Aus Südamerika:

Brasilien, Kolumbien, Ecuador, Paraguay, Peru und Venezuela – und jetzt natürlich auch Bolivien.

Nun, Brasilien, Kolumbien und Peru stehen da völlig zu Recht, denn der Grossteil des Kokain, das die CIA aus Kolumbien und Peru auf den Weg in die Staaten und nach Europa bringt, wird über brasilianischen Boden hinausgeschmuggelt, siehe hierzu auch den Artikel über SIVAM, hier: http://karlweiss.twoday.net/stories/5159665/

Venezuela und seit letztem Wochende auch Ecuador und jetzt eben auch Bolivien haben Präsidenten, die bereits das Wort „Sozialismus“ in den Mund genommen haben, also? Ist das nicht Begründung genug?

Wie das arme Paraguay dahin gekommen ist, bleibt im dunkeln.

Aus Nordamerika und der Karibik:

Mexiko, Guatemala, Panama,Haiti, Jamaika, Dominikanische Republik und Bermudas

Die Bermudas und Panama sind zwar rein formal souveräner Staaten, dort herrscht aber faktisch US-Recht. Wieso da die US-Regierung nicht einfach aktiv wird, ist unverständlich (oder vielleicht verräterisch?)

Aus Afrika:
Nigeria

Aus Asien:

Afghanistan, Birma, Indien, Laos, Pakistan,

Und China? Und China? Diese Frage will nicht aufhören.

Afghanistan??? Afghanistan???

Hier ein Kommentar dazu von einer Leserin der „Süddeutschen“ unter dem Artikel, der hierüber informiert: „Elynittria“ schreibt u.a.:

„Lachen musste ich zu lesen, dass Afghanistan auf der Liste steht, eingedenk der Tatsache, dass die Amis den Drogenanbau und Vertrieb dort absichern.“

Als kleine Anmerkung noch: Über 80% der weltweiten Produktion von schweren illegalen Drogen wie Heroin, Kokain, Opium und einige andere werden in folgenden Ländern konsumiert: Vereinigte Staaten von Amerika, China, Japan und Europäische Union.

Veröffentlicht am 2. Oktober 2008 in der Berliner Umschau

Originalveröffentlichung

Mittwoch, 1. Oktober 2008

Zwei politische Erdrutsche

Es wird nicht mehr so sein wie früher

Von Karl Weiss

Zwei politische Erdrutsche an zwei aufeinanderfolgenden Tagen! Der Berichterstatter hatte bereits in einigen Artikeln bewegte und interessante Zeiten vorausgesagt, aber das übertraf doch alles seit 9/11.

Beckstein

Sonntag: Eine der großen politischen Parteien in der Bundesrepublik verliert in der bayerischen Landtagswahl über 17 Prozentpunkte an Wählern (in Zahlen: 800 000 Wähler) in einer Legislaturperiode! Gegenüber den Ergebnissen der Bundestagswahl 2005 (also der letzten Wahl in Bayern vorher) verliert die CSU sogar 1,5 Millionen Wählerstimmen!

Montag: Der vom Präsidenten vorgelege und von ALLEN Parteiführern und den Präsidentschaftskandidaten BEIDER Parteien empfohlene Plan, den Finanzinstitutionen in den USA Hunderten von Milliarden Steuergelder in den Rachen zu werfen, wird in einer noch nie gesehenen Rebellion der einfachen Abgeordneten gegen ihre Parteiführer abgelehnt. Die Reaktion der Wall Street: Der Dow Jones Aktienindex, der bei weitem wichtigste der Welt, verliert an einem einzigen Tag über 777 Punkte, mehr als je zuvor. Vor allem aber bedeute dies: Verluste der Werte der dort gelisteten Gesellschaften in nie gekanntem Ausmaß: 1.2 Billionen Dollar an einem Tag!

Bush

Auf den ersten Blick haben diese beiden „land-slides“ nichts miteinander zu tun und tatsächlich ist der Zusammenhang nur indirekt. Aber es gibt einen gemeinsamen Nenner: Das kapitalistische System hat ausgedient. Es geht seinen letzten Tagen entgegen. Im ersten Erdrutsch kommt dies in der Abwendung der deutschen Bundesbürger von den bürgerlichen Parteien zum Ausdruck. Im zweiten Erdrutsch kommt dies zum Ausdruck im extremen Druck der Bevölkerung der USA auf die Abgeordneten, dies 700 Milliarden-Dollar-Geschenk für jene, die Schuld sind an der Krise, nicht durchzulassen, auch und nicht zuletzt, weil es allen vorher gepredigten Prinzipien widerspricht.

Reden wir zunächst von der deutschen Situation:

Die massiven Einbrüche der CSU in Bayern haben natürlich auch regionale Gründe, aber das riesige Ausmaß lässt sich so nicht erklären. In der ganzen Zeit des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland hat es nie seine solche Wahlschlappe gegeben. Deutlich wird dies auch daran, dass die Schwesterpartei CDU bei den Kommunalwahlen in Brandenburg am gleichen Tag ebenfalls massiv Einbußen hinnehmen musste.

Man stelle sich vor: Bei den Umfragen vorher war das schlechteste Ergebnis für die CSU 47% der abgegebenen Stimmen. Das wurde bereits als Katastrophe angesehen. In Wirklichkeit sackte man aber auf 43% ab. Die Kaffeesatzleser von den Umfrageinstituten sind angesichts solcher Pleiten sprachlos.

Das geradezu sensationelle an diesem Wahlergebnis wird aber speziell dann klar, wenn man fragt, wieviel von diesen Stimmen denn zur anderen „großen Volkspartei“, der SPD gingen. Antwort: praktisch keine. Die SPD, die bereits bei den letzten Wahlen Hunderttausende von Wählern verloren hatte, erhielt in Bayern ihr schlechtestes Ergebnis in Zeiten der Bundesrepublik mit 18,6 % der abgegebenen Stimmen. Es gab Städte wie Kempten und Lindau, wo die SPD nur noch viertstärkste Kraft ist.

Zusammengefasst: Die beiden früheren großen Volksparteien CSU (im Fall Bayern) und SPD haben noch gerade soviel Stimmen bekommen wie in der vorherigen Wahl die CSU allein.

Mit anderen Worten: Die Zeiten, als es in der deutschen politischen Landschaft zwei „grosse Volksparteien“ gab und daneben noch eine oder einige wenig bedeutenden kleinere, sind vorbei.

Die Abkehr von den bürgerlichen Parteien in Deutschland kommt in einigen Wahlen vor allem im Einbruch der Wahlbeteiligung zum Ausdruck, in anderen speziell in massiven Stimmenverlusten der SPD, in weiteren in deutlichen Rückgängen bei FDP und/oder den Grünen, aber generell gibt es seit Beginn der großen Koalition fast immer die Ergebnisse, die speziell negativ für SPD und/oder CDU/CSU sind.

Zur gleichen Zeit taucht die neu erstandene „Linke“ fast immer bei den Gewinnern auf. In Bayern hat sie auf Anhieb über 461. 000 Stimmen bekommen, wenn dies auch noch nicht für den Einzug in den Landtag ausgereicht hat.

In anderen Worten: Es gibt in Deutschland einen generellen Linkstrend. Im Gegensatz zu Österreich gibt es keine deutliche Tendenz zu extrem rechten Parteien.

Womit wir nun zu den Ereignissen in den USA kommen:

Die Hilfe für die Täter (die Finanzinstitutionen)statt für die Betroffenen (die Bürger, die ihr Haus verlieren) war so klar und deutlich, dass selbst der an extrem kapitalistische Verhältnisse gewöhnte US-Bürger begann zu rebellieren. Wie CNN am Montagabend berichtete, hat eine Website gegen diesen „bailout plan“, wie er dort genannt wird, die erst am Sonntag ins Netz gestellt wurde, innerhalb 24 Stunden 100 000 Unterschriften gegen dies Vorhaben gesammelt.

Capitol, Washington (DC)

Ein Teil der Abgeordneten, der noch das Ohr am Puls des Volkes hat, war sich bewusst: Man würde ihn in seinem Wahlkreis zerreissen, wenn er dem zustimmen sollte. So gab es parteiübergreifende Kontakte und die überwiegende Mehrheit der republikanischen Kongressabgeordneten zusammen mit einer bedeutenden Minderheit von demokratischen vereinbarten, gegen das Projekt zu stimmen und taten dies.

Der Präsident der Vereinigten Staaten, beide Präsidentschaftskandidaten und alle – ohne Ausnahme – „leader“ der beiden Parteien hatten die Annahme des Plans empfohlen. Das Argument war: Man müsse verhindern, dass die Krise der Finanzinstitutionen auf die Realwirtschaft im Lande übergeift. Sonst sei mit massiven Werksschliessungen und steil ansteigender Arbeitslosigkeit zu rechnen. Allerdings hat diese Argumentation einen Haken, den schnell Viele bemerkten: Alle Protagonisten des Plans weigerten sich zu garantieren, dies Übergreifen auf die Realwirtschaft werde mit der Annahme des Plans auf keinen Fall eintreten.

Barack Obama

Das hat einen einfachen Grund: Es wird in jedem Fall zu einer Wirtschaftskrise (also einer Krise der Realwirtschaft) kommen. Die hat nämlich als Ursache nicht das Übergreifen von Problemen der Finanzwirtschaft, sondern es ist eine Überproduktionskrise. Es werden weit mehr Güter angeboten als die Arbeiter kaufen können, denn sie erhalten fast keine Lohnerhöhungen und es bleiben viele Güter unverkauft. Es müssen die Produktionskapazitäten heruntergeschraubt werden. Viele Entlassungen, weitere Lohnkürzungen. Das ist das Einmaleins des Kapitalismus, wie es bereits Marx vor über 100 Jahren dargelegt hat.

Nun mögen die US-Bürger und die Abgeordneten keinen Marx gelesen haben, aber sie haben ein Gespür für die Dinge und sie spüren richtig. Mag am Donnerstag oder irgendwann vielleicht noch eine Mehrheit für den „bailout plan“ in irgendeiner Form zusammenkommen, der Gang in die Wirtschaftskrise ist vorgezeichnet - sie hat sogar schon begonnen.

Auf jeden Fall: In Deutschland wie auch in den Vereinigten Staaten wird nichts mehr so sein wie vor diesen zwei denkwürdigen Tagen: 28. und 29 September 2008.


Veröffentlicht am 1. Oktober 2008 in der Berliner Umschau

Originalveröffentlichung

Montag, 29. September 2008

Zwei Marionetten

Die erste Debatte der beiden Präsidentschaftskandidaten in den USA

Von Karl Weiss

Der Berichterstatter hat sich der unangenehmen Aufgabe unterzogen, die erste Debatte zwischen den beiden Kandidaten McCain und Obama live und unmittelbar in der Originalsprache zu verfolgen. Dabei half natürlich, dass man hier in Brasilien eine ähnliche Zeitzone hat wie dort in den Vereinigten Staaten, denn von Deutschland aus hätte man um 3 Uhr morgens einschalten müssen.

Barack Obama

Was sind die wesentlichen Lehren, die man aus dieser Debatte ziehen kann?
  • Die Unterschiede zwischen den beiden Programmen sind minimal, etwa so wie jene zwischen Steinmeier um Merkel. Zwar gibt es Punkte, in denen die beiden deutlich verschiedene Meinungen darlegten, aber die sind völlig untergeordnet, wie z.B., ob der US-Präsident persönlich an Verhandlungen mit „bösen Buben“ teilnehmen soll oder nicht.
  • Was sind die wesentlichen und wichtigen übereinstimmenden Punkte, die aus den Stellungnahmen hervorgingen?

    Beide sind vor allem um die Vormachtstellung der USA als alleinige Supermacht besorgt. Sie wollen und werden alles tun, um diese zu erhalten. Zwar wollen und werden sie dies nicht in der gleichen Manier wie Bush junior tun, aber alle Änderungen sollen eben genau dazu dienen, diese Vorherrschaft nur noch intensiver zu sichern.
  • Sie sind beide Repräsentanten des Imperialismus, in diesem Fall des US-Imperiums. Sie haben kein anderes Bandmaß als das der absoluten Vorherrschaft der USA über den Rest der Welt. Dies ist so absolut, dass sie dies kaum selber bemerken in seiner absurden Extremität.

    Beide Kandidaten sind, wie fast immer bei bürgerlichen Politikern, Aushängeschilder von „Beratern“ und „Gönnern“, die im Hintergrund bleiben. Sie sind keine eigenständigen Personen in dem Sinne, dass sie je in der Lage wären, eine eigenständige (und eventuell unterschiedliche) Position zu artikulieren. Sie können mit Fug und Recht als Marionetten bezeichnet werden.

    Sie mögen zwar privat eigene Meinungen haben, aber sie sind in der Öffentlichkeit darauf gedrillt, die abgesprochenen Programme zu repräsentieren. Beide tun dies eloquent, aber ohne eine spürbare innere Anteilnahme.

    Dies wurde vor allem deutlich, als der Moderator mehrmals insistierend fragte, ob und inwieweit denn das Programm von Hunderten von Milliarden Dollar der Hilfe für „notleidende“ Banken und Finanzinstitutionen, das in jenem Moment in den Einzelheiten verhandelt wurde, die Regierungsprogramme beeinflussen würde. Beide gaben zwar zu, die finanziellen Möglichkeiten würden verringert, konnten aber keine klare Auskunft geben, wo man denn streichen solle und wolle und wieviel.
Barack und Michelle Obama im Wahlkampf
  • Beeindruckend auch, wie beide Kandidaten gezwungen sind, die grossen Lebenslügen der US-Gesellschaft nachzukauen. Das beginnt bei der ersten grosssen Lebenslüge, die Obama besonders liebt, der angeblichen Aufsteigsmöglichkeit vom Tellerwäscher zum Millionär, wenn man es nur will und sich anstrengt. Dass dies für 99,99% der Tellerwäscher nicht gilt, will man nicht wahrhaben. Obama stellt sich selbst gerne als solch ein Beispiel hin. Nur bestätigen Ausnahmen immer einfach die Regel.

    Die zweite grosse Lebenslüge ist, die USA wäre eine Demokratie und würde überall auf der Erde versuchen, die Demokratie einzuführen. In Wirklichkeit ist die USA unter allen westlichen Ländern das am wenigsten demokratische, wenn man unter Demokratie im wesentlichen die Gültigkeit der allgemeinen Menschenrechte versteht. Ein grosser Teil der Militärdiktaturen der letzten 100 Jahre wurden von den USA „inspiriert“ und/oder von Söldnern/Freunden der US-Regierung durchgeführt. Es lässt sich kaum etwas noch weniger demokratisches vorstellen wie die USA. Interessant auch, dass ein kleiner Zipfel dieser Diskussion in der Debatte aufkam, als Obama den Republikanern vorwarf, den (kürzlich zurückgetretenen) pakistanischen Militärdiktator Musharraf zu seinem Putsch animiert und ihm Hlfestellung gegeben zu haben. McCain verneinte dies keineswegs, sondern sagte, zu jener Zeit sei Pakistan ein „failed state“ gewesen (und damit sei ein Militärputsch wohl gerechtfertigt). So einfach ist das mit dem „Verbreiten der Demokratie“: Definiert man ein Land nach eigenem Gutdünken als „nicht funktionierendem Staat“, dann muss es sich leider, so leid es uns tut, eine Militärdiktatur gefallen lassen.

    Schliesslich die dritte Lebenslüge der US-Gesellschaft: Es sei keineswegs das inperialistische Interesse an Dominanz, in diesem Fall über die ganze Welt, die zu völkerrechtswidrigen Überfällen auf andere Länder und Genoziden wie im Irak führt, nein, es ginge um den Kampf gegen den Terrorismus, wie in Afghanistan und dem Irak bzw. um Verhindern von „ethnischen Säuberungen“, wie im früheren Jugoslawien. Nur sind in allen diesen Fällen die Begründungen bereits widerlegt, auch wenn die Kandidaten sie immer erneut auftischen, so als ob das nicht so sei. Auch hat man keinerlei Probleme mit ethnischen Säuberungen, wenn sie von Israel durchgeführt werden.
  • Beide wiederholten im ersten Teil der Debatte immer wieder die Punkte ihres ökonomischen Regierungsprogramms, so als ob die vergangene Woche mit einem Beinahe-Zusammenbruch des gesamten weltweiten Finanzsystems nicht stattgefunden hätte. Beide geben zwar an, in die Verhandlungen über das Paket der Hilfe für die notleidenden Banken und Finanzinstitutionen einbezogen zu sein, konnten aber keinerlei Angaben über den Verhandlungsstand machen. Sie wiederholten nur ihre Positionen hierzu, im gleichen Wortlaut wie 4 Tage vorher. Beide stellten dies Programm so dar, als ob nun zwar Geld ausgegeben würde, nur später, wenn die Krise ausgestanden sei, käme dies wieder in die Kassen zurückgeflossen. Das ist aber bekannterweise grossenteils eine Illusion. Daraus ergibt sich, was beide im zweiten Teil der Debatte über die Aussenpolitik sagten: Es wurde nicht im geringsten über Einschränkungen der Rolle der USA als weltweiter „Polizist“, über Verringerungen der Präsenz im Ausland gesagt
  • Entweder haben beide nicht begriffen, was der Ausbruch einer von den USA ausgehenden Wirtschaftskrise bedeutet oder sie versuchen den Wähler darüber zu täuschen, beide in gleichem Masse.

    Zwar sagte Obama am Anfang, die USA ständen vor einer „Rezession“ (das verniedlichende Wort der bürgerlichen Ökonomen für die Wirtschaftskrise), der grössten seit der „grossen Depression“ (das war die Wirtschaftskrise, die 1929 begann und sich bis zum Ausbruch des zweiten Weltkriges 10 Jahre später hinzog) und McCain bestätigte, man stehe vor der grössten Krise, seit er lebe („und ich bin schon ziemlich lange auf der Welt“), ja, er legte sogar noch einen drauf und sagte, man stehe mit dem 700-Milliarden-Dollar-Hilfsprogramm keineswegs am Anfang des Endes der Krise, sondern nur am Ende des Anfangs. Doch wenn es um die Lehren daraus ging, war völlige Leere. Beide wiederholten das ökonomische und aussenpolitische Programm, das bereits auf beiden Parteitagen im August vorgestellt worden war.

    Es war eine fast unglaubliche Szene, als der Moderator der Debatte drei Mal nacheinander fragte, was die Kandidaten denn nun aus ihrem Programm an Ausgaben streichen würden und dreimal von beiden keine vernünftigen Antworten bekam. Anscheinend haben die ‚Berater’ der beiden noch keine Zeit gefunden, die Programme den neuen Gegebenheiten anzupassen und so blieben beide in ihren Worthülsen stecken und konnten nicht mehr vor noch zurück.
Was ist wirklich der entscheidende Punkt der beginnenden Wirtschaftskrise für die USA? Die sich bildende Dollarblase wird platzen. Im Moment strömt vagabundierendes Kapital in den traditionell sichersten Hafen: AAA! Dollar-Bonds! Anleihen der Regierung der Vereinigten Staaten! Das hat der Abwärtsbewegung des Dollar halt geboten und führt zeitweise sogar zu einem Anstieg des Dollar-Kurses. Aber dies ist angesichts der Überproduktionskrise in den Vereinigten Staaten nichts als eine Blase.

Und was lernt man von Seifenblasen? Sie mögen wunderschön schillern, sie mögen sogar für eine ganze Zeit gross und grösser werden. Doch immer kommt der Moment, in dem sie platzen.

Genau das wird dem Dollar passieren, zu irgendeinem Zeitpunkt dieser Krise. Und das wird die Funktion des Dollars als Welt-Leitwährung beeinträchtigen oder ihn sogar ganz von diesem Thron stossen. Je nachdem, wie tief der Dollar dann fallen wird, wird die alleinige Supermacht USA entweder stark in ihren internationalen Ambitionen beschränkt oder sie wird zusammenschrumpeln zu einer von mehreren Weltmächten oder wird im Extremfall sogar nur noch eine regionale Grossmacht sein, so wie es mit Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geschah.

Dies alles ist den Kandidaten entweder nicht klar oder sie wollen es einfach nicht wahrhaben oder sie täuschen die Wähler bewusst darüber. Beide stellten die Vergangenheit dar und waren noch nicht in der Gegenwart angekommen. Beide waren sich einig, nicht einen Cent von den Militärausgaben zu streichen. Beide stimmten darin überein, die aus dem Irak abzuziehenden Truppen nun nach Afghanistan zu schicken. Obama fragte nicht einmal nach, wohin denn die Milliarden im Irak verschwunden sind.

Beide drohten dem Iran, Russland (das angeblich Georgien überfallen hat), China, Nord–Korea und Syrien, erklärten, ein Zurückrudern aus den Konsequenzen der „orangenen Revolution“ in der Ukraine könnte nicht hingenommen werden, sowohl die Ukraine als auch Georgien könnten in die NATO aufgenommen werden, sobald sie die Voraussetzungen erfüllten (was bedeutet, Georgien muss erneut seine abtrünnigen Provinzen überfallen und die Ukraine muss die russische Flotte aus Sewastopol vertreiben).

Beide sagten, sie wollten nicht zurück zum kalten Krieg, erklärten aber nicht, wie das funktionieren soll, wenn man Russland als Diktatur bezeichnet (Russland ist nicht mehr Diktatur als die USA) und als absolut Böses hinstellt wie einst Reagan die Sowjetunion. Obama kündigte noch eine Spezialbehandlung von Hugo Chávez an, was auch nur als Drohung verstanden werden kann. Er gab ebenso eine offene Drohung an Pakistan ab: Wenn die neue Regeirung dort nicht mit den Rückzugsräumen der Taliban in jenem Land aufräume, würde man auch Pakistan angreifen (was Bush ja in Wirklichkeit schon tut).

Allerdings sind die Zeiten bereits vorbei, als die US-Regierung nur zu drohen brauchte und alle mussten wohl oder übel folgen oder wurden mit völkerrechtswidrigen Kriegen überzogen.Schon heute kann man nicht mehr als einen Krieg zur gleichen Zeit führen, ohne in ernsthafte Schwierigkeiten zu kommen, wie im Moment in Afghanistan. Schon heute muss man zähneknirschend hinnehmen, dass eine Anzahl von Staatschefs einfach nicht mehr den USA gehorchen und damit bis auf weiteres davonkommen. Der Status der alleinigen Supermacht der USA ist bereits heute mit Einschränkunungen zu versehen – wie sehr dann erst, wenn die Krise ihren Höhepunkt erreichen wird.

Ja, in den Vereinigten Staaten werden eine Menge der „Führer“ noch einiges lernen müssen, bis sie in ihre neue Rolle hineinwachsen können.


Veröffentlicht am 29. September 2008 in der Berliner Umschau

Originalveröffentlichung

Sonntag, 28. September 2008

Brasilien jenseits von Fussball und Samba, Teil 13: Wie unsere Zukunft in der beginnenden kapitalistischen Barbarei aussähe

'Ich habe kein Leben'


Von Elmar Getto


Ein erschütterndes Dokument über das Leben im Kapitalismus (oder eigentlich schon in der kapitalistischen Barbarei): Ein 12-jähriger in Rio de Janeiro wird von der Polizei festgenommen und verprügelt. Er hat beim Drogenhandel geholfen und ist Schmiere gestanden, als die Drogenhändler einen Polizisten umbrachten. Der Reporterin, die ihn auf der Polizeistation befragt: „Warum bist du in dieses Leben eingestiegen?", sagt er: „Ich habe kein Leben." Und „Das war meine einzige Möglichkeit zu überleben."

Brasilien (topographisch)

Wie wird es aussehen, wenn es uns nicht gelingt, den Kapitalismus zu besiegen und den wahren Sozialismus zu errichten, wenn der Kapitalismus in die kapitalistische Barbarei übergehen wird? In einigen Entwicklungsländern, so wie in Brasilien, kann man jetzt schon sehen, was kapitalistische Barbarei IN DEN ERSTEN ANSÄTZEN heißen würde:

In wesentlichen Teilen des Landes herrscht nicht mehr die Staatsmacht, sondern eine Doppelherrschaft zwischen Staatsmacht und kriegsmäßig bewaffneten, mafiaähnlichen Banden, die sich vor allem durch Drogen-, Frauen- und Waffenhandel finanzieren. Der Drogenkonsum (illegale Drogen) hat sich tief in die Gesellschaft eingeführt, vor allem die Unterdrückten versuchen ihre elende Lage im Rausch zu vergessen, aber auch die Droge der Schickeria, Kokain (auch in Form von Crack), spielt eine bedeutende Rolle. Nicht einmal mehr ein Viertel der Einwohner hat dort regelmäßige bezahlte Arbeit.

Dies sind Zustände, wie sie in Brasilien schon heute in bestimmten Teilen herrschen. Besonders in der größten Stadt der südlichen Hemisphäre, São Paulo, und in Rio de Janeiro ist dies bereits für einen wesentlichen Teil der Bevölkerung Realität. In Rio auf den Hügeln, in Sâo Paulo an der Peripherie.

São Paulo, grösste Stadt der südlichen Hemisphere

In den Armenvierteln, den sogenannten Favelas, herrschen 60, 70, 80, 90% Arbeitslosigkeit bei den Männern und männlichen Jugendlichen. Die einzige Aussicht für die meisten ist, den kriminellen Banden beizutreten, Drogen zu verkaufen und Hilfsdienste zu leisten. Die Polizei, schlecht bezahlt und in lächerlicher Weise unterbewaffnet gegenüber den Kriminellen, die über jede Art von Kriegswaffen verfügen, hat keine wirkliche Kontrolle mehr über diese Regionen, denn sie kann dort nur noch in großer Anzahl bei seltenen „Suchaktionen" auftreten, die üblicherweise von den lokalen Politikern als Beweis ihrer phantastischen „Bekämpfung der Kriminalität" angeordnet werden.

Die Polizei ist zudem - ständig in Angst, selbst erschossen zu werden - völlig brutalisiert und schießt auf alles, was männlich ist und sich bewegt (das mit dem Männlich ist dabei nicht unbedingt notwendig).

Die kriminellen Banden sind völlig skrupellos, wenn jemand eine erhaltene Droge nach dem Weiterverkauf nicht oder nur teilweise bezahlt. Derjenige wird ohne Ausnahme liquidiert. Dabei macht man sich nicht immer die Mühe, ihn allein abzupassen, sondern erschießt ihn auch schon mal in aller Öffentlichkeit und dann auch gleich alle anderen Umstehenden, um keine Zeugen übrig zu lassen. Z.B. so kommen im heutigen Brasilien Zahlen zustande wie die 40 000 Ermordeten pro Jahr, die höchste Zahl von Morden aller Länder (wenn man in diesem Fall einmal den Irak ausnimmt - aber selbst dort hat man Schwierigkeiten, auf 40 000 Ermordete zu kommen).

Rio de Janeiro Botanischer Garten 1

Der Schreiber dieser Zeilen hat Jahre in Barueri an der Peripherie von São Paulo gelebt und dort abends die Maschinenpistolensalven gehört, wenn solche Massaker angerichtet wurden. Ein Bekannter von ihm wurde bei einem erschossen. Als er später in Rio de Janeiro lebte, konnte man in manchen Nächten Schnellfeuergewehr- und Maschinenwaffen-Feuer hören, wenn sich verschiedene der Banden bekämpften oder ein Feuergefecht mit Polizisten stattfand.

Die Polizisten versuchen so lange wie möglich zu überleben in dieser Situation und nehmen kleine Bestechungsgelder an, hauptsächlich um damit den Führern der kriminellen Banden zu signalisieren, daß sie nichts von ihnen zu befürchten haben. Aber immer, wenn ein Polizist im Verdacht steht, irgendeine eventuell gefährliche Information weitergegeben zu haben, wird er von den Unterführern der Kriminalität zum Tode verurteilt und ein Hinrichtungskommando wird abgestellt, um das schmutzige Geschäft durchzuführen.

Das war auch in diesem Fall so. Ein Polizist wurde im vergangenen Mai in Niteroi, Großraum Rio de Janeiro, ermordet von einem Kommando der kriminellen Organisation der Favela, wo er zuständig war. Wie oft üblich, wurden von der kriminellen Bande, in diesem Fall den ‚Herrschern’ des ‚Morro do Estado’ in Niteroi, dabei auch Kinder mit in das Verbrechen einbezogen. Dadurch hat man diese später als Jugendliche in der Hand, denn man kann sie ja jederzeit der Polizei ausliefern und so schafft man sich vor Angst schlotternde Untergebene, die selbst die unmenschlichsten Befehle ausführen.

Rio de Janeiro, Zuckerhut und Corcovado von Niteroi aus

In diesem Fall wurde ein 12-jähriger Junge einbezogen, der gelegentlich für 20 Real (7,50 Euro) pro Tag als Verkäufer von Kleinmengen von Marihuana an bekannten Punkten in der Nähe der Favela für die Drogen-Mafia arbeitet (daß wir auch in Deutschland bereits auf diesem Weg sind, kann uns jeder Ein-Euro-Jobber bestätigen. Zwar sind die hiesigen „Arbeitgeber" offiziell noch keine kriminellen Organisationen, aber z.B. schon politische Parteien, was ja auch nicht sehr unterschiedlich ist). Der Junge wurde abkommandiert, Schmiere zu stehen beim Mord an jenem Polizisten. Dabei kam es zu einem Feuergefecht, bei dem sowohl der Polizist als auch einer der Mordbuben getötet wurden.

Wer sich in etwa ein Bild machen will, wie man sich das Leben und die Zustände in einer Favela vorzustellen hat, kann sich das Stück oder eine der beiden Verfilmungen „Orpheu Negro" ansehen, ein Meisterwerk des brasilianischen Dichters und Schriftstellers Vinicius de Morais, heute leider schon verstorben, der u.a. auch das Gedicht (Text) des weltbekannten Liedes „Garota de Ipanema" („The Girl from Ipanema") geschrieben hat. Zwar ist diese Beschreibung schon Jahrzehnte alt, damals gab es diese Zustände erst in wenigen begrenzten Gebieten und die unglaubliche Brutalität der heutigen Zustände deutete sich erst an, aber das Prinzip bleibt das gleiche.

Die Polizei reagiert auf Polizistenmorde üblicherweise nicht damit, daß die Täter gefunden und der Justiz übergeben werden, sondern mit Rache-Unternehmen gegen diejenige Favela, die als Urheber des Mordes angesehen wird.

Im März dieses Jahres wurde ein Massaker bekannt, das Polizisten, die nicht im Dienst waren, in einer Favela in der ‚Baixada Fluminense’ angerichtet haben, ein anderer Bereich von Groß-Rio-de-Janeiro. 30 Personen wurden abgeschlachtet, einschließlich Frauen und Kinder, wahllos, offenbar weil die Polizisten eine Riesenwut hatten.

Es wurde in diesem Fall nicht aufgeklärt, ob es wiederum um einen Racheakt für einen Polizistenmord gehandelt hat oder ob die Angabe der Täter stimmt, sie seien erbost über eine unpopuläre Maßnahme eines ihrer Vorgesetzten gewesen.

Zuckerhut von der Botafogo-Bucht aus

Tatsache ist, daß die Täter, obwohl sie bereits innerhalb kurzer Zeit identifiziert werden konnten, bis heute keinerlei irgendwie geartete Strafe gefunden haben. Zwar wurden sie wegen des internationalen Aufsehens, das jenes Massaker hervorrief, für kurze Zeit in ein speziell für Polizisten vorgesehenes Gefängnis eingesperrt, aber sofort wieder freigelassen, als die internationale Aufmerksamkeit nachließ. Bis heute tun sie ihren Dienst in der Polizei und bis heute liegt gegen keinen von ihnen eine Anklage vor.

Die Aburteilung solcher Täter ist extrem selten, denn es finden sich praktisch nie Zeugen, die aussagebereit sind. Jeder weiß, wer gegen einen Polizisten aussagt, wird nicht allzu lange danach mit einer Kugel im Kopf aufgefunden. Selbst das Nicht-Aussagen schützt dabei Zeugen wenig. Im Fall des Polizistenmordes in Niteroi gab es nämlich einen Zeugen, der sich aber aus Angst weigerte auszusagen. Trotzdem wurde seine Leiche kurze Zeit später im Kofferraum eines Autos gefunden - mit der obligatorischen Kugel im Kopf.

Es gibt zwar in einzelnen Fällen Zeugenschutzprogramme, aber auf die vertraut inzwischen kaum einer mehr, denn neuer Name und Aufenthaltsort sind ja innerhalb der Polizei bekannt und bleiben vor anderen Polizisten nicht immer geheim.

Auf den Jungen, der 1993 das Candelaria-Massaker überlebte (ehemalige Polizisten und Polizisten außer Dienst ermordeten 6 Straßen-Kinder, verletzten weitere 5 schwer) und sich bereit erklärte auszusagen, wurden 3 Anschläge verübt, die er wie durch ein Wunder überlebte. Er lebt heute unter neuem Namen in der Schweiz. Die Verurteilungen von Polizisten bzw. Ex-Polizisten wegen dieses Massakers (alle unterhalb der Strafe für Mord) wurden ausnahmslos von höheren Gerichten wegen angeblicher Formfehler wieder aufgehoben. Sie sind alle in Freiheit.

Staatsanwälte können praktisch keine Verfahren gegen Polizisten führen, denn die Polizei würde dann in den von jenem Staatsanwalt bearbeiteten Fällen die Aufklärung blockieren und der Staatsanwalt müßte abberufen werden. Als man einen Staatsanwalt nur für Polizisten-Kriminalität einsetzte, wurde er bald mit der berühmten Kugel im Kopf aufgefunden. Es braucht nicht erwähnt zu werden, daß dieser Mord nie aufgeklärt wurde.

Interessierte ultrarechte Politiker und Medien, speziell der Groß-Fernsehsender ‚Globo’, lassen immer wieder deutlich durchblicken, daß solche Massaker von Polizisten an Straßenkindern und Favela-Bevölkerung „im Grunde berechtigt" und notwendig seinen, nur leider wegen der legalen Probleme nicht in der notwendigen Häufigkeit durchgeführt werden könnten.

Das geht so weit, daß reaktionäre Politiker mit bestimmten Codewörtern und -Zahlen sich zur Ausrottung von „potentiellen Straßenräubern" und „Delinquenten" bekennen und mehr oder weniger offen zur Wahl mit diesem Programm antreten. Speziell gilt dies für eine Anzahl von Politikern der PP (Partido Progressista), einer ultrarechten Partei in Brasilien, die Partei von Paulo Maluf, dem „Franz-Josef-Strauß Brasiliens". Ein durch und durch korrupter und reaktionärer Politiker, der Kandidat der Militärs bei der noch nicht vom Volk durchgeführten Präsidentenwahl im Jahr 1985 in Brasilien am Ende der Militärdiktatur war.

Corcovado von Botafogo aus

Politiker dieser Partei benutzen ihre Parteinummer 11, um solche Anspielungen zu machen. In Brasilien haben alle Parteien feste Nummern. Die Präsidentenwahlen und Gouverneurswahlen (Ministerpräsidenten der Bundesstaaten) werden direkt mit diesen Nummern durchgeführt, die einzelnen Listen für Bundestags, Senator-, Landtags- und Kommunalwahlen fangen mit dieser Nummer an. Die Kandidaten dieser Partei hängen eine weitere 1 an die Parteinummer an und spielen mit der sich dann ergebenden Zahl 111 auf das Carandiru-Massaker an.

Im Jahr 1994 war nach einer Gefangenen-Revolte im Großgefängnis Carandiru von São Paulo von der stürmenden Polizei ein unerhörtes Massaker unter den Häftlingen verübt worden. 111 von ihnen wurden exekutiert.

Weder wurde der verantwortliche Gouverneur Fleury bisher angeklagt (er ist weiterhin hochangesehener Politiker) noch erhielten die Polizeikommandeure oder die einzelnen ausführenden Polizisten irgendwelche Strafen. Stattdessen identifizieren sich bestimmte Politiker, z.B. ein gewisser Bolsonaro, mit dieser Nummer als „law-and-order"-Rambos, worauf allerdings weniger und weniger der ratlosen brasilianischen Wähler hereinfallen.

Im Fall des Polizistenmordes im Mai in Niteroi hatte die Polizei nun unter anderem herausgefunden, daß der Zwölfjährige beteiligt war. Sie holten ihn vom Verkaufsort der Marihuana ab (trafen natürlich bereits in Kleinpackungen aufgeteiltes Marihuana bei ihm an) und nahmen ihn mit aufs Revier, wo er kräftig verprügelt wurde.

Tänzerin beim Karneval in Rio

Interessant hier das Detail, daß die Polizei natürlich genau weiß, wo illegale Rauschgifte verkauft werden, diese Verkaufsstellen aber keineswegs ausräuchert, sondern dort alle gewähren läßt. In Brasilien haben diese Verkaufsstellen sogar einen eigenen Namen: „Boca do fumo". Dies macht deutlich, wie verwoben bereits die Polizei und das organisierte Verbrechen sind, die man nur noch an der Uniform unterscheiden kann.

Jemand aus der Favela hatte gesehen, wie der Junge abgeführt wurde und die Mutter benachrichtigt, die als Tagelöhnerin arbeitet ( ja, Taglöhner werden in der kapitalistischen Barbarei natürlich auch wieder eingeführt, es wird nicht mehr lange dauern, dann haben wir in Deutschland auch wieder welche). Die Reporterin einer Zeitung Rios schildert die Szene so, als sie auf der Wache ankommt: „Der Junge stand da, in Tränen aufgelöst, umgeben von zumindest 6 Polizisten mit Gewehren und Pistolen. Als die Mutter ankommt, wendet sie sich zuerst an den Jungen: „Du sagst jetzt gar nichts mehr! Sonst werde ich es sein, die dich mit Schlägen eindeckt!" Dann wendet sie sich an die Polizisten: „Ihr habt kein Recht, einen Jungen festzunehmen und zu schlagen! Was ist das für eine Geschichte?"

Eine Zeit später hat sie sich schon etwas beruhigt und wird von der Reporterin befragt. Sie erzählt, daß sie außer dem Jungen noch 5 Kinder hat, zwischen 21 und 2 Jahren alt. Sie sagt auch, daß ein anderer Sohn im Jahr 2003, 16 Jahre alt, von Leuten der konkurrierenden Rauschgifthändlerbande aus der Nachbarfavela verschleppt und bei lebendigem Leib verbrannt worden sei. „Es ist nicht gerecht, daß eine Mutter so ihre Kinder verliert. Keine Mutter verdient es, so etwas zu erleben!"

Karneval in Rio - Tänzerin fast nackt

Danach befragt die Reporterin den Jungen. Er sagt, er braucht das Geld, das er mit dem Marihuana-Verkauf verdient, zum Überleben. Ja, er ginge zur Schule. Er habe einmal Arzt werden wollen. Aber an diesem Tag sei die Schule ausgefallen, weil die Lehrerin fehlte (Na, das kennen wir doch auch aus Deutschland, nicht?). Schließlich fragt die Reporterin: „Warum bist du in dieses Leben eingestiegen?" und er sagt: „Ich habe kein Leben, Tante." (‚Tante’ und ‚Onkel’ sind die übliche Bezeichnung, mit der Kinder aus den Favelas außenstehende Personen ansprechen.)

Der Junge hat bereits eine klare Sicht der Wirklichkeit. Männliche Jugendliche in den Favelas haben, statistisch gesehen, nur etwa 50% Chance, das 30. Lebensjahr zu erreichen oder anders ausgedrückt, 50% Chance, vorher ermordet zu werden. Dieser Junge, so berichtet die Reporterin weiter, wird nun in ein Besserungslager für Jugendliche von 12 bis 18 Jahren gebracht. Dort wird man ihm endgültig alles beibringen, was skrupellose Kriminelle für ihr kurzes Leben brauchen, denn es handelt sich um reine Aufbewahrungsanstalten mit brutalisierten Aufsehern und Folter.

So zieht der brasilianische Staat bewußt den Nachwuchs für die kriminellen Banden heran.

In der brasilianischen Öffentlichkeit wird es versucht so darzustellen, daß die Köpfe jener Banden die jeweiligen Machthabenden in den Favelas sind. Die sind in der Regel mit ihren Spitznamen bekannt und genießen in den Medien eine gewisse - und keineswegs nur negative - Aufmerksamkeit. So haben die brasilianischen Medien einen der Favela-Bosse, einen gewissen Fernandinho Beira-Mar, als öffentliche Persönlichkeit hochgejubelt, so als ob an ihm irgendetwas zu feiern wäre.

Brasilianischer Karneval: Tänzerin auf dem Festwagen

Wenn man allerdings seinen Menschenverstand zu Hilfe nimmt, so wird klar, daß die wirklichen Hintermänner dieser kriminellen Banden ja täglich Hunderttausende von Dollars an Gewinnen einstecken. Völlig undenkbar, daß diese Bosse in Favelas leben. Man wird sie wohl eher in den typischen Häusern und Wohnungen der brasilianischen Superreichen finden.

Da sind wir denn auch schon angekommen bei jenen Personen, denen all dies zugute kommt. Die brasilianische Gesellschaft ist dominiert von etwa 500 bis 1000 Familien (ein Leser meinte, es könnten auch 1500 sein), die alle Institutionen dominieren. Sie haben die Politik in der Hand, das Parlament, die Justiz, die Medien, die Polizei, die Armee, kurz: Alles.

Sie zeichnen sich vor allem durch zwei Dinge aus: Sie sind superreich - Vermögen von Milliarden von Dollar sind in Brasilien häufig - und sie sorgen dafür, daß wesentliche Teile der in Brasilien geschaffenen Werte in Form von Zinsen und Zinseszinsen für die überbordende Auslandsverschuldung an internationale ‚Finanzagenten’ gehen, also Banken, Großkonzerne und private Anleger.

Die Armut Brasiliens und der meisten Brasilianer ist also durch das Zusammenspiel der Superreichen Brasiliens (dort von den Medien - die ihnen gehören - gerne „Elite" genannt) und der Imperialisten bedingt.

Dort, bei diesen Superreichen, sind dann auch die Hintermänner zu suchen, die letztlich die kriminellen Gangs in der Hand haben, die große Teile der brasilianischen Gesellschaft terrorisieren. Es gibt sogar klare Hinweise, daß ein Teil der Politiker, die in Brasilien etwas zu sagen haben, direkt oder indirekt mit diesen Mafiabanden verknüpft sind.

Speziell zu den Deals, die Politiker hier mit den kriminellen Banden schliessen, siehe hier und hier.

Ein Beispiel sei hier beschrieben: der in Brasilien bekannte Politiker Garotinho (im Moment gerade bei der Partei PMDB). Er wurde, damals noch bei einer angeblich linksgerichteten Partei, der PDT, zum Gouverneur von Rio gewählt.

Zunächst tat er etwas, das vielen Hoffnung gab, hier würde nun einer einmal wirklich versuchen, die Zustände zu verbessern: Er beschäftigte einen anerkannten Fachmann in Sicherheitsfragen und beauftragte ihn, die Zustände bei Polizei, Strafvollzug und Justiz zu durchleuchten und Vorschläge für Änderungen zu machen. Der war denn auch schon bei seinen ersten Untersuchungen fündig geworden. Er hatte herausgefunden, daß die gesamte Spitze der Zivil-Polizei im Staat Rio de Janeiro korrupt war. Er legte nach seinen eigenen Angaben den entsprechenden Bericht mit Belegen usw. bei einem kurzen Gespräch mit dem Gouverneur auf dessen Tisch.

Am nächsten Tag war die Story in allen Zeitungen und im Fernsehen. Die betroffenen Polizeioffiziere waren vorgewarnt, um eventuelle Beweise verschwinden lassen zu können. Der Sicherheitsexperte bekam Morddrohungen für sich und seine Familie. Er wurde kurz danach vom Gouverneur entlassen und mußte mit der Familie in die USA fliehen, um sein Leben und seine Familie zu schützen. Von den im Bericht genannten Offizieren (alle in den Rängen von Obersten und höher) wurden zwei versetzt, alle blieben im Amt und ansonsten betrieben sie weiter ihre „enge Zusammenarbeit" mit den Verbrecherbanden. Die Zivil-Polizei ist in Brasilien jener Teil der Polizei, der für Ermittlungen und Vorbereitung von Anklagen zuständig ist, also die entscheidende Stelle, bei der man sich gegen eventuelle staatliche Verfolgung versichern kann.

Die nächste Großtat des Gouverneurs folgte kurze Zeit später. Es war gerade ein völlig neues Hochsicherheits-Gefängnis in Rio fertiggestellt worden, nach den modernsten Erkenntnissen des Umganges mit Schwerst-Kriminellen. Hier würden also die bereits Verurteilten mittleren Chargen der Mafia-Banden einsitzen müssen und auch zukünftig Verurteilte hineinkommen - dazu gehörte u.a. der oben schon erwähnte Verbrecher mit dem Spitznamen Beira-Mar.

Favela in Belo Horizonte

Laut Angaben der ‚Folha de São Paulo’, der größten Tageszeitung Brasiliens, wurden alle wesentlichen Sicherheitseinrichtungen des Gefängnisses mit dem Namen ‚Bangu 1’ nach der Übergabe des Baus an die lokalen Behörden außer Kraft gesetzt und abgebaut, noch bevor es eingeweiht wurde. Alle Türen und Absperrungen wurden entfernt, die sicherstellen sollten, daß es zwischen Häftlingen und Aufsehern wie auch zwischen Häftlingen und Besuchern - wie auch Anwälten - zu keinem physischen Kontakt kommen könnte. Ebenso wurde das gesamte Überwachungssystem mit Kameras usw. nie benutzt. Das Gefängnis wurde also so betrieben wie alle anderen Gefängnisse in Brasilien auch.

So hörte man denn auch schon kurz nach der Einweihung davon, daß die Insassen, soweit sie Sergeanten der Drogen-Banden in den Favelas gewesen waren, von dort aus per Handy ihre ‚Geschäfte’ weiter führten. Abgehörte Telefongespräche belegten, daß sie ungehindert Mordaufträge per Telefon gaben und ähnliches. Später bekam man sogar ein Video zu sehen, daß nach des Gouverneurs eigenen Angaben von Häftlingen erstellt wurde (man stelle sich vor, es konnten Video-Kameras in die Gefängnisse und die fertigen Videos herausgeschmuggelt werden), indem man sah, daß während der Zeit der Zellenöffnungen (alle Häftlinge konnten im Gefängnis herumlaufen, sich ungehindert miteinander verständigen) offen Rauschgift angeboten und verkauft wurde.

Doch damit waren die sehr speziellen Vorlieben dieses Gouverneurs noch keineswegs erschöpft. Er liebte es auch, sich mit Gestalten aus der Unterwelt zu umgeben. Er berief zum Sportminister von Rio de Janeiro einen Politiker, der bereits mehrmals aufgefallen war, weil er engste Beziehungen zu den Chefs der Terrorbanden in der Favela Mangueira hatte. Er besuchte z.B. den Boss der Mangueira-Bande regelmäßig im Gefängnis, als dieser verurteilt war. Nach Absitzen seiner Strafe durfte dieser Drogen-Unter-Boss dann sogar ein Amt in der Aufsicht des Maracanã-Stadions einnehmen, in das ihn sein Freund, der Sportminister, berufen hatte (Die Favela Mangueira liegt gleich neben dem Maracanã-Stadion).

Kaum glaublich war auch der nächste Skandal, der sich abspielte. Es war eine neue Direktorin berufen worden in genau jenes Spezialgefängnis, das oben bereits erwähnt wurde. Diese Frau war offenbar ziemlich unerschrocken und pflichtbewusst und wohl auch nicht bestechlich - bezeichnend, daß für so etwas anscheinend immer eine Frau kommen muß, die Herren der Schöpfung scheinen generell nicht unbedingt die Mutigsten zu sein. Jedenfalls ordnete sie an, daß ein Teil der speziellen Sicherheitsmaßnahmen des Gefängnisses wieder eingeführt wurden und auch spezielle Restriktionen für den Anwaltskontakt.

Dazu muß man wissen, daß diese Drogenbanden-Unter-Bosse mit ganzen Horden von Anwälten arbeiten. Der oben genannte Beira-Mar z.B. beschäftigte 14 Anwälte nur für sich. So hat er täglich Besuch von einem oder mehreren Anwälten (Es wäre übrigens leicht, anhand der Bezahlung dieser Anwälte den Weg zurück zu den Geldquellen der Verbrecherbanden und eventuell zu höheren Chargen zu verfolgen, aber das wurde noch nicht einmal versucht.). Besagte Gefängnisdirektorin beschränkte nun die Zahl der Anwaltsbesuche pro Woche und ließ auch die Gespräche mit den Anwälten abhören. Allerdings begann sie bereits mit dem Abhören, als der zuständige Richter dies noch gar nicht genehmigt hatte. Sie staunte nicht schlecht, als sie eines der Anwaltsgespräche abhörte. Der Häftling und der Anwalt sprachen die Einzelheiten ihrer (der Direktorin) Ermordung ab! Das entsprechende Band leitete die Direktorin direkt an den Gouverneur Garotinho und bat um speziellen Schutz.

Der erklärte daraufhin, er könne nicht aktiv werden, denn die Abhöraktion sei illegal gewesen. Wenige Tage später wurde die Direktorin erschossen aufgefunden. Sie war genau auf die Art ermordet worden, wie es auf dem Tonband vereinbart worden war. Der Gouverneur sagte, er habe mit den Ermittlungen zu diesem Mord nichts zu tun. Bis heute wurde angeblich nicht aufgeklärt, wer diesen Mord in Auftrag gegeben hatte, obwohl es jeder weiß.

Charakteristisch, daß dies zwar für drei Tage auf der Titelseite der Zeitungen und am Anfang der Nachrichten im Fernsehen kam, aber dann abrupt fallengelassen wurde und der nächste Skandal berichtet wurde. Alle diese Skandale werden von den Medien nicht verfolgt. Es werden keine Aufklärungen verlangt, nicht darauf gedrungen, daß die Parlamente, Staatsanwälte und die Polizei untersuchen. Die anfängliche Erklärung, es werde alles brutalstmöglich aufgeklärt, wird für bare Münze genommen und dann nicht mehr nach der Aufklärung gefragt (das kennen wir gut aus Deutschland, Roland Koch läßt grüßen).

Das ist auch verständlich, denn die Medien sind ja eben in den Händen genau jener Superreichen Brasiliens, aus deren Kreisen die Hintermänner kommen. Die Medien kochen einen Skandal nach dem anderen hoch, in schneller Abfolge, so daß die einzelnen schnell dem Vergessen anheim fallen. So wird die Öffentlichkeit scheinbar informiert, doch in Wirklichkeit nur unterhalten, im Endeffekt düpiert.

Ebenso charakteristisch, daß diese Art von Skandalen in den Wahlkämpfen von den gegnerischen Kandidaten nicht benutzt wird, um diese Kandidaten anzugreifen. Die Krähen hacken einander...

Interessant, daß genau dieser Politiker Garotinho bei der ersten Runde der letzten Präsidentenwahlen in Brasilien auf den dritten Platz kam – nach Lula und dem konservativen Politiker Serra, den er dann im zweiten Wahgang schlug. Auffallend, daß er in ‚seinem’ Staat Rio de Janeiro über 70% der Stimmen bekam, ein kaum glaubwürdiges Ergebnis. Es besteht, nicht zuletzt auch aufgrund der späteren Wahlen auf kommunaler und Landesebene, der starke Verdacht, daß in Rio de Janeiro massiv Wahlen gefälscht werden.

Es werden die gleichen Wahlmaschinen wie in den USA verwendet, von denen bereits bewiesen ist, daß sie manipuliert werden können. Bei den Wahlen der Landtagsabgeordneten in Rio hatten eine Anzahl von Kandidaten bei den Zwischenergebnissen bereits eine höhere Stimmenzahl, als ihnen am Ende zugesprochen wurden.

Wie auch in den USA, gibt es bei diesen Maschinen außerhalb des elektronischen Gedächtnisses keine Dokumentation auf Papier, was ein Nachzählen unmöglich macht.

Dies waren einige Eindrücke von den Zuständen, die bereits den Anfang der kapitalistischen Barbarei kennzeichnen, auf die wir auch in Deutschland zusteuern, wenn wir nicht vorher den echten Sozialismus errichten.


Hier der letzte Artikel aus Elmar Gettos Brasilien-Reihe, die inzwischen schon vielfach zitiert wird. Dieser Artikel wurde am 6. Februar 2006 in der "Berliner Umschau" veröffentlicht. Die anderen Teile kann man hier im Blog ebenfalls finden.

Anmerkung von Karl Weiss vom 30. September 2006:
Der oben angesprochene Politiker Garotinho ist inzwischen soweit desavouiert, daß er Statthalter auf den Gouverneursposten von Rio de Janeiro schicken muß. Zuerst ließ er seine Frau (Rosinha) zum Gouverneur wählen, jetzt kandidiert ein anderer Strohmann, eingewisser Cabral, für ihn - und steht an erster Stelle der Umfragen für die morgigen Wahlen. Man sieht ihn auf Plakaten hier in Rio de Janeiro zusammen mit dem oben bereits erwähnten Sportminister, der auf den Künstlernamen "Chiquinho da Mangueira" hört. Der kandidiert nämlich als Bundestagsabgeordneter. Damit wird deutlich, daß nicht nur Oligarchen aus Posten der Politik die kriminellen Organisationen schützen, sondern auch die kriminellen Banden direkt in die Politik eindringen.


Hier die Links zu allen Teilen der Reihe „Brasilien jenseits von Fussball und Samba“

- Teil 1: „Wie der Amazonas zu seinem Namen kam“

- Teil 2: ‚Menschenfresser-Country’

- Teil 3: „Ausgerottete Künstler“

- Teil 4: Niemeyer ist 100 – ‚Auf dem Höhepunkt des Schaffens’

- Teil 5: Brasilien und Gold

- Teil 6: Die Landschaften Brasiliens – Der Amazonas-Regenwald

- Teil 7: Brasilien und der Strom

- Teil 8: Die Landschaften Brasiliens – Mata Atlântica

- Teil 9: Santos Dumont und der erste Motorflug

- Teil 10: SIVAM – Big Brother in Amazonien

- Teil 11: Sprit aus nachwachsenden Rohstoffen

- Teil 12: Regenwaldvernichtung und Trockenheit im Amazonasgebiet

- Teil 13: Wie unsere Zukunft in der beginnenden kapitalistischen Barbarei aussähe – „Ich habe kein Leben“

Samstag, 27. September 2008

'Ende der neoliberalen Ära'

Lula schwimmt auf der Woge

Von Karl Weiss

In seiner Rede vor der UN-Vollversammlung in New York dekretierte der brasilianische Präsident ‚Lula‘ da Silva „das Ende der neoliberalen Ära“. Er sagte, nicht nur der normale Bürger müsse sich ethisch und ernsthaft verhalten, auch das Finanzsystem. Für jemand, der selbst ausführlich Neoliberalismus betrieben hat, ist das immerhin bemerkenswert.

Brasilien (topographisch)

Lula sparte auch sonst nicht mit Kritik, sowohl in Richtung der US-Regierung als auch gegenüber der Weltbank, dem Welt-Währungs-Fonds und den G8. „Wenn ein kleines Land in eine Krise kommt,“ so sagte er, “dann sind diese Institutionen immer schnell mit `Ratschlägen` bei der Hand, doch nun, da es die Vereinigten Staaten trifft, hört man von dort gar nichts.“

Er forderte auch – und das ging eindeutig in Richtung der USA: “Die Folgen der ungebremsten Habgier können nicht einfach straflos von allen getragen werden.“

Das „Wall Street Journal“ charakterisierte daraufhin die Politik Lulas als einen „Balanceakt zwischen orthodoxen ökonomischer Maßnahmen und Finanzierung populistischer Sozialprogramme.“

Tatsächlich war Lula bereits in seiner ersten Amtsperiode (2002 – 2006) auf absoluten Tiefpunkten in seiner Popularität angekommen, nachdem fast alle wesentlichen Politiker seiner Partei und seiner Regierung in Korruptionsskandale verwickelt waren und zurücktreten mussten. Zu jener Zeit hatte er auch eine Rentenreform durch die Legislative gebracht, die jene „orthodoxe“ Wirtschaftspolitik widerspiegelte: Erhöhung des Rentenalters, Verringerung der Rente usw. Man hätte ihn beinahe Lula Schröder nennen können. Gleichzeitig wurden die skandalös hohen Pensionen, die z.B. Richter in Brasilien bekommen, nicht angetastet.

Chávez und Lula

Es wurden Telefonlizenzen für das Festnetz wie auch für Handys verkauft, die praktisch das gesamte Telefon-System Brasiliens in die Hände ausländischer Kapitaleigner legte, in diesem Fall von spanischen, italienischen und französischen Firmen.

Noch vor kurzem wurden einige der wichtigsten vierspurigen Bundesstrassen an private Firmen vergeben, die gegen den Unterhalt der Strassen das Recht haben werden, eine Maut zu verlangen, deren Erhöhung jährlich bereits garantiert ist. Darunter waren Strassen wie die „Rodovia Fernão Dias“, die São Paulo mit Belo Horizonte verbindet und die der Staat gerade erst mit einem Aufwand von Milliarden Reais vierspurig ausgebaut hatte. Die meisten der Strassen gingen an einen spanischen Konzern.

Kurz nach der Rentenreform aber begann Lula – gerade noch rechtzeitig vor den Wahlen 2006 – mit dem Programm „bolsa família“ (Familien-Stipendium), das Bedürftigen eine monatliche Zuwendung von umgerechnet etwa 25 Euros pro Person garantiert, wenn die Kinder der Familie die Schule besuchen. Dies ist bis heute bereits auf fast ganz Brasilien ausgeweitet worden und hat sich als erfolgreiche, wenn auch nicht vollständige Bekämpfung des Hungers und der schlimmsten Auswirkungen des Elends erwiesen (und auch als Anreiz, die Kinder in die Schule zu schicken).

Bush und Lula in Brasilien

Gleichzeitig garantierte dies Programm Lulas Wiederwahl und seine hohe Popularität heute. Er hat vor kurzem auch einen Tarifabschluss im öffentlichen Dienst mit besonderer Berücksichtigung des Militärs abgeschlossen, das bereits dieses Jahr deutliche Gehaltserhöhungen garantiert und gleichzeitig jene für die folgenden Jahre festlegt. Er schuf auch Tausende neuer Stellen im öffentlichen Dienst.

Ausserdem hat er jedes Jahr den Mindestlohn (der allerdings nicht überall in Brasilien eingehalten wird) stärker als die Inflation erhöht (im Moment auf umgerechnet etwa 160 Euro im Monat) und zusätzlich noch Jahr für Jahr die Erhöhung um jeweils einen Monat vorverlegt.

Dazu kam ein Wirtschaftsboom in Brasilien, der weiterhin anhält, so als ob die Weltwirtschaft sich nicht auf der Abwärts-Rutschbahn befände. Im letzten Jahr wuchs die Wirtschaft Brasiliens um etwa 5% (nach Abzug der Inflation) und auch dieses Jahr wird diese Marke wohl wieder erreicht werden.



Dieses Wachstum wurde zwar auch und gerade durch gesteigerte Exporteinnahmen initiiert (das Hauptexportprodukt Brasiliens, Eisenerz, unterlag in den letzten Jahren einer Preissteigerung auf das zweieinhalb-fache, das zweitwichtigste, Soja und Soja-Öl auf etwa das doppelte), konnte aber dann in einen vom Inlandskonsum getragenen Aufschwung umgesetzt werden, denn viele neue Arbeitsplätze (offizielle und inoffizielle) öffneten sich, was wiederum mehr Inlandskonsum erzeugte, was weitere neue Arbeitsplätze schuf usw.

In einer Umfrage haben über 60% der Brasilianer erklärt, heute ein besseres Lebensniveau zu haben als 4 Jahre zuvor. Die guten Noten für Lula haben bei Umfragen ein absolutes Rekordniveau erreicht, seit es Umfragen gibt: 77,7% der Befragten, während die ganze Regierung von 68 % als ‚gut‘ oder ‚sehr gut‘ eingeschätzt wird. Nicht einmal kurz nach seiner ersten Wahl, als fast das ganze Land hohe Hoffnungen in ihn setzte, wurden solch hohen Raten der Zustimmung erreicht. Das bekannte Argentinische Zeitung ‚Nación‘ spricht sogar von Lula-Manie

Natürlich hat sich Lula nicht einfach so vom Saulus zum Paulus gewandelt. Er hat vielmehr mit diesen Politikänderungen hauptsächlich auf die in ganz Lateinamerika um sich greifende revolutionäre Gärung reagiert. In Lateinamerika kann man heute nicht mehr einfach weitermachen wie bisher. Entweder man muss sich radikal auf die Seite der US-Regierung stellen und wird dann automatisch zu einem weithin verhassten Politiker wie Uribe in Kolumbien oder man muss eine Öffnung zu „linken“ Positionen betreiben.

Morales und Lula in Santiago

Zum anderen hat Lula Gefallen daran gefunden, als einer der internationalen Führer der Entwicklungsländer angesehen zu werden. Dazu muss er bis zu einem gewissen Grade natürlich deren Interessen vertreten und zumindest in Worten gegen die grossen Industrieländer schiessen

Während in diesem Moment nur noch etwa 14 % der US-Bürger glauben, ihr Land befinde sich auf dem richtigen Kurs, gilt dies in Brasilien für mehr als 60%. Eine in etwa vergleichbare Umfrage in Deutschland ergab 17%.

Das ist der Unterschied zwischen Neoliberalismus und „gemässigt linken Positionen“.

Könnte Lula sich 2010 erneut zur Wiederwahl stellen, wäre sie mit Rekordergebnis gesichert. Aber es gibt in seiner Partei, der PT, keine andere bekannte und beliebte Persönlichkeit – kein Wunder, da fast alle bekannten PTler in Strafprozessen Angeklagte sind. Die mit gewisser Wahrscheinlichkeit als Kandidatin in Frage kommende Ministerin Dilma Roussef erhält im Moment in den Umfragen im günstigsten Fall 12 % der Stimmen. Tritt sie gegen die bekanntesten Kandidaten der Oposition an, sogar noch weniger. Aber das kann sich ändern bis 2010.


Veröffentlicht am 26. September 2008 in der Berliner Umschau

Originalveröffentlichung

Freitag, 26. September 2008

Alles über 65 - ab nach rechts!

Parteien erhalten Bürgeradressen – nach Alter gestaffelt – für unangeforderte Wahlpropaganda

Von Karl Weiss

Hatten wir uns kürzlich noch über die Firmen aufgeregt (hier ), die von allen möglichen Datensammlern Namen, Adressen, Telefonnummern, Kontonummern und Kreditkartendaten von Hunderttausenden oder Millionen Deutschen kaufen können, um damit ihre Propaganda gezielter an Mann und Frau zu bringen – oder aber auch um kriminelle Dinge damit anzustellen, wie Abbuchungen von (oder mit) der Kreditkarte, Abräumen des Kontos usw., so verschlägt es uns nun wirklich den Atem, wenn wir hören, die Parteien dürfen für ihre Wahl-„Werbung“ von den Einwohnermeldeämtern ganz legal alle erforderlichen Daten von Bevölkerungsgruppen abrufen, um dann gezielt bestimmte Teile der Bevölkerung mit Propagandamaterial zuwerfen zu können.

So hat CSU-Ministerpräsident Beckstein sich ganz gezielt an die über 65-jährigen Münchner gewandt und ihnen u.a. folgende Zumutung geschrieben: "Gemeinsam haben wir Bayern zu einem großartigen Land gemacht", obwohl sich fast niemand daran erinnerte, etwas gemeinsam mit Beckstein gemacht zu haben.

Aber das liegt natürlich daran, dass diese alten Knacker kein Gedächtnis mehr haben, nicht wahr?

Eine 83-jährige Münchnerin beschwerte sich bei der CSU über die nicht angeforderte Post und bekam prompt die lapidare Antwort, das sei legal.

Ein SPD-Mitglied erklärte: „Wenn das legal ist, dann ist das ja gerade der Skandal.“

Dies sei, so bekommt man zur Auskunft, nicht nur legal, sondern werde von fast allen Parteien genutzt. Das Recht hätten alle kandidierenden Parteien ab einem halben Jahr vor den Wahlen.

Jetzt wissen Sie also, lieber gläserner Bundesbürger, warum wir uns in Deutschland immer am Wohnort an- und abmelden müssen (in den meisten Ländern der Welt gibt es das nicht). Wo bekämen sonst die Parteien unsere Adressen her?

Man könne sich mit Ausfüllen eines Formular dort ausklinken, wird einem auf Beschwerde hin gesagt, das im Internet heruntergeladen werden könnte. Na, die über 65-Jährigen haben ja alle Internet.

Hat man nicht vergessen, uns dies zu sagen oder uns ein Merkblatt hierüber zu geben, als wir uns das letzte Mal bei einem Einwohnermeldeamt angemeldet haben?

Es sei im Sinne des Gemeinwohls, wenn Parteien unsere Adressen bekämen, wird argumentiert. Ja, deshalb heißt jenes Wohl wohl auch „gemein“.

Nach einer Anzahl von Wahlen, wenn man jeweils eine Altersgruppe abgeschöpft hat, hat damit jede clevere Partei die gesamte Adressenkartei der Bevölkerung, feinsäuberlich nach Altersgruppen – und „Cleverle“ sind sie ja wohl alle, oder?

Wie gut, dass wir wissen, alle Politker sind die reinsten Engel und werden selbstverständlich unsere Adressen niemals verkaufen oder missbrauchen, nicht wahr – sonst müsste man ja fast Übles befürchten.


Veröffentlicht am 26. September 2008 in der Berliner Umschau

Originalveröffentlichung

Montag, 22. September 2008

Dossier (Neo-)Liberalismus: Das Waterloo des (Neo-)Liberalismus

Plötzlich ist Geld zur Genüge vorhanden

Von Karl Weiss

Wenn es noch jemanden gab, der den Glaubenssätzen des (Neo-)Liberalismus Vertrauen entgegenbrachte, der kann dies nun getrost zu den Akten legen. Wenn die Bibel der Neoliberalen nicht sowieso schon widerlegt war, so tut dies spätestens die momentane Situation der weltweiten Finanzkrise und des langsamen Eintauchens in die Welt-Wirtschaftskrise.

Reichstag - Bundestag

Wenn Napoleon bei Waterloo der endgültigen Niederlage ins Auge sehen musste, so sind diese Tage der Milliarden und Billionen Dollar (und Euro) Unterstützungen von Banken und anderen Kreditinstituten mindestens genauso endgültig das Waterloo des (Neo-)Liberalismus. Wer so vollständig alles „vergisst“, was er je gepredigt hat und genau das Gegenteil tut, das, was er bisher als „Sozialismus“ und Bolschewismus“ verteufelt hat, der hat jeden Rest von Glaubwürdigkeit verloren.

Nun bestehen allerdings kaum Aussichten, dass die (neo-)liberalen Politiker und die „Fachleute“, die Volkswirtschaftler und Börsengurus, die Bankiers, Bank-Vorstandvorsitzenden und Herren der Monopole, aufhören werden, ihr (neo-)liberales Einmaleins und ihre unverrückbaren Grundsätze verlauten zu lassen, ganz zu schweigen von unserem Lieblingspolitiker Westerwelle. Nur werden sie jetzt leicht durchschaubar sein.

Fragt man nach bei all diesen bürgerlichen „Fachleuten“, wieso dass, was gerade eben noch eine Todsünde war, nun von allerhöchster Stelle (Notenbanken und Regierungen) munter praktiziert wird, so kommt so manche dümmliche Ausrede, es wird vom Thema abgelenkt oder abgestritten, dass dies überhaupt unter jene Regeln falle – kurz, man weiss nicht mehr ein noch aus und muss frei erfinden.

Bundestag - Reichstag

Natürlich haben sie getönt, der Staat dürfe nie in die Abläufe des Marktes eingreifen, der Markt reguliere sich immer selbst und täte dies immer zum besten der Allgemeinheit. Natürlich ist das Hinauswerfen von Geld des Steuerzahlers für Leute, die sich verzockt haben, nicht mit (neo-)liberalen Grundsätzen vereinbar. Als es um ein halbwegs annehmembares Niveau einer Arbeitslosenhilfe ging, da haben sie gezetert, das käme nicht in Frage, das sei gegen alle Regeln der Marktwirtschaft (sprich Kapitalismus), auch wenn das bedeutete, Hunderttausende in die Armut, Zehntausende von Kindern in die Hoffnungslosigkeit zu stürzen. Nun aber, da es um ausgewachsene Banker und Bankiers geht, da laufen die Tränen des Mitleids in Strömen und das Füllhorn, von dem man gerade noch behauptet hatte, es sei leer, ist plötzlich bestens gefüllt.

Die angeblichen Regeln des Kapitalismus werden plötzlich recht dehnbar, wenn es ums Retten von Banken geht. Und selbst da gibts keine festen Regeln. Während Bear Stearns gerettet wurde, liess man die in jeder Beziehung vergleichbare Lehmann Brothers absaufen – erst später fand sich ein Käufer für den Rest mit Barclays.

Was da inzwischen bereits an Werten verbraten wurde, ist bemerkenswert. Allein die Garantien für die grössten Hypothekenbanken der Welt, Fannie Mae und Freddy Mac, die im Kern auf eine ‚weisse‘ Verstaatlichung hinauslaufen, werden zwischen 500 Milliarden Dollar (auf englisch: 500 Billion dollars) und 4 Billionen Dollar (auf englisch: 4 trillion dollars) geschätzt. Auch Merril Lynch musste mit Staatsgarantien in Milliardenhöhe versehen werden, damit sich mit der Banc of America ein Käufer fand.

Northern Rock Pleite

Die Northern Rock (verstaatlicht) ist schon fast vergessen, und in Deutschland hat man sich mal wieder als besonders absurd erwiesen. Die IKB, die keinerlei Bedeutung am Markt hatte, wurde mit Milliarden Euros gestützt, obwohl nicht der geringste Anlass bestand. Wie zu erwarten, stellte sich inzwischen heraus, die hatten gelogen, das reicht bei weitem nicht aus und nun wird man dem Schwachsinns-Geld noch viele weitere Milliarden Steuerzahlergeld hinterherwerfen.

Chávez und Lula

Wenn Hugo Chávez Öl, Gas und Banken faktisch verstaatlicht, dann ist dies das Böse in Person, wenn die US-Fed Fannie und Freddy faktisch verstaatlicht, dann ist das weise.

Evo Morales

Wenn Evo Morales bolivianisches Gas und Wasser verstaatlicht, dann ist das angeblich „linksextrem“, wenn die deutschen Landesbanken wie die Norddeutsche Landesbank, die Westdeutsche Landesbank, die Sächsische Landesbank, die Bayerische Landesbank, die Kreditgesellschaft für Wiederaubau - KfW und was da noch alles kommt, mit Beträgen gestützt werden, die zusammen in die Hunderte von Milliarden Euro gehen, dann haben die christlichen Politiker (rein zufällig alle unter christlicher Fuchtel) ihrer Christenpflicht Genüge getan.

Otto Wiesheu

Und – wir wissen – das war nur der Beginn. Die grössten Probleme noch im Kommen. Bisher ist noch fast kein Hedge Fond betroffen – und davon gibt es weit mehr als Banken. Auch die Auswirkungen auf die Versicherungen beginnen erst jetzt langsam am Horizont aufzutauchen. Die genaue Höhe der Hilfe für US-Versicherer American International Group, den weltweit grössten Versicherer, wurde nicht bekanntgegeben. Auch eine Sparkasse, Washington Mutual, ist Kandidat. Von den fünf grossen US-Investment-Banken haben bis jetzt nur Goldmann-Sachs und Morgan Stanley überlebt. Promt gehen deren Kurse auf Talfahrt. Auch bereits im Blickpunkt: Die britische Halifax Bank of Scotland.

Sehen wir uns nun die Glaubensätze des (Neo-)Liberalismus im Einzelnen an:



Glaubenssatz Nr. 1: Der Markt richtet alles!


Eigentlich war dieser Glaubenssatz längst widerlegt, spätestens seit jener Zeit Mitte des letzten Jahrhunderts, als Ford und GM das Bahnsystem in Los Angeles kauften und schlossen. Sie brachen damit Bahn (im wahrsten Sinne des Wortes) zu einer Entwicklung von Los Angeles zu einer reinen Straßenstadt (einer der hässlichsten und ungemütlichsten der Welt) und zum heutigen Verkehrschaos in der zweitgrößten Stadt der USA. Wer heute an einem Tag zwei Kunden an zwei Enden in Los Angeles besuchen will, schafft es oft nicht, weil er in stundenlangen Staus steht – und das, obwohl die Stadt so mit Straßen zugepflastert ist (wiederum im wahrsten Sinne des Wortes), dass sie als Stadt nicht mehr erkennbar ist. Man wohnt praktisch auf dem Autobahnkreuz.

Auch die Logik sagt einem schon: In einer Situation,in der die Gemeinschaft ein Interesse hat und der jeweilige Kapital-Herrscher nur das seines Profits, wird es unweigerlich zu Interessen-Konflikten kommen, die im Kapitalismus zugunsten des Kapitals und zuungunsten der Gemeinschaft ausgehen. Das heißt nicht, es könne auch Fälle geben, in denen beide Interessen zusammenlaufen, aber das ist eben selten und wird in der aktuellen Situation noch seltener bis praktisch unmöglich.

Jene Firma, die z.B. ein gut funktionierendes Hybrid-Auto Wasserstoff/Elektro mit Sonnen-Zellen auf dem Dach entwickelt hat, hat sicherlich Profitinteressen - und gleichzeitig hat die Menschheit ein tiefgehendes Interesse, dass diese Firma gedeiht und solche Autos massenweise auf den Markt bringen und vervollkommnen kann.

Was ist aber die Wirklichkeit? Die absolute Monopol-Situation der verbliebenen Automobil-Konzerne verhindert jegliche Möglichkeit, ein anderes Auto als jene des Automobil-Kartells könnte je zum Verkaufsschlager werden. Da die Konzerne aber keinerlei Interesse haben, in neue Technologien ernsthaft einzusteigen, denn es könnten ihre Monopol-Profite gefährdet sein, so radieren sie buchstäblich jede Chance eines Aussenseiters aus.

Gleichzeitig versichern sie ununterbrochen ‚glaubhaft’ seit Jahrzehnten, alle alternativen Konzepte wären noch nicht ausgereift. Da stimmen sie, welch Zufall, dann auch mit den Energie-Konzernen und denen des Öls überein. So kam es zu der Lachplatte, die hier in Brasilien die Runde machte: Ein hoher Vertreter eines der grossen Öl-Konzerne verkündete mit ernster Miene auf einem Symposium, die Verwendung von Alkohol als Benzin-Ersatz sei noch nicht ausgereift – und dies, nachdem die Alkohol-Autos in Brasilien bereits seit den siebziger Jahren fahren! Autos von Volkswagen, GM und Ford!



Wenn die GM jetzt ausschert und wirklich ein Elektro-Auto auf den Markt bringt, zeigt das nur den Grad der Verzweiflung der Manager dort angesichts eines kollabierenden Auto-Marktes.

In Wirklichkeit richtet „der Markt“ eigentlich immer nur eins: Die Profite des Mächtigsten und Rücksichtslosesten – und die regelmässgen Krisen.

Immobilienkrise USA

Denn „der Markt“ kann nicht erkennen, wann eine Überproduktionskrise droht, so eine wie jene, die im Moment weltweit eine Ökonomie nach der anderen packt. Der Kapitalist kann nämlich nicht „logisch“ handeln, denn dann müsste er die Löhne seiner Arbeiter Jahr für Jahr deutlich anheben, zumindest um die Inflation plus Produktivitätssteigerung, um damit genügend Kaufkraft zu erzeugen, damit seine Produkte einer ständig wachsenden Produktion gekauft werden können und müsste auch noch darauf vertrauen, dass die anderen Kapitalisten es genauso machen. Nun, wir wissen, Lohnerhöhungen in dieser Grössenordnung hat es zuletzt in den 70er-Jahren gegeben – und auch damals nur in Ausnahmefällen.

Der Kapitalist muss versuchen – bei Strafe, von den Konkurrenten abgehängt zu werden – seinen Profit pro Kapitaleinsatz (Profitrate) immer mehr zu erhöhen, doch er stösst damit unweigerlich auf die Probleme, die eine wesentlich erhöhte Produktion (die seine Profitrate garantieren soll) mit dem Absatz hat.

In einer chaotischen Marktwirtschaft, genannt Kapitalismus, hängt dieser Absatz davon ab, ob er irgendwie Vorteile gegenüber seinen Konkurrenten erreichen kann, was diese dann wiederum in eine Situation der massiven Nicht-Auslastung bringt.

Da sie aber auch die Produktionskapazitäten ausgeweitet haben, entsteht die Situation der Überproduktion. Die Produkte finden zu grossem Teil keinen Absatz mehr, denn die Löhne der Arbeiter wurden ja nicht, bzw. nicht nennenswert erhöht (Real-Netto-Löhne), so dass Kaufkraft fehlt. Die Wirtschaftskrise beginnt. Sie wird zum Schliessen von Firmen führen, zu Massenentlassungen, Neueinstellungen werden praktisch nicht mehr getätigt, die Löhne noch weiter versucht zu senken. Erst wenn genügend Kapital vernichtet ist, kann sich das jeweilige Land wieder langsam aus der Krise herausarbeiten und auf niedrigerem Niveau neu beginnen.

So ist das Bild geschlossener Fabriken – ganzer Komplexe von leeren Werkshallen, durch die der Wind pfeift, überall im Kapitalismus häufig und gibt Zeugnis über die unglaubliche Verschwendung von Resourcen, die mit der Chaos-Gesellschaft Kapitalismus einhergeht.

Dies ist der Ausdruck der Anarchie, die durch die Konkurrenzwirtschaft bedingt ist. Die Chefs der grossen Konzerne können sich ja nicht zusammensetzen und eine Aufteilung des Marktes beraten, die allen Luft zum Atmen lässt und allen gute Gewinne garantiert, denn damit würden ja die Regeln des Kapitalismus verletzt. Wenn sie dies wirklich einmal tun, so bilden sie vielmehr Kartelle, was die anderen Konkurrenten oft detoniert.

Karl Marx

Erst im Sozialismus wird die Gesellschaft statt der Anarchie die sinnvoll geplante Produktion einführen, in der genau das und genau so viel hergestellt wird, was und wie man bracht. Dann kann man die Umwelt schützen, ohne durch die Konkurrenz gezwungen zu sein, Umweltregeln zu verletzen, dann kann man die Energiegewinnung so gestalten, wie es am sinnvollsten ist statt so, wie bestimmte Konzerne am meisten Profit haben. Dann kann man sich überlegen, wie man sinnvoll den Transport von Menschen und Gütern im Kurzbereich, im mittleren Bereich, im Fernbereich sowie im Interkontinentalbereich organisiert und dann entsprechend danach handeln.


Glaubenssatz Nr.2: Öffentliche und Staatliche Unternehmen müssen immer privatisiert werden, nur dann sind sie „effektiv“

Auch dies längst widerlegt. Was privatisierte Unternehmen an „Effektivität“ gewinnen, ist ein Profit für die Neu-Aktionäre – und auch das ist nicht sicher, siehe der Fall Telekom. Dass die Dienste der Firma für die Gemeinschaft effektiver werden, ist dagegen durch nichts garantiert, oft geschieht sogar genau das Gegenteil.

Man sehe sich nur an, was die Privatisierung der Bahn in England für Verschlechterungen gebracht hat. Selbst die „Süddeutsche“, sonst fast immer „His Masters Voice“, schreibt in einem Kommentar am 29.4.08: „...gab es, zumal in Frankreich und Großbritannien, Privatisierungskatastrophen: das Waterleau von Grenoble oder die Auflösung der British Rail. (...) Deutschland ist von solchen ganz großen Desastern verschont geblieben.“

Bis jetzt wurde die Bahn ja auch noch nicht privatisiert.

Argentina - Trainmaps

Die Privatisierung der Bahn in Argentinien kann man direkt an diesem Schaubild beurteilen: Fast alle Linien wurden eingestellt.

Speziell im Fall von Unternehmen, die einen unersetzlichen Dienst an der Gemeinschaft leisten, ist die Privatisierung fast immer zu einem Desaster für diese Dienste geworden. Das gilt besonders für Dienstleistungen wie Öffentlicher Transport (Bahn, Nahverkehr), Krankenhäuser, Kindergärten, -krippen und Horte, Sozialwohnungen, Schwimmbäder, Wasserwerke, Elektrizitätswerke, Schulen, Universitäten, Post-Dienste, Telefon-Dienste usw.

Die Erfahrungen sind fast durchweg schlecht. So hatte man das System der Elektrizität in Deutschland privatisiert und grossmäulig versprochen, nun werden die notwendigen Investitionen gemacht und durch die Vielzahl der privatisierten Firmen würde ein funktionierender Wettbewerb (Markt) entstehen, der die Strompreise drücken würde.

Das Ergebnis kann man nun besichtigen, nur eine Anzahl von Jahren nach den Privatisierungen. Die Strompreise sind immens angestiegen, von Konkurrenz kann keine Rede sein, denn im Kapitalismus gibt es generell die Tendenz zur Konzentration: Es sind praktisch nur drei grosse und ein paar mehr oder weniger bedeutende Stromunternehmen übriggeblieben. Auch ein massives Investieren in neue, alternative und umweltfreundliche Techniken hat nicht stattgefunden. Statt dessen versucht man, die längst abgeschriebenen Atomkraftwerke, die jetzt reine Goldgruben sind, weiterlaufen zu lassen, obwohl man schon lange nichts mehr dort investiert hat und sie längst Schrott sind.

Atomkraftwerke Deutschland

Gut für die Profite, schlecht für unsere Sicherheit.

Ausserdem werden massiv Kohlekraftwerke gebaut und die Braunkohlewirtschaft ausgebaut anstatt eingeschränkt.

Kraftwerk

Gur für die Profite, schlecht für die Umwelt und das Klima.

Energieverbrauch Deutscland

Dies Schaubild des Bundesministeriums für Wirtschaft zeigt: Es ist überhaupt keine Einschränkung des Verbrennens fossiler Energiequellen vorgesehen. Die alternativen Energien sollen bis 2030 Alibi bleiben.

In Deutschland würde sich das massive Investieren in die Gewinnung von Biogas aus Pflanzen, aus tierischen und pflanzlichen Abfallstoffen sowie Abfall-Holz und das Verbrennen dieses Biogases in Wohnnähe mit Elektrizitäts–Wärme-Verbund anbieten, weil damit die deutsche Landschaftsstruktur am besten ausgenutzt wird, die fast ausschliesslich aus bebauten bzw. versiegelten Flächen und landwirtschaftlich nutzbaren Flächen (inklusive zur Holzgewinnung genutzter Flächen) besteht.

Vor allem würde dadurch der mit Milliardensummen subventionierten Landwirtschaft ein neues und sinnvolles Betätigungsfeld eröffnet, ohne dass sie am Tropf der Subventionen hangen bleiben würde. Gleichzeitig würde die massive Abhängigkeit Deutschlands von importierten Energieträgern verringert und es würden dafür Milliardenbeträge eingespart ebenso wie jene, die heute für das EU-Landwirtschafts-Desaster ausgegeben werden. Man sehe sich das Beispiel des Bio-Energie-Dorfes Jühnde in Niedersachsen an (siehe hier ). Mit den eingesparten Milliarden der Subventionen könnte ein wesentlicher Teil des Programms finanziert werden. Eine win-win-win-Situation für den Staat, die Bürger und die Unternehmen. Doch nichts davon geschieht.

Stattdessen investieren e-on, Vattenfall und RWE in neue riesige CO2-Schleudern wie Kohlekraftwerke und intensivieren den Abbau von Braunkohle, der schmutzigsten Energie der Welt.

Auch die angebliche Notwendigkeit von Privatisierungen, um die Haushalte der jeweiligen Staaten (oder Länder oder Städte) auszugleichen, erweist sich als ein Schuss, der nach hinten losgeht. Die an die jeweiligen Staatshaushalte gehenden Verkaufserlöse stellen fast immer nicht einmal einen Bruchteil des Werts der Unternehmen dar, die da privatisiert werden, während der Abgang an Staatsvermögen dann weit höher ist und auf die Dauer auch praktisch zählen wird, denn die Kreditwürdigkeit eines Staates (oder eines Bundeslandes oder einer Gemeinde) hängt natürlich eng mit seiner Vermögenssituation zusammen und damit auch die Zinssätze, die man auf dem Markt zahlen muss.

Ein besonders beeindruckendes Beispiel hierfür war die Privatisierung des zweitgrößten Welt-Unternehmens im Bergbau, der Compania Vale do Rio Doce, einem brasilianischen Staatsunternehmen, des Ende der Neunziger-Jahre privatisiert wurde. Ungefähr ein Jahr vor der Privatisiereng fiel dies traditionell extrem gewinnträchtige Unternehmen (im wahrsten Sinne des Wortes eine Goldgrube, denn man besitzt einige der grössten Goldminen der Welt) plötzlich in rote Zahlen. Was da genau manipuliert wurde, kam nie ans Licht der Öffentlichkeit.

Der Preis, der für die ganze Firma erzielt wurde, entspricht etwa dem Wert von zwei heutigen Monatsgewinnen der Firma, war also absurd niedrig. Laut Angaben des brasilianischen Gewerkschaftsdachverbandes CUT wurde bei der Festsetzung des Mindestpreises, zu dem dann auch verkauft wurde, nur ein Bruchteil der Liegenschaften, des Vermögens und der Schürflizenzen überhaupt gezählt. Die Gewerkschaft hat daher die Forderung nach der Rückgängigmachung des Verkaufs aufgestellt, weil nachweisbar geschwindelt wurde.

Bereits ein Jahr nach der Privatisierung hatte die Vale, wie sie jetzt heißt, ihre alte Profitabilität wieder erreicht und ist heute der lateinamerikanische Konzern mit dem höchsten Profit.

Das Ganze stank kilometerweit nach Korruption. Der damalige brasilianische Präsident Cardoso von der konservativen PSDB hatte sich persönlich besonders intensiv für diese Privatisierung eingesetzt. Ob er persönlich Bestechungsgelder erhalten hatte, war nie durch eine unabhängige Untersuchung geklärt worden. Tatsache ist, er lebt seit seiner Abwahl im wesentlichen in den Vereinigten Staaten - um keinen Zweifel zu lassen, für welchen Imperialisten er Brasilien geführt hatte - und diniert nach Aussagen
seines politischen Verbündeten Lembo abends in einem New Yorker Restaurant, in dem ein Gläschen Cognac umgerechnet 300 Euro kostet.

Dieser Fall weist darauf hin: Privatisierungen und Korruption sind Zwillinge.

Auch in Deutschland haben wir ausführlich Erfahrungen mit der unmittelbaren Verbindung von Privatisierung und Korruption. Da war nicht nur die Kölner Müllverbrennung, da war speziell auch der Fall Baganz, über den hier berichtet wurde:

„Bürgermeister Baganz von Mülheim legte sich nämlich eine Geliebte zu, eine gewisse Ute Jasper, Rechtsanwältin ihres Zeichens und lebte dann auch mit ihr zusammen. Genau dieser Frau gab er einen millionenschweren (1,4 Mio. Euro) Beratervertrag mit der Stadt Mülheim, als Bürgermeister!

Sie war als ‚Beraterin’ dafür verantwortlich, daß beim Verkauf der städtischen Werte die RWE und nicht die Gelsenwasser die Wasserwerke bekommen hat, obwohl jene 80 Millionen mehr geboten hatte. Ähnlich verhielt es sich beim Verkauf der Mülheimer Entsorgungsbetriebs-Anteile. Den Zuschlag bekam - ohne Ausschreibung - die vor allem in Köln inzwischen gerichtsnotorische Trienekens.

Es wurde nie eindeutig bewiesen, ob und wieviel die Rechtanwältin und/oder ihr ‚Lover’ für diese Liebesdienste von RWE und Trienekens erhielten, aber der gesunde Menschenverstand ...“

Ein anderer besonders Aufsehen erregender Fall einer Privatisierung war die Privatisierung der Wasserwerke von La Paz in Bolivien. Der französische Suez–Konzern hatte sich diese unter den Nagel gerissen und sofort die Wasserpreise immens erhöht. Die arme Bevölkerung konnte die Wasserrechnungen nicht mehr bezahlen und hätte verdursten müssen. Suez blieb davon völlig ungerührt. Als die Bevölkerung begann, Regenwasser in Zisternen aufzufangen, um nicht zu verdursten, stellte Suez auch Rechnungen für das Regenwasser aus.

Nur durch einen praktischen Volksaufstand konnte diese Privatisierung rückgängig gemacht werden, was in unmitelbarem Zusammenhang mit den angesetzten Neuwahlen stand, aus denen der jetzige Präsident Evo Morales als Sieger hervorging.

Also? Privatisierung? Offenbar wird nichts gehalten, was man davon versprochen hat. Dagegen sind die negativen Auswirkungen für die Bevölkerung Legion.

Es gibt auch die positiven Gegenbeispiele von Firmen, die nicht privatisiert wurden und ein wichtiges Mittel sozialer Politik in den Händen der Regierung geblieben sind. Typische dafür ist die staatliche frühere Monopolgruppe Petrobras in Brasilien.

Logo Petrobras

Man löste zwar das Monopol auf und erlaubte anderen Ölkonzernen, in Brasilien tätig zu werden, man gab zwar Aktien aus für etwas weniger als die Hälfte des Kapitals der Gruppe, aber das Sagen behielt der Staat in der Petrobras (das brasilianische Aktienrecht gibt Minderheitsaktionären keine weitgehenden Rechte).

Erdöl 1

Das hat sich angesichts des steigenden Erdölpreises als segensreich erwiesen. Während in fast allen anderen Ländern die Erdölpreise auf die Benzinpreise durchschlugen und nur durch drastische Statistik-Manipulationen verhindert werden konnte, dass die Inflation in zweistellige Raten hineinwuchs, ist in Brasilien der Benzinpreis (so wie die an ihn gekoppelten Preise für Alkohol und - mit Eimschränkungen - Diesel) seit September 2005 an der Raffinerie gleichgeblieben, zu einem Zeitpunkt, als der Preis für Rohöl bei 60 Dollar pro Barrel lag. An biligeren Tankstellen in der Nähe von Raffinerien ergaben sich daraus Endverbraucherpreise für den Liter Benzin (Gasolina) von zwischen 2,20 und 2,30 Reais (etwa 83 bis 87 Euro-Cent) – die ganze Zeit bis heute, unverändert seit 2005.

Treibstoffpreise Brasilien
Benzinpreis (gasolina) in Brasilien Juli 2007

Treibstoffpreise Brasilien Juli 08
Benzinpreis Brasilien Juli 2008

Das wurde schlicht von der Regierung Lula beschlossen und die Petrobras hatte danach zu handeln. So konnte die ganze Zeit die Inflation in Brasilien am deutlichen Steigen gehindert werden und dies wirklich und nicht durch Statistik-Manipulationen. Auch in diesem Moment, in dem in vielen Ländern die Inflationsraten in die Höhe schiessen und nur noch durch dreistete Fälschungen in niedrigen Zahlen gehalten werden können, bleibt die Inflation in Brasilien unter 5%.

Natürlich musste die Petrobras dafür auf Profit verzichten, aber das war leicht zu verkraften, denn sie ist als ständig wachsender Rohölförderer zu einem der profitstärksten Unternehmen in ganz Lateinamerika geworden (im Moment an zweiter Stelle in Lateinamerika nach der schon erwähnten Vale). Näheres dazu in diesem Artikel: „Brasilien – die Insel der Glückseligen?“.



3. Glaubenssatz: Der Staat muss sich vollständig aus den Märkten heraushalten, sie regeln sich selbst

Nach diesem Glaubenssatz wird jede Überwachung oder gar Regulierung, ganz zu schweigen von einem direkten Eingreifen des Staates oder öffentlicher Stellen auf den Markt oder irgendeine auf dem Markt gehandelte Ware oder die Fabriken der Kapitalisten oder über die „freien Entscheidungen der freien Agenten des Marktes“, ganz zu schweigen von den Finanz-Dienstleistern abgelehnt, ja meistens sogar als „bolschwewistisch“ oder schlimmer gebrandmarkt.

Nun geschah aber etwas sehr „bolschewistisches“ in Berlin: Die Bankgesellschaft Berlin hatte spekuliert und war in Schieflage geraten. Die CDU Berlin war intensiv verwickelt, auch einige SPD-Politiker. Nun liess man aber die Bank nicht Pleite gehen und die Zocker die Folgen tragen, nein, der Berliner Steuerzahler wurde herangezogen, um die Fehlbeträge auszugleichen, die in die Milliarden Euro (mindestens 9,8 Milliarden Euro nach einer Zeitungsmeldung) gingen und um den armen Zockern unter die Arme zu greifen.

Das war ein direktes Eingreifen des Staates in das Geschehen des freien Marktes. Es war der Beweis, im Grunde ist der liberale Glaubenssatz nicht wirklich ernst gemeint. Man will eigentlich nur, dass der Staat nicht die Sauereien aufdeckt, die man macht und einfach alles als gottgegeben hinnimmt, was „die Wirtschaft“ (sprich: das Kapital) entscheidet.

In Wirklichkeit legt man sehr viel Wert auf das Eingreifen des Staates, wenn es gegen die Arbeiter und kleinen Leute geht und wenn dadurch die Kapitalrendite garantiert wird. Dann ist plötzlich der Staat sehr wichtig als Regulierer und ganz speziell natürlich als Steuereintreiber beim kleinen Mann, um das Geld in den Vorstandsetagen und Banken abzuliefern.

Housing Slump

Hatte man den Fall der Bankgesellschaft Berlin noch unter Ausnahmen von der Regel ablegen wollen, es war ja wirklich nur ein Fall in Jahren, so sind wir nun, am Beginn der internationalen Wirtschaftskrise und mit der Finanzkrise, die vor allem durch unseriöse Kreditvergabe auf der Basis von weit überhöhten Wertschätzungen von Immobilien, vor allem in den USA, ausgelöst wurde, in einen praktisch wöchentlichen Rhythmus von Eingreifen verschiedener Staaten in die Bankenwelt eingetreten, was den Glaubenssatz nun wirklich in der Luft zerrissen hat.

USA: Foreclosure Zwangsversteigerung

Deutschland war einer der ersten Staaten, der in diesem Fall eine Privatbank mit Namen IKB aus der Bredouille half mit Milliarden von Steuergeldern.

Und die Landesbanken, das war gleich die nächste Reihe von Fällen, in denen man Milliardenbeträge zur Unterstützung aus Steuergeldern plötzlich zur Verfügung hatte. Nun war plötzlich Geld da!

Das zauberten die gleichen Politiker aus dem Nichts, die uns immer und immer wieder mit einem Kuhblick in den Augen versichern, es sei kein Geld da, man könne wirklich beim besten Willen nicht einen Heller auftreiben für eine menschenwürdige Arbeitslosenunterstützung, für die benötigten Kinderkrippen, Kindergärten und Horte, für den öffentlichen Personennahverkehr, für ein Sozialticket auf diesem, für das Offenhalten von Schwimmbädern, für die Finanzausstattung von Universitäten, damit keine Studiengebühren gefordert werden, für die Einstellung von Lehrern, um die hohen Stundenausfälle auszugleichen und die Klassengrössen zu verkleinern, nein, für all dies, so hörten wir wieder und wieder, war kein Geld da. Es war kein böser Wille, wirklich nicht, nur man kann einem nackten Mann eben nicht in die Tasche greifen.

Doch nun, aus Quellen, die man uns vorsichtshalber vorenthält, sind Milliarden und Abermilliarden da, für die Landesbanken, für die KfW und was da noch alles kommt.

Aber da ist nicht nur in Deutschland plötzlich ausreichend Geld für so manches Geldinstitut da, auch in den USA wird mit 200 Milliarden Dollar aus Steuergeldern die Investmentbank Bear Stearns zum Verkauf fit gemacht. In Grossbritannien wird Northern Rock schlicht und einfach vom Staat übernommen und die gesamten Verluste aus dem Staatssäckel bezahlt.

Doch was nun in den Vereinigten Staaten der Krise endgültig den Garaus machen soll und sofort auf begeisterte Zustimmung der Anleger gestossen ist, geht noch weit darüber hinaus. Es soll eine Auffanggesellschaft gegründet werden, die den Banken, den Hedge Fonds, den Versicherern, schlicht jedem Finanzdienstleister, zu festgelegten Kursen alle faulen Papiere abnimmt, obwohl diese nicht einmal mehr das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben sind.

Das ist der absolute Freibrief. Jeder kann so viel gezockt haben wie er will, kann soviel verloren haben wie er will, die Lasten werden alle dem Steuerzahler auferlegt, während die Zocker und Verlierer heil davon kommen und sogar noch belohnt werden. Doch dies gilt nur für Finanzdienstleister. Für alle anderen bleiben die Regeln die vorherigen. Wer eine Firma hat und zahlungsunfähig wird, geht weiterhin den Bach hinunter wie ehedem. Warum sind nun alle Banken und sonstigen Finanzdienstleister von jeglichem Risiko in ihren Geschäften befreit? Warum lässt man Banken und Versicherungen wie auch Hedge Fonds nicht einfach Pleite gehen? Es könnten ja danach neue gegründet werden von jenen, die Kapital dafür haben.

Nun, die Antwort ist klar: Weil sie die Herrscher sind! Sie, das sind die grossen Banken und Versicherer, die Produktionsmonopole in ihrer Gesamtheit. Sie sind die Sonnenkönige, die absolutistischen Alleinherrscher. Die gesamte Gesellschaft ist nur dazu da, ihnen zu diesen. Sie sagen den Regierungen, was zu tun ist. Und jetzt ist Zahltag.

Ob sie mit der Rettung jedes einzelnen Finanzdienstleisters allerdings ihr System, den Kapitalismus, retten können, bleibt dahingestellt. Was allein der US-Steuerzahler dafür wird aufbringen müssen, wurde vorsichtig mit 800 Milliarden Dollar (auf englisch: 800 Billion dollars) veranschlagt, aber manche warnen schon, es könne bis zu 9 Billionen Dollar (auf englisch: 9 Trillion dollars) ausmachen. Das wäre das Ende des Dollars und damit das der USA als Supermacht.

Auch andere Länder mit grossen Brutto-Inlands-Produkten, wie Grossbrittanien , Frankreich und die Bundesrepublik wurden schon aufgefordert, eine ähnliche Auffanggesellschaft zu gründen.

Es ist Geld da!

Man sollte sich nun langsam daran gewöhnen, keinem Politker mehr zu glauben, der behauptet, es sei kein Geld da. Das Gegenteil ist bewiesen.

Von unseren Medien der Hofberichterstattung zu erwarten, dass sie bei ihren Freunden, den Politikern, doch bitte mal nachfragen, wo sie das Geld denn die ganze Zeit versteckt hatten, ist natürlich zuviel verlangt. Majestätsbeleidigung ist strafbar! Sie Wicht!

Der (Neo-)Liberalismus hat nun wirklich die Hosen herunter gelassen und jeder kann jetzt sehen, was an den Argumenten dran war: Sie waren nichts als der Versuch, die nackte unmenschliche kapitalistische Wirklichkeit hinter Scheinargumenten zu verstecken.


Teile dieses Dossiers waren schon in einem Artikel am 6.Mai 2008 veröffentlicht worden, aber hier wird nun der gesamte Überblick über das endgültige Ende des (Neo-)Liberalismus in Form eines Dossiers gegeben.

Veröffentlicht am 22. September 2008 in der Berliner Umschau

Originalveröffentlichung

Sonntag, 21. September 2008

Gouverneur Lembo erleichtert sein Herz

"Die brasilianische Bourgeoisie ist eine zynische, perverse, heuchlerische weiße Minderheit..."

Von Karl Weiss

Eigentlich war für den heutigen Sonntag der letzte Teil der Serie "Brasilien jenseits von Fussball und Samba" von Elmar Getto vorgesehen, aber er hat mich gebeten, ihn auf nächsten Sonntag zu verschieben. Stattdessen sei hier ein älterer Artikel über Brasilien eingestellt, der in mehrerer Hinsicht entlarvend ist und sehr charakteristisch für das heutige Brasilien, in dem die Oligarchie bereits Stillhalteabkommen mit den kriminellen Mafia-Organisationen abschliesst. Er war am 29. Mai 2006 in der Berliner umschau erschienen (damals noch "rbi-aktuell") und ist hier leicht aktualisiert und redigiert, Dies gleiche Thema wird dann auch in jenem Artikel am nächsten Sonntag vorkommen und eine Anmerkung von Elmar sich auf diesen Artikel beziehen.

Kaum je erlebt man einmal, daß einer der führenden Politiker in einem der Regime der großen Länder seiner Wut freien Lauf läßt und sein Herz ausschüttet. Jeder weiß, daß damit seine Karriere beendet wäre und kommt deshalb auch nur auf solche Posten, wenn er bereits bewiesen hat, daß er sich immer (fast vollständig) im Griff hat.

Doch aufgrund der speziellen Umstände in Brasilien hat der Gouverneur (Ministerpräsident) des Bundesstaates São Paulo, Lembo, genau dies getan. Er war der Verantwortliche, als die Mafia-Terrororganisation PCC beschloß, ihre Macht zu zeigen, weil sie den Bruch eines Abkommens mit der Staatsregierung zu beklagen hatte. Ihre Attacken und die Reaktion des Staates darauf wurden bereits berichtet (siehe "Doppelherrschaft in Brasilien").

Die spezielle Situation des Gouverneurs Lembo beruht auf dem präsidialistischen System (im Gegensatz zum parlamentaristischen System), das in Brasilien (so wie in den USA) herrscht. So wie der Präsident und das Parlament auf Bundesebene, werden auch auf der Ebene der Bundesländer der Gouverneur und das Parlament getrennt voneinander direkt vom Volk gewählt. Deshalb treten die Kandidaten für die Präsidentschaft und für den Gouverneur jeweils mit einem Vize-Kandidaten an. Der Vize übt kein Ministeramt oder etwas ähnliches aus, sondern vertritt nur den Präsidenten (Gouverneur) bei seiner Abwesenheit. Das ist also ein Drückerposten, in das man üblicherweise ältere, ‚verdiente’ Politiker (die keinen mehr vom Hocker reißen) jener Partei steckt, die Anspruch auf den Posten hat (so ähnlich wie in Deutschland der Bundespräsident).

So kam auch Vize-Gouverneur Lembo zu diesem Posten. Er ist ein altgedienter Haudegen der politischen Rechten in Brasilien, war zu Zeiten der Militärdiktatur Parteichef der ‚Arena’ in São Paulo, des politischen Flügels der Militärdiktatoren und einziger zugelassener Partei. Später, als die Militärdiktatur abgelöst wurde, ging er zeitweise zur liberalen Opposition, gründete dann zusammen mit anderen die PFL (Partei der liberalen Front), eine der beiden Nachfolgeparteien der ‚Arena’. Heute ist er bereits über Siebzig. So wurde er denn von seiner Partei ausgewählt, Vize des Kandidaten Alckmin zu sein, der mit einer Koalition zwischen dessen Partei PSDB (eine konservative Partei, die sich lustigerweise sozialdemokratisch nennt) mit der PFL antrat.

Nun ergab sich aber, daß Alckmin zum Kandidaten der PSDB gegen Lula bei den Präsidentschaftswahlen im Spätjahr bestimmt wurde [der Artikel wurde vor den letzten Präsidentschaftswahlen in Brasilien geschrieben] und deshalb den Gouverneursposten abgeben mußte, denn wer hier zum Präsidenten kandidiert, muss 8 Monate vor den Wahlen von seinen öffentlichen Ämtern zurücktreten. So kam Lembo zum Amt eines Gouverneurs wie die berühmte Jungfrau zum Kind. Nur: Er wird diesen Posten nur 8 Monate bekleiden und seine Karriere ist sowieso bereits am Ende.

Unter dieser Bedingung wollten offenbar die PSDB-Politiker ein Experiment durchführen, daß sie unter der Herrschaft eines der eigenen nicht gewagt hätten: Sie ließen - wahrscheinlich über den Sicherheits-Minister, der ja nicht ausgetauscht worden war - die Zusicherungen, die man an die PCC gegeben hatte, zur Seite und ließen deren gefangene Mitglieder, einschliesslich des Führers, in ein entfernt gelegenes Hochsicherheitsgefängnis verlegen. Man vermutete wohl schon, daß die Antwort des PCC gewaltig und gewalttätig sein würde. Ein ausgedienter Politiker der PFL konnte das dann nötige neue Abkommen auf seine Kappe nehmen. Man selbst geht einfach auf Tauchstation.

Das waren offenbar die Umstände, die Lembo dazu veranlaßten, sein Herz zu erleichtern. In der Krisensituation verschwanden nämlich alle seine Allierten von der Bildfläche. Niemand wollte mit den schweren Problemen identifiziert werden, die dieser Gouverneur nun hatte und die er offenbar nur durch einen „Deal" mit der Verbrecherbande lösen konnte, was er offenbar auch tat.

Niemand verteidigte ihn, niemand wollte mit dieser Ungeheuerlichkeit Verbindung haben, daß in Brasilien die Oligarchie ihre Herrschaft bereits mit dem organisierten Verbrechen teilt und mit ihm teilweise auch gemeinsame Sache macht, oder auch nur seinen Namen hiermit in Verbindung gebracht sehen.

Der Kandidat der Rechten gegen Lula, Alckmin, versteckte sich unerreichbar und ließ nur kurz über Telefon verlauten, er habe kein Abkommen mit der PCC gehabt, was offensichtlich nicht stimmt. Der bei weitem aussichtsreichste Kandidat für den Posten des Gouverneurs von São Paulo, Serra (der also wahrscheinlich das Abkommen erben wird), ebenfalls von der PSDB, unterlegenenr Kandidat gegen Lula bei den letzten Präsidentschaftswahlen, verschwand. Niemand wußte, wo er sich aufhält, wahrscheinlich in den USA. Der frühere Präsident Brasiliens, Cardoso, ebenfalls von der PSDB, war in New York und kritisierte von dort aus das Abkommen, das Lembo offenbar geschlossen hatte. Die Führer von Lembos eigenen Partei, der PFL, sonst immer die ersten vor einer Fernseh-Kamera, tauchten ebenfalls unter.

In einem Interview ironisierte Lembo diese politischen Größen und hob hervor, daß sie selbst telefonischen Kontakt mit ihm weitmöglichst vermieden: „Alckmin hielt es für nötig, genau zweimal kurz anzurufen, naja, die Telephoneinheiten sind ja so teuer. Serra hat Amnesie und Fernando Henrique [Cardoso] sitzt in New York und diniert in feinen Restaurants, in denen ein Gläschen Cognac 900 Reais kostet (etwa 300 Euro)". Seine eigenen Parteiführer von der PFL, so sagt er sarkastisch, denken nach und werden sicherlich anrufen bei ihm, in etwa 500 Jahren!

Doch er blieb nicht dabei stehen. Er attakierte die brasilianische Oligarchie, die sich selbst gerne die „Elite" nennen läßt, aber auch die ‚brasilianische Bourgeoisie’ genannt wird. Er nennt sich selbst einen ‚Pequeno Burgues’ (Kleinbürger) und findet starke Worte gegen die Oligarchie: Sie sei böse, sie sei eine zynische und perverse weiße Minderheit, die ihre Bediensteten schlecht behandelt und sei außerdem heuchlerisch und sterbe fast vor Geiz. Sie sei nicht bereit, die Rechnung zu bezahlen für das Elend, das sie sich so angestrengt habe zu erzeugen.

Dann langt er noch einmal hin: „Im ökonomischen, politischen, Finanz-Bereich gibt es große Räuber, die niemals... Ich sehe Leute, die ihre pompösen Villen zur Schau stellen, obwohl sie große Betrügereinen gemacht haben und andere sind im Gefängnis, nicht wahr?"

Das Interview wird von einem bekannten brasilianischen Journalisten geführt, Bob Fernandes, der sich auch längst an die Oligarchie verkauft hat, nun aber Schadenfreude empfindet, daß er Lembo Stichworte geben kann, die der auch gerne aufgreift. Man höre sich nur diesen Teil des Interviews an:

„Welches Verhältnis sehen Sie zwischen dem Leben im Gefängnis und dem derer, die Sie die Bourgeoisie genannt haben? Wie groß ist der Abstand dieser Welten?"

„So groß ist der Abstand nicht! Vielleicht hat die eine Welt nur gute Rechtsanwälte und die andere schlechte?"

Oder diesen:

„Herr Gouverneur, Sie haben in jenem Interview (mit der „Folha de São Paulo", der grössten Tageszeitung Brasiliens) Ihr Herz ausgeschüttet ... war das Ihr 18. Brumaire?"

Das zu sagen wäre gefährlich, denn beim ersten Mal ist es heldenhaft, beim zweiten ein Irrtum. Das war Karl Marx selbst, der dies gesagt hat, darum würde ich das so nicht sagen."

Diese Stelle des Interviews belegt, daß beide, zwei hervorstechende Figuren der Rechten in Brasilien, Karl Marx gelesen haben. Der 18. Brumaire bezieht sich auf die Schrift von Karl Marx „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte". Dort beschreibt Marx einen versuchten Staatsstreich in Frankreich gegen den reaktionären Herrscher Louis Bonaparte in den 60er Jahren des neunzehnten Jahrhunderts. Eine Reihe dessen scheinbar besten Freunde versuchten, ihm seinen Thron zu rauben und er beklagt sich denn auch lautstark darüber, verspottet von Karl Marx.

Die Antwort des Gouverneurs bezieht sich auf die Aussage von Karl Marx, daß sich die Geschichte nicht wiederholt - und wenn sie es tut, dann beim ersten Mal als Ereignis, beim zweiten Mal als Farce.

So dreht sich denn die Anklage des Zynismus gegen die Bourgeoisie gegen die beiden Marx-Kenner, den etablierten Journalisten und den Gouverneur eines Staates mit 40 Millionen Einwohnern. Der Journalist stichelt: „Dann sind Sie also jetzt links von [der trotzkistischen] Senatorin Heloísa Helena?" „Nein, sie hat einige sehr farbige Hemden [bezieht sich auf die rote Farbe], während ich bei den dunklen bleibe [bezieht sich auf das Schwarz des Konservatismus].

Nun, hier hat einer der intimsten Kenner der brasilianischen Oligarchie gesprochen und wir dürfen ihm glauben. Es wurde deutlich, daß er dabei noch voll die Staatsräson bewährt hat. Wo er Namen nannte, hat er nur leicht ironisiert, wo er schwerere Geschütze auffuhr, blieb alles anonym. Aber alles, was er z.T. nur andeutete, können wir gestrost als Wahrheit ansehen, auch wenn er nur einen kleinen Zipfel des großen Teppichs angehoben hat, unter den ansonsten alles gekehrt wird.

Freitag, 19. September 2008

Gross-Konzern = kriminelle Vereinigung?

Die kapitalistische Barbarei

Von Karl Weiss

Die Begriffe “Gross-Konzern” und “kriminelle Machenschaften“ werden mehr und mehr identisch. Die eigentlichen Mafia-Organisationen werden längst von solchen in Anzug und Krawatte übertroffen. An diesem Sonntag wurden zufällig gleichzeitig zwei dieser Gentleman-Verbrecherorganisationen an die Öffentlichkeit gebracht: Siemens (das größte deutsche Unternehmen) und Pirelli/Telecom Italia, während zwei Tage vorher veröffentlicht wurde, dass Lidl eine Millionenstrafe wegen des Ausspionierens der Mitarbeiter zu erwarten hat.

München

Siemens, so steht an diesem Tag in der Zeitung, hat seit den Fünfziger Jahren systematisch bestochen und dafür illegale schwarze Kassen angelegt

Wie die brasilianische Zeitung „Estado de Minas“ am 13.9.08, informiert, haben zwei italienische multinationale Konzerne, die Pirelli und die Telecom Italia, mit Millionenaufwand Telefone und E-mails abgehört bzw. ausspioniert, in Brasilien, daneben auch in Frankreich und in Uruguay. Es ging um den millionenschweren Markt der Telekommunikation, also von Festnetztelefonen und vor allem von Handys.

Die brasilianischen Gruppen der Telekommunikation wurden in den 90er-Jahren privatisiert und im Verlauf der letzten zehn Jahre wurden immer neue Lizenzen für Provider von Mobil-Telefonnetzen vergeben. Wie immer in solchen Fällen, setzt nach einiger Zeit der Prozess der Konzentration ein. Die kleineren werden von den Großen aufgekauft, einige werden zahlungsunfähig und verschwinden vom Markt.

In diesem Fall ging es in Brasilien um die Brasil Telecom, die einen Anteil am Festnetz hat und vor allem den höchsten Anteil an Auswärts- und Auslandsgesprächen aus dem brasilianischen Festnetz. Die Telecom Italia besaß bereits einen der drei großen Provider für Mobil-Telefone in Brasilien, aber noch keinen Festnetzanteil, wie seine beiden größeren Konkurrenten.

Die Brasil Telecom war seit zwei Jahren Kandidat zum Verkauf. Der größte Aktionär des Unternehmens war die Banco Opportunity der schillernden Person mit Namen Dantas, einem Lebemann, der inzwischen bereits zweimal einige Nächte im Gefängnis zubringen musste, aber vom höchsten brasilianischen Bundesgericht immer wieder in Freiheit gesetzt wurde (eine allgemeine Praxis hier: Reiche bleiben hier nie in Gefängnissen).

Es gab aber Konkurrenten beim Rennen um den Kauf der Brasil Telecom. Da war eine US-Firma mit Namen Kroll, die im Auftrag einer ungenannten US-Firma arbeitete und ebenfalls das Mittel des Anzapfen von Telefonleitungen und das Abschöpfen von E-Mails verwendete.

Ausserdem gab es einen dritten Kandidaten, der von der Politik, d.h in diesem Fall von Personen aus dem Umkreis von Präsident Lula und seiner Partei PT, favorisiert wurde: Eine im Besitz von Brasilianern befindliche Festnetzfirma mit Namen Telemar, die zwar auch einen Handy-Netz-Provider hat, der aber weit kleiner ist und kaum überleben könnte.

Nun begann der Krieg und der wurde mit grossem Aufwand geführt. Nach Auskünften der italienischen Staatsanwaltschaft hat die Telecom Italia über 17 Millionen Euro in die illegalen Abhör- und Spionage-Aktivitäten investiert.

Da wurden Ex-CIA-Agenten angeworben, die Erfahrungen in illegalem Abhören haben, da bezahlte man italienische Polizei-Spezialisten, darunter solche der „antimafia“ und der „carabinieres“, französischen Ex-Agenten der „Europol“ (Europa-Polizei), sogar einen ausgewachsenen ehemaligen Geheimdienstagenten der Sowjetunion und nicht zuletzt eine Unmenge von Brasilianern. Darunter waren aktive Agenten des brasilianischen Geheimdiestes Abin wie auch Ex-Agenten dieser dubiosen Organisation sowie brasilianischen Bundespolizisten in Pension.

Allein in Brasilien wurden die Telefongespräche von etwa 2000 (in Worten zweitausend) Personen abgehört und deren E-Mails überwacht, von denen man vermutete, sie könnten diesbezügliche Informationen haben und austauschen, darunter Politiker, Manager der beteiligten Unternehmen und sehr viele Journalisten, wie auch Personen des unmittelbaren Umfeldes von Präsident Lula.

In diesen Fällen geht es darum, jeden Schachzug des Verkaufskandidaten und der gegnerischen Parteien frühzeitig zu erfahren und Gegenmassnahmen zu ergreifen.

Auch die Konkurrenten bedienten sich der gleichen Mittel, so wurde von der Kroll u.a. die Ministerin Marta Suplicy abgehört und der Exminister Palloci. Die Kroll selbst wurde wiederum von Leuten der Opportunity ausspioniert, ebenso wie von der Telecom Italia usw. usf.

Die Anklagen bei der italienischen Staatsanwaltschaft beschäftigen sich mit illegaler Spionage, mit Geldwäsche, mit Korruption (Bestechung von Amtsträgern) und anderen.

Die brasilianische Übersetzerin, die von einer Firma beschäftigt wurde, welche für die Telecom Italia arbeitete und über lange Zeiträume ganze CDs mit abgehörten Telefongesprächen und ausspionierten E-Mails zu übersetzen hatte, erzählt aber, was die Inhalte der interessanten Teile der Kommunikationen waren und macht so deutlich, da ist noch mehr Illegales im Spiel:

„Was ich zu übersetzen hatte, bezog sich auf Marktstrategien, gefälschte Bilanzen, Manöver, um bestimmte Personen in einer Firma durch andere ablösen zu lassen, Informationen über das Privateben von wichtigen Figuren bestimmter Firmen und bestimmter Parteien und Informationen, wer wen als Strohmann verwendet beim Kauf und Verkauf von Immobilien und Unternehmen, weil der eigentliche Käufer/Verkäufer nicht in Erscheinung treten will.“

Und dies alles, kurz nachdem wir ausführlich darüber informiert wurden: Hunderte von Firmen haben sich unsere persönlichen Daten beschafft, oft einschliesslich der Kontonummern und haben ein Millionengeschäft aufgemacht, indem sie diese Datenbündel an interessierte Unternehmen verkauften.

Und Lidl war ja keineswegs die einzige Firma, welche die Mitarbeiter ausspioniete. In den USA ist es sogar schon für legal erklärt worden, die eigenen Mitarbeiter auszuspionieren.

Auch die Kreditkartendaten von Hunderten von Bürgern zusammen mit dem richtigen Namen sind Millionen wert.

Wenn die Herrschaften dieser Bundesreublik sich über die Stasi aufregen, die kam auch nie in die Nähe des Umfangs des Ausspionierens der Privatspäre wie die Bundesrepublik Deutschland.

Selbst die Einwohnermeldeämter haben unsere persönlichen Daten weitergegeben und entsprechende Firmen haben daraus Datensätze zum Verkauf gemacht, die von Propagandisten gekauft werden.

Und da kamen nun die Politiker auf die blendende Idde, man könne ja ein Gesetz machen, dass die Firmen ausdrücklich um unsere Zustimmung bitten müssten, wenn sie unsere Daten speichern und handeln. Da sind die jetzt schon draufgekommen???? Wo waren alle diese Politiker, diese Parteien von CDU/CSU über FDP, SPD und Grüne die letzten 20, 30 Jahre? Auf dem Mond?

D.h. ein wesentlicher Teil dieses Einbruchs in unsere Privatspäre war die ganze Zeit auch noch legal. Soweit illegal, ist es lediglich mit symbolischen Strafen belegt, denn die Politiker haben sich die ganze Zeit nicht im geringsten um unsere Privatsphäre geschert.

Und alle jene kriminellen Spionierorganisationen und alle jene, die unser Daten kaufen, sei es um Propaganda gezielt loszuwerden oder um unsere Konten abzuräumen oder unseren Kreditkartenrahmen ausznutzen, alles dieses sind Firmen, grosse Firmen – und gleichzeitig Mafiaorganisationen.

Wenn Sie oder ich noch ein klitzekleines Geheimnis haben, wir können sicher sein, bald weiss eine Firma davon und verwendet es, um Profit zu machen.

Das nennt man die kapitalstische Barbarei.


Veröffentlicht am 19. September 2008 in der Berliner Umschau

Originalveröffentlichung

Montag, 15. September 2008

Argentinien und Brasilien: Im Ernstfall auch Truppen nach Bolivien

Putschversuch in Boliven in der Region zunehmend isoliert / Nachbarstaaten fürchten Ausfälle bei Gaslieferungen

Von Karl Weiss

Seit zwei Wochen halten Unruhen in Bolivien an. Die bei der landesweiten Abstimmung im August erneut unterlegene Opposition will sich nicht mit dem mit 67% der Stimmen überwältigenden Sieg von Präsident Evo Morales abfinden. Argentinien und Brasilien haben am Donnerstag Abend erklärt, sie würden keinerlei Putsch gegen die gewählte Regierung in Bolivien akzeptieren. Sie ließen indirekt durchblicken, sie würden die gewählte Regierung Morales in Bolivien auch mit Truppenentsendungen unterstützen, sofern Präsident Morales dies erbitten würden.

Brasilien (topographisch)

Morales hat allerdings alle Nachbarländer gebeten, das Land den Konflikt selbst beilegen zu lassen. Er erklärte außerdem, er habe nicht vor, mit den Vereinigten Staaten zu brechen, aber jener Botschafter habe offen gegen ihn konspiriert.

Ebenfalls bereits gegen jede Art von Umsturz oder Abtrennung von Landesteilen in Bolivien haben sich die Präsidenten der angrenzenden Staaten Paraguay und Ecuador ausgesprochen. Venezuelas Präsident Chávez hat nicht nur Morales unterstützt, sondern auch gleich in einem Akt der Solidarität seinen US-Botschafter auch des Landes verwiesen, wie Evo Morales schon vorher.

Evo Morales

In beiden Fällen reagierte die US-Regierung wie üblich damit, daß auch die beiden Botschafter dieser Länder in Washington ausgewiesen wurden. Beide US-Präsidentschaftskandidaten reagierten mit Kritik auf die Ausweisung der Botschafter. Keiner von beiden hat auch nur den Ansatz eines Versuchs gemacht zu klären, ob die Anklagen von Evo Morales nicht der Wahrheit entsprechen, die US-Regierung würde die gewaltbereite Opposition in Bolivien massiv unterstützen. Wahrscheinlich wissen sie längst, daß sie wahr sind.

Der Präsident von Honduras, Zelaya, hat ein Treffen mit dem US-Botschafter abgesagt, um den bolivianischen Präsidenten zu unterstützen.

Bolivien: Brandschatzung einer staatlichen Organisation

Die rechtsgerichteten Oppositions-Gruppen in Bolivien, die von den Gouverneuren der östlichen Tiefland-Staaten (departamentos bolivianos de Tarija, Santa Cruz, Beni, Pando e Chuquisaca) Boliviens unterstützt werden und nach Angaben der Regierung Boliviens auf finanzielle, materielle und logistische Hilfe aus den USA bauen können, hatten zu einer Woche des Protestes aufgerufen und Terror-Attentate ausgeführt, darunter Sprengstoffanschläge, Morde und Brandschatzungen. Eine der Pumpstationen des Erdgases wurde explodiert. Dadurch barst aufgrund des hohen entstehenden Druckes auch eine andere Pumpstation.

Insgesamt 8 Tote (nach anderen Meldungen: 9) sind auf der Seite der Gegen-Demonstranten, die Morales unterstützen, zu beklagen. Sie wurden von den rechtsgerichteten Demonstranten erschossen bzw. wurden Opfer von geschleuderten Granaten. Der bolivianische Innenminister hat in dem ‚departamento’ Pando den Ausnahmezustand ausgerufen. Er sagte bei dieser Gelegenheit, es seien noch weit mehr Tote als jene neun gefunden worden, nach letzten Meldungen sind es jetzt 16 Tote.

Bolivien: Bewaffnete Mitglieder von Rechts-Milizen

Einer dieser Toten wird in Pando beklagt, nachdem es zu Zusammenstößen am Flughafen der Stadt Cobija kam. Cobija liegt direkt am Grenzfluss zu Brasilien. Dort wurden auch drei Brasilianer verletzt, als „Milizen“ (das sind bewaffnete Banden der Rechtsextremisten) das Feuer auf fahrende Autos eröffneten.

Argentinien und Brasilien sind die wichtigsten Empfänger des Erdgases aus Bolivien. In beiden Ländern würde die Wirtschaft beeinträchtigt, wenn die Gas-Versorgung für längere Zeit unterbrochen würde.

Die Lieferung von Erdgas an Argentinien ist vollständig unterbrochen, die an Brasilien zum Teil. Im Moment hat aber in beiden Ländern noch keine Verknappung eingesetzt.

Bolivien: Leichen von erschossenen Kleinbauern

Ob es eine sehr kluge Strategie der Rechtsextremen war, sich ausgerechnet die Gas-Pipelines nach Brasilien und Argentinien als Ziel von Terroranschlägen auszusuchen, sei dahingestellt. Dadurch werden die Interessen Brasiliens und Argentiniens automatisch mit denen von Morales parallel. Aber Intelligenz war ja noch nie die starke Seite von Rechtsextremen.

Inzwischen hat Morales versprochen, die Gas-Pipelines mit Militär zu schützen. Das Signal an die beiden grossen Brüder im Osten bzw. Süden ist eindeutig: Morales ist auf „unserer“ Seite, die abtrünnigen Separtisten von der extremen Rechten auf der „Gegenseite“.

Der Vize-Präsident des ‚Mercosul-Parlaments’ (eine Vertreter-Versammlung der Mitgliedstaaten des Mercosur/Mercosul), der Uruguayer Conde, erklärte: „Die Vereinigten Staaten führen eine Kampagne gegen die Regierungen der Linken in Südamerika und gegen den Prozess der Integration Südamerikas.“

Bolivien: Mitglieder von Rechts-Milizen

Die Dinge haben sich geändert in Südamerika. 1973 in Chile erhob sich (zufällig auch gerade am 11. September) einfach das in den USA (Fort Bennent) geschulte Militär und der Präsident Allende wagte nicht einmal mehr zu sagen, die US-Regierung steckt dahinter. Vielleicht hoffte er noch, dann würden sie ihn nicht umbringen?

Am 11. September 2008 eine andere Welt: Erneut ein Putschversuch, diesmal ohne Militär, aber inszeniert, als wäre es die Stimme des Volkes, die da auf die Strasse geht. Dahinter stecken außer der US-Regierung die Gouverneure der östlichen Flachland-Provinzen von Bolivien. Auch diesmal wieder Gewaltanwendung, aber das Militär bleibt in den Kasernen oder verläßt sie nur auf Anweisung des gewählten Präsidenten.

Warum? Weil die Militärs nicht so dumm sind wie die Rechtsextremisten. Sie würden, wenn sie putschten, von (fast) allen anderen Regierungen Südamerikas isoliert – und die Unterstützung der US-Regierung würde nichts nützen, denn das Geld steckt nicht mehr locker. Und sie müßten gegen Streiks und Demonstrationen regieren, die nicht aufhörten. Oder sollen sie die Hälfte der bolivianischen Bevölkerung abschlachten?

Chávez

Die Oligarchien sind weiterhin die gleichen, sei es in Mexiko, in Brasilien, in Argentinien, in Venezuela, in Nicaragua, in Kolumbien, in Bolivien oder in irgendeinem anderen Land südlich des Rio Grande. Es sind Oligarchien, die in unermeßlichem Reichtum leben, den sie aus der Bevölkerung ihres Landes herausgepreßt haben und weiter herauspressen. Sie haben die Posten in Exekutive, Justiz , Militär und Medien inne oder mit Vertrauten besetzt. Sie sind fast alle in den USA ausgebildet, haben ihre akademischen Grade in Harvard und anderen berühmten US-Universitäten erworben. Sie leben zum Teil sogar mehr in New York oder Miami als auf ihren ausgedehnten Ländereien im jeweiligen Land.

Bush und Lula in Brasilien

Sie haben einen unausgesprochenen Vertrag mit der US-Regierung: Ihr laßt uns (augenzwinkernd) unser Volk ausnehmen bis aufs letzte Hemd und wir sorgen dafür hier in ... dafür, daß die US-Interessen immer an erster Stelle in der Politik stehen. Wenn das nicht mehr auf scheindemokratischem Weg funktioniert, dann putschen wir einfach.

Diese Oligarchien sind traditionell extrem rechts („ein guter Bayer wählt CSU“) oder sogar faschistisch eingestellt. Sie haben noch vor keiner Gaunerei und keinem Mord zurückgeschreckt. Sie lassen regelmäßig von bewaffneten Banden, die ihnen unterstehen, Bauer von ihrem Land vertreiben und eignen es sich an. Die Morde an Leuten, welche die armen Bauern unterstützen, z. B. in Brasilien, sind Monatsmeldung. Jener an Chico Mendez und der an Schwester Dorothy Stang haben auch außerhalb des Landes Aufmerksamkeit gefunden.

Dorothy-Stang
Dorothy Stang

Nicht umsonst hat die CIA, als sie die Grössen des Faschismus und Massenmörder des Hitler-Regimes nach dem zweiten Weltkrieg in Sicherheit brachten, sich Südamerika als Ziel ausgesucht. Dort konnten sie kameradschaftlich-freundlicher Aufnahme sicher sein.

Bis in das neue Jahrtausend hinein haben sich die Völker dieser Länder kaum hierum gekümmert, denn man war mit dem täglichen Kampf ums Überleben beschäftigt oder duckte sich ängstlich unter den Schlägen der Oligarchie.

Doch nun ist alles anders. Revolutionäre Gärung hat in vielen Ländern in Mittel- und Südamerika eingesetzt.

Zwar hat dies noch in keinem Land zu einer wirklichen Revolution geführt, aber Argentinien im Jahr 2001 beim „Argentinazzo“ kurz vor Weihnachten, als der damalige Präsident de la Rua nur in letzter Minute aus seinem Amtssitz fliehen und ein Flugzeug ins Ausland besteigen konnte und Bolivien im Jahr 2005 sind dem nahe gekommen.

Bolivien: Laden eines Verwandten von Morales gebrandschatzt

Heute kann die Oligarchie in einem Land Mittel- oder Südamerikas nicht mehr so einfach selbst das Präsidentenamt antreten oder einen Vertrauten einsetzen. Rein formal gab es ja Wahlen, aber in Wirklichkeit konnte man nur wählen, wer von ihnen weniger verhaßt war. Heute aber haben allenthalben Oppositionsparteien ihr Haupt erhoben, meist solche vom Typ Sozialdemokratie, oder es kamen Präsidenten an die Macht, wie Kirchner in Argentinien und Chávez in Venezuela, die von vornherein einen von den USA unabhängigen Kurs verfolgten.

Nun, wir haben ja ausführliche Erfahrungen mit der Sozialdemokratie und wissen, die hat nie Revolution im Sinn, sondern ist im Gegenteil der Verhinderer der Revolution. So ist es auch in Lateinamerika.

2002 wurde Lula in Brasilien gewählt, dem größten lateinamerikanischen Land. Der begann zwar seine Präsidentschaft noch mit neo-liberalen „Reformen“, so zum Beispiel der Rentenreform, entdeckte aber dann seine Berufung zu einem der Führer der Entwicklungsländer und verfolgt seitdem auch einen in zunehmenden Masse von den USA unabhängigen Kurs. Charakteristisch dafür die Meldung aus den letzten Tagen: Die Hilfsgüter, die Kuba nach den Passagen der Hurricanes Gustav und Ike von den USA erbat, spendete Brasilien und brachte sie mit einem Frachtflugzeug nach Kuba. Die USA hatten jede Hilfe verweigert.

Chávez und Lula

Dann kam Uruguay, wo sich seit undenklichen Zeiten immer nur zwei Parteien gegenseitig die Macht in die Hände gegeben hatten. Der Kandidat einer dritten Partei, Vasquez, gewann die Wahlen und begann eine gemäßigt sozialdemokratische Politik zu machen. Etwas in mancher Hinsicht Ähnliches geschah vor kurzem in Paraguay, wo der Oppositionskandidat Lugo einer Partei, die nie mehr als zehn Prozent der Stimmen hatte, die Wahl gewann und einen politischen Umschwung ankündigte. Er ist erst im August ins Amt eingeführt worden.

Vorher schon hatte eine Anzahl von Aufständen in Bolivien zu Neuwahlen geführt, aus denen Evo Morales als Sieger hervorging, der eine Linie mit Verstaatlichungen ähnlich Chávez in Venezuela verfolgt, was schon weit radikaler als die Sozialdemokratie ist.

Auch in Chile wurde eine dem Namen nach Sozialdemokratin, Frau Bachelet, gewählt. Allerdings stellt Chile schon seit vielen Jahrzehnten eine Ausnahme in Südamerka dar, weil es kein so hohes Niveau von Armut aufweist wie alle anderen Länder hier.

Juan Carlos, Bachelet und Chávez

Nicht lange danach war Ecuador dran. Der neue Präsident Correa, der auch als „links“ gilt, wurde denn auch bald vom Eindringen kolumbianischer Flugzeug in sein Land betroffen. Kolumbien ist heute das einzige Land Südamerikas, das noch die traditionell faschistische Linie verfolgt, in der Linke und Gewerkschafter schlicht und einfach ermordet werden und es entwickelt sich zunehmend zum Kettenhund der USA in Südamerika. Es wurde bereits offen vor einem Angriff des bis an die Zähne bewaffneten Kolumbien auf Venezuela gewarnt.

Peru als eines der letzten Länder, das noch auf US-treuem Kurs liegt, wird von Streiks und Demonstrationen erschüttert.

Vorher schon hatte nach den unabhängigen Meinungsumfragen auch in Mexiko ein sozialdemokratischer Kandidat die Mehrheit. Seine Wahl konnte dann nur durch massive Wahlfälschungen verhindert werden.

Nicht viel später kam dann auch Nicaragua dran, das vorher schon einmal eine „linke Episode“ erlebt hatte. Der damalige Präsident Ortega wurde erneut gewählt und bewies denn auch, was er von der US-Politik hält, als er am 3. September als erster nach Russland die von Georgien abtrünnigen Staaten Süd-Ossetien und Abschasien anerkannte.

All dies hat die traditionellen Oligarchien in Lateinamerika nun offensichtlich in Aufregung versetzt. Hatten sie am Anfang wohl noch an vereinzelte Ausnahmefälle geglaubt und erwartet, die „Welle“ werde bald verebben, fördert die fortschreitende Veränderung nun offenbar Panik bei den alten Herrschern. Anders kann man das offene Übergehen zu Terrorakten und Brandschatzungen vor den Augen der Welt nicht interpretieren.

Man darf weiter eine Menge Konflikte sozialer Art in Lateinamerika erwarten. Die revolutionäre Gärung dürfte unwiderruflich sein und die Volksmasen werden voraussichtlich an Klarheit gewinnen. Andererseits werden die alten Oligarchien sicher nicht freiwillig ihre Pfründe hergeben.

Barack Obama

Und die US-Regierung – speziell wenn Obama Präsident werden sollte – wird erneut massiv intervenieren. Obama hat bereits angekündigt, sich speziell dem Verhältnis zu den anderen amerikanischen Ländern widmen zu wollen. Das kann aus Südamerika nur als Drohung verstanden werden.


Veröffentlicht am 15. September 2008 in der Berliner Umschau

Originalveröffentlichung


Zusatz zum Artikel

Was zum Zeitpunkt der erstellung des Artikels noch eine Vermutung war, ist nun offiziell durch eine Untersuchungskommission bestätigt: Die reaktionären Horden unter Anleitung des US-Botschafters, haben wirklich Progrome begangen. Siehe diese Meldung:

http://www.rf-news.de/rfnews/schlagzeilen#News_Item.2008-12-05.3657

05.12.08 - Bolivien: Kommission bestätigt Massaker in Pando

Eine von der Union Südamerikanischer Staaten (Unasur) eingesetzte Untersuchungskommission hat das von der ultrarechten Opposition verübte Massaker in der Provinz Pando bestätigt. Am 11. September wurden mindestens 20 Anhänger des Präsidenten Morales von angeheuerten Auftragskillern gefoltert, verstümmelt und bestialisch ermordet.

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