Mittwoch, 15. Oktober 2008

Populismus - was ist das eigentlich?

War Haider Populist?

Von Karl Weiss

Anlässlich des Todes von Haider hat der Begriff wieder Hochkonjunktur: Populismus. 99% der Nachrufe enthalten in der einen oder anderen Form diesen Vorwurf. Ähnlich ist es, wenn über Lafontaine berichtet wird. Populismus ist zum meist gebrauchten politischen Schimpfwort geworden. Nur: Haider war nicht vor allem Populist – und Lafontaine ist es schon gar nicht.

Wenn Sie hier nun stutzen, so haben Sie sich noch keine Gedanken zu diesem Wort gemacht. Ist Populismus, wenn man populären Forderungen aus dem Volk Rechnung trägt?

Die Linke 2008

Wenn zum Beispiel Hartz IV abgeschafft werden wird, wenn die Truppen aus Afghanistan abgezogen werden, wenn Sozialtarife auf den Nahverkehrsmitteln und der Bahn eingeführt werden und die Studiengebühren abgeschafft? Ist das Populismus? Wenn die geschlossenen Schwimmbäder wieder geöffnet werden, wenn Tausende von neuen Lehrern eingestellt werden und die Klassengrössen endlich auf erträgliche Zahlen heruntergehen? Wenn endlich das Versprechen wahrgemacht wird, kostenlose Kinderkrippen- und Kindergartenplätze für alle bereit zu stellen, wäre das Populismus? Wenn die Vorratsdatenspeicherung wieder rückgängig gemacht wird, der Bundestrojaner verboten und alle anderen Bespitzelungs-Massnahmen ohne konkreten Verdacht ebenso, wäre das Populismus? Wenn ein Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde eingeführt würde und die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, ist das Populismus? Nein, das ist Demokratie.

Denn Demokratie ist ja nichts anderes als das Versprechen an das Volk, es sei der Souverän, es habe die Macht und dementsprechend zu handeln. Den Forderungen des Volkes nachzukommen, ist populär, aber kein Populismus. Es müsste in einer Demokratie hoch gelobt werden. Andernfalls muss man sich doch fragen, was ist das für eine Demokratie.

Nun kommt an dieser Stelle mit Regelmässigkeit das Argument, man könne nicht jeder hochgeputschten Emotion des Volkes folgen, die ein Mal in diese und dann wieder in Gegenrichtung laufen könne. Kurz, das Volk ist einfach zu doof dafür. Das Beispiel, dass dann mit tödlicher Sicherheit gebracht wird, ist die Todesstrafe. Wenn es nach dem Volke ginge, würde nach jedem spektakulären Kindermord die Todesstrafe eingeführt.

Ja, allerdings, es gibt Organe wie die ‚ Bild‘, aber auch andere Medien, wie ‚ ‚heute‘, ‚tagesschau‘, Spiegel usw., die gerne Kindermorde, niedergeschlagene Rentner und andere Skandale hochkochen und dann versuchen, ihre Süppchen darauf zu kochen. Tatsächlich mag sich das in manchen Umfragen niederschlagen. Nur: Zu „normalen Zeiten“ spricht sich heute die Bundesbevölkerung eindeutig mehrheitlich gegen die Todesstrafe aus. Und es fällt auch niemandem ein Stein aus der Krone, wenn in einigen Ländern die Todestrafe existiert. Dies ist keine Argument gegen populäre Politik, sondern nur gegen Sensationsberichterstattung.

Nun kommen aber andere und argumentieren, es könne eben nicht einfach nach dem Volke gehen. In der aktuellen Finanzkrise zum Beispiel hätte das Volk, wenn es Mitsprache gehabt hätte, die Milliardensummen für Banken, Versicherungen und andere Institutionen des Grosskapitals sicher nicht genehmigt. Der Durchschnittsbürger habe eben nicht ausreichend ökonomische Kenntnisse und man müsse in so einem Fall eben den ‚ Fachleuten‘ vertrauen - wobei diese Fachleute rein zufällig die gleichen sind, die den ganzen Schlamassel verursacht haben. Die Massnahmen seien aber doch notwendig gewesen, um den Kapitalismus zu retten.

Nun kommen wir der Sache näher: In Wirklichkeit war das Versprechen der Demokratie eben nie ernst gemeint. In Wirklichkeit hält man das Volk für eine tumbe Masse,ein notwendiges Übel, um unter dem Deckmäntelchen der „Demokratie“ den KAPITALISMUS ZU RETTEN.

Zwar ist es praktisch, von Demokratie zu reden und so eine scheinbare Massenbasis seiner Politik vorweisen zu können, aber immer, wenn es hart auf hart geht, entscheidet man eben gegen das Volk – „tja, so leid es uns tut!“

Das ist Populismus.

Populismus ist, wenn man Volksverbundenheit vortäuscht, aber in Wirklichkeit die Politik des Kapitalismus betreibt - gegen das Volk.

Populismus, das ist Demagogie.

Meseberg-Tagung Bundesregierung

Z.B. jene Demagogie, die von fast allen Parteien in Brandenburg der Bevölkerung vormacht, man sei gegen das Bombodrom, während genau diese gleichen Parteien in Berlin nicht einen kleinen Finger bewegen, um das Verteidigunsministerium von seinem Vorhaben abzubringen – ein einfacher Bundestagsbeschluss hätte ausgereicht.

Z.B. jene Demagogie, die von der CSU vor den bayerischen Wahlen betrieben wurde: Man setzte sich angeblich vehement für eine Wiedereinführung der Entfernungspauschale im Steuerrecht ein – und stimmte geschlossen gegen einen entsprechenden Antrag im Bundestag.

Z.B. jene Demagogie, die man benutzte, um die Privatisierung der deutschen Stromerzeuger und –verteiler zu rechtfertigen. Nach der Privatisierung werde es Zig Firmen geben, die Strom anbieten und man werde auswählen können und sie würden in Konkurrenz stehen und so würde der Strom billiger werden. Jeder weiss, was geschah: Binnen weniger Jahre bildeten sich drei Monopole heraus, die in holder Eintracht die Strompreise erhöhen und Jahr um Jahr mehr Profite an ihre Aktionäre ausschütten – einen Effekt, den man schon genau von den Ölriesen kennt. Das ist Populismus, das ist Demagogie!

Vor allem aber jene Demagogie, die man verwendete, immer wenn populäre Forderungen gestellt wurden (wie sie oben schon dargelegt wurden): Dafür sei kein Geld da. Man habe nichts gegen diese Forderungen, nur sie seien einfach nicht finanzierbar. Man könne einem nackten Mann nicht in die Tasch greifen usw.

Wie jeder weiss, hat sich dies in diesen Tagen als gigantische Lüge herausgestellt. Das Geld war vorhanden, ja es war weit mehr vorhanden, als all dies gekostet hätte. Für nur eine einzige Bank, die Hypo, hat man bereits 38 Milliarden Euro bereitgestellt – und da ist noch nicht nicht berücksichtigt, was bereits in die IKB gesteckt wurde, in die KfW, in die Bayerische Landesbank, in die Sächsische Landesbank, in die Nordeutsche Landesbank, die Westdeutsche Landesbank – und jetzt hat man noch weitere weit höhere Beträge für die armen notleidenden Banken angekündigt. Das war Demagogie hoch drei – und Populismus hoch drei!

Schill 2

Und Schill, war der nicht Populist? Er war es in dem Masse, wie er den Wählern versuchte einzureden, man brauche nur die Strafen zu erhöhen und schon würde dem Verbrechen der Garaus gemacht. Nun, jeder weiss, heute wird in Hamburg nicht weniger verbrochen als vor seinem kometenhaften Auf- und Abstieg. Interessant, dass Schill selbst nun unter den Kriminellen zu finden ist mit seinem Kokain–Konsum.

Schill beim Koksen

Viel populistischer als er war aber noch van Beust, der ihn in seine Koalition aufnahm und eine „Zero-Tolerance-Policy“ versprach, genau wissend, dies erreicht gar nichts gegen berufsmässige Verbrecher. In den gleichen Fussstapfen bewegt sich auch Frau Merkel, die sehr wohl weiss, wie sich mafiähnliche professionelle Kriminalität in Deutschland ausbreitet, aber fordert, es müssten überall Überwachungskameras angebracht werden, denn nun müsse man endlich gegen jene vorgehen, die auf der Strasse jemanden anrempeln. Tatsächlich, das ist das dringendste Problem, das wir in Deutschland haben.

Schill und van Beust

Natürlich sind auch die Faschisten Demagogen und damit Populisten, aber das ist nicht der Kern des Faschismus. Auch wenn Faschisten versuchen sich mit „sozialen“ oder „populären“ Mäntelchen in das Vertrauen einzuschleichen, dann, wenn sie an die Macht kommen, kommt der Kern zum Vorschein, ihr wahres Gesicht: Sozialisten werden weggesperrt oder gleich umgebracht, die freien Gewerkschaften verboten, das Kapital erhält offen freie Entscheidungsgewalt, der Kapitalist wird als „Betriebsführer“ eingesetzt, dem absoluter Gehorsam geschuldet wird, die Renten werden gekappt, genauso wie die Löhne, statt einer Arbeitslosenhilfe wird unterbezahlte Zwangsarbeit eingeführt usw usf. Das geht viel weiter als einfache Demagogie, als einfacher Populismus. Faschismus ist Turbo-Kapitalismus brutal.

Schiesstraining von Faschisten in Aargau, Schweiz

Insofern ist auch die Bezeichnung Populist für Haider nicht angebracht. Wer offen gegen Ausländer hetzt, ist ein Verbrecher.

Und wie steht es mit der Linkspartei? Ja, leider zeigt sie auch klare Anzeichen von Demagogie, von Populismus, nur nicht in dem Sinne, wie es uns die Medien am Beispiel Lafontaine weis machen wollen. Sie ist dort demagogisch, „populistisch“, wo sie vorher von „Sozialismus“ spricht und soziale Forderungen vertritt, doch wenn sie an der Regierung beteiligt ist, dann trägt sie Privatisierungen von Krankenhäusern und Sozialwohnungen mit, dann trägt sie Milliarden für die Landesbank Berlin mit, dann nimmt sie hin, dass keine ihrer sozialen Forderungen verwirklicht wird, ja, sie stimmt sogar in den demagogischen Chor ein, es sei kein Geld da, man wollte ja, aber es ginge nicht, absolute Ebbe in der Kasse. Nur peinlich, das dies jetzt so gründlich widerlegt wurde.


Veröffentlicht am 15. Oktober 2008 in der Berliner Umschau

Originalveröffentlichung

Montag, 13. Oktober 2008

USA: 28% effektive Analphabeten?

Amerika im Niedergang

Von Karl Weiss

Der US-Soziologe Richard Sennett vertritt die These eines allgemeinen Niedergangs der Vereinigten Staaten, weil nicht die Fertigkeiten der US-Bürger das Kapital darstellten, sondern die Finanzmanipulationen, deren Blase jetzt geplatzt ist. Die Aussagen Sennetts sind hier mit eigenen Recherchen und eigenen Anmerkungen angereichert.

Capitol, Washington (DC)

Sennett sagt, es gäbe in den USA 28% von „effektiven Analphabeten“, das seien solche, die einen Vertrag oder einen längeren Text nicht verstehen könnten. Das generelle Ausbildungsniveau dort sei zu gering.

Zwar gebe es die superteuren Spitzen-Universitäten, die tatsächlich Spitzen-Kräfte hervorbringen, aber das sei viel zu wenig für ein so grosses Land. Es würden viele Spezialisten aus dem Ausland angeworben, zum Beispiel Ingenieure und Programmierer. Das kann aber schnell zurückschlagen, wenn eine Wirtschaftskrise eintritt, so wie jetzt. Wer so flexibel ist, in die USA auszwandern, ist auch so flexibel, das Land wieder zu verlassen, wenn er den gut bezahlten Job verliert.

Er erkennt an, dass „Wall Street“und „Silicon Valley“ Spitzenprodukte auf dem Finanzsektor und dem IT-Sektor hervorbringen, sagt aber, das könne auf die grosse Zahl der US-Unternehmen nicht übertragen werden. Diese würden vielmehr keinen Wert auf die Fertigkeiten der Mitarbeiter lege, keine Weiterbildung anbieten, stattdessen neue Leute einstellen und die alten entlassen. Das führe nun, in der Krise, zu einem allgemeinen Gefühl des Niedergangs in der US-Bevölkerung.

USA: Foreclosure Zwangsversteigerung

Die US-Wirtschaft hat in den letzten zwanzig Jahren einen fundamentalen Verlust an Fertigkeiten aufzuweisen. Das ist überdeckt woden durch den Finanz-Boom des neuen Jahrhunderts, aber nun merkt der „kleiner Mann“ in den USA, er ist nicht der Gewinner in diesem Kapitalismus.

Sennet nennt u.a. den deutschen Maschinenbau als Gegenbeispiel, der weiterhin weltweit führend sei. US-Firmen, die da mithalten können, sind an den Fingern einer Hand abzuzählen.

All dies ist bisher nicht ans Tageslicht gekommen, weil die USA sich überall in der Welt bis über beide Ohren verschuldet habe und weil man einen Konsum-Boom auf Kredit erzeugt hat. Dies ist aber nun vorbei und die US-Bürger verlieren ihren Job, ihr Haus und ihre Kreditkarten. Damit bricht aber ihre Welt zusammen.

9-11-Foto

Deutlich werde dies, so Sennett, in der Attraktivität das Kandidaten-Gespanns der Republikaner, McCain und Palin, die nichts als Nostalgie nach den guten, alten US-Zeiten zu bieten haben. Nur seien diese Zeiten unwiderruflich vorbei.

Er weist die These zurück, in den USA sei die Arbeitslosigkeit niedriger als in Deutschland. Man zähle nur nicht die 1,5 Millionen Gefängnisinsassen mit und auch nicht jene, die nur Teilzeitjobs haben.

Als Beispiel für die schlechte generelle Schulbildung in den Vereinigten Staaten nennt er die Erfahrung von Lehrern, die beide Systeme kennen. Ein US-High-School-Absolvent sei ungefähr zwei Jahre hinter einem deutschen Abiturienten zurück.

Housing Slump

Weiter unten im System sei es noch schlimmer. Es gebe keine der deutschen Lehrlingsausbildung äquivalente Institution in den USA. Arbeiter sind Hilfsarbeiter und kommen nie über diesen Status hinaus.

Als eines der grössten Handicaps der US-Bevölkerung sieht Sennett das US-Konsumverhalten an, das völlig irrational sei: „Bist du unglücklich, geh einkaufen!“. Sparen gehört nicht zum Handwerkszeug des US-Amerikaners. Das wirkt sich jetzt speziell negativ aus.

Die Mängel des US-Schulsystems macht er auch daran deutlich, dass dort 600 Mal mehr für Sport als für Naturwissenschaften an den Schulen ausgegeben wird.

Immobilienkrise USA

Und die grosse Zahl der US-Nobelpreisträger? Er sagt: „Oben ist Amerika spitze, aber die große Masse der Gesellschaft droht zu scheitern.“

Er legt auch dar, dass neue kleinere Firmen in den USA weit häufiger schliessen müssen als in Deutschland oder Skandinavien. Er meint, die relativ starke Rolle der Gewerkschaften in Deutschland wirke sich jetzt in Deutschland positiv aus, in dem Sinne, dass 'good old Germany' seiner Ansicht nach nicht so katastrophal von der Krise getroffen wird wie der grosse Bruder auf der anderen Seite des Atlantiks.

Hier ist der Link zum Interview.

Als Zusatz noch die Erfahrung eines der Freunde des Berichterstatters, der in den USA arbeitete: „Es war Anfang der Neunziger Jahre. Ich war eingeladen worden, eine Firma zu besuchen, die tief in den Apalachen in Pennsylvania lag. Die Tochter des Firmenbesitzers fuhr mich vom Flughafen Pittsburg zum Hotel. Sie zeigte sich interessiert, etwas über die damals letzten Entwicklungen in Deutschland zu erfahren. Ich bemerkte verwundert, dass sie offenbar keine wirkliche Kenntnis über die deutsche Wiedervereinigung hatte und versuchte Einiges zu erklären. Sie war als Tochter des Besitzers einer Firma mit mehr als 100 Beschäftigten eine typische Mittelklasse-Vertreterin. Als wir an einer Ampel anhalten mussten, fragte sie, ob wir in Deutschland auch Ampeln hätten.“


Veröffentlicht am 13. Oktober 2008 in der Berliner Umschau


Originalveröffentlichung

Freitag, 10. Oktober 2008

Der Kosovo ist ein Krebsgeschwür im Körper des Völkerrechts

UN-Vollversammlung nimmt Resolution an

Von Karl Weiss

Wie bereits im Februar anlässlich der „Unabhängigkeitserklärung“ des Kosovo in diesem Artikel geschrieben: „Kosovo: ‚Unabhängigkeit‘ öffnet Büchse der Pandora‘“ , ist der Fall Kosovo mit der „Unabhängigkeitserklärung“ und mit der Anerkennung durch inzwischen bereits 48 der etwa 180 Länder der Erde keineswegs abgeschlossen. Im Gegenteil: Es handelt sich um eine schwärende Wunde, die ständig neue Probleme schafft, solange dies Problem nicht gelöst ist, eine Wunde im internationalen Völkerrecht.

Kosovo

Ja, es wurde in diesem Artikel sogar die These aufgestellt, die Anerkennung des Kosovo als souveränem Staat könne der erste Schritt zum dritten Weltkrieg sein.

Es dauerte denn auch nicht lange und im August fand bereits der erste Krieg statt, der ohne die Öffnung der Büchse der Pandora so wahrscheinlich nicht stattgefunden hätte: Der Ossetien-Krieg. Die NATO hatte Georgien aufgefordert, die „ungeklärten Grenzziehungen“ seines Landes in Ordnung zu bringen, also die beiden abtrünnigen Provinzen Süd-Ossetien und Abchasien mit Gewalt wieder nach Georgien einzuverleiben, und Saakashvili als treuer Diener seines Herren folgte der „Empfehlung“ und marschierte in Süd-Ossetien ein und räuberte und mordete, dass es eine Art hatte.

Das gab Russland den lange erwarteten Vorwand, nun seinerseits Truppen zu schicken und die georgischen Aggressoren aus Süd-Ossetien zu vertreiben und dabei auch gleich noch das Problem zu lösen, dass in einem Teil von Abchasien georgische Truppen gestanden hatte. Um Georgien und dem Westen eine Lektion zu erteilen, marschierte man auch noch ein Stück nach Georgien ein und machte deutlich, man hätte jederzeit das Land erobern und besetzen können.

Gebäude in Gori nach russischem Luftangriff

Dann wurde eine weitere Lektion erteilt: Süd-Ossetien und Abchasien wurden als selbständige Staaten anerkannt. Dabei hat man sich ausdrücklich auf den Fall Kosovo bezogen. Dem Westen blieb außer hilflosen Protesten nichts zu tun übrig. Man versuchte mit einer Hetzkampagne gegen Russland dies Land als Aggressor erscheinen zu lassen.

Doch nun, im Oktober, fand in der UN-Vollversammling die Abstimmung statt, die zeigte, ob die Propagandakampagne überall auf der Welt auf fruchtbaren Boden gefallen war: Serbien hatte eine Resolution eingebracht, die den Fall Kosovo vor das UN-Gericht zu bringen forderte. Will sagen, Serbien hat den integren Bestandteil seines Landes, den Kosovo, keineswegs aufgegeben.

Und so kam es, wie es kommen musste: Da die überwiegende Mehrheit der Länder sehr wohl das Völkerrecht kennt und sehr wohl weiss, die Abtrennung des Kosovo von Serbien war völkerrechtswidrig, ging die Abstimmung eindeutig aus: Mit 77 gegen 6 Stimmen wurde Serbiens Resolution angenommen, wobei 74 Enthaltungen gezählt wurden. Die Propaganda, Russland sei der Aggressor vom August und Serbien der Aggressor im Kosovo-Konflikt und nicht die NATO-Staaten, fand international nur wenig Echo.

Unter diesen Enthaltungen waren auch einige jener Länder, deren Regierungen am eifrigsten auf die Abspaltung des Kosovo gedrungen und den „neuen Staat“ als erste anerkannt hatten: Deutschland , Grossbritannien und Frankreich.

Bevölkerungsgruppen in Jugoslawien 1991

Interessant, dass es nur die USA selbst und (natürlich) Albanien (sowie vier Mini-Pazifik-Staaten, die in Wirklichkeit unter US-Recht stehen) wagten, gegen diese Resolution zu stimmen.

Es wird deutlich: Die NATO-Länder, die wesentlich für die völkerrechtswidrige Abtrennung des Kosovo von Serbien verantwortlich sind, waren sich sehr wohl bewusst, dass sie offen gegen das Recht verstossen hatten und damit einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen haben. Die kleinlaute „Enthaltung“ spricht Bände.

Es ist auch charakteristisch, dass sich ebenfalls EU-Staaten der Resolution angeschlossen haben, wie Spanien, Griechenland, Zypern und Rumänien.

Auch fünf der sechs bevölkerungsreichsten Länder der Erde, China, Indien, Russland, Indonesien und Brasilien haben sich für die Resolution ausgesprochen, wie auch andere Länder mit viel internationalem Ansehen, wie Argentinien, der Iran, Island und Norwegen.

Man kann anhand dieser Resolution erneut deutlich machen: Die US-Regierung ist es in Wirklichkeit, die sich mit ihrer Politik immer mehr isoliert und damit auch jene Regierungen, die sich mit Vorliebe in deren Anus aufhalten, wie die deutsche, die englische und die französische.

Während die Massenmedien in den „westlichen“ Ländern immer wieder den Eindruck zu erwecken versuchen, lediglich ein Handvoll von „Spinnern“ in einigen Ländern würden nicht mit der Art und Weise übereinstimmen, wie die US-Regierung die ganze Welt regiert, ist die Wirklichkeit eine andere: So mächtig auch die USA zusammen mit den EU-Ländern erscheinen mögen, in Wirklichkeit ist es diese imperialistische Politik, die weltweit isoliert ist.

Wie auch immer: Der Fall Kosovo ist weit entfernt von einer Lösung. Die „Unabhängigkeitserklärung“ und die Anerkennung durch andere Staaten haben das Problem nur vergrössert, nicht verringert.

Es ist wie mit der Besetzung eines Teiles der damaligen Tschechoslowakei durch die Hitler-Truppen: Das wurde zwar international zunächst hingenommen, aber es blieb ein Krebsgeschwür im Körper des Völkerrechts. Wird es nicht diplomatisch gelöst, wird es zu einem Krieg kommen.


Veröffentlicht am 10. Oktober 2008 in der Berliner Umschau

Originalartikel

Donnerstag, 9. Oktober 2008

Linke als Volkspartei?

Kommunisten?

Von Karl Weiss

Beeindruckend eine Studie des DIW-Instituts, die Anhänger der Linken seien nicht, wie vermutet, hauptsächlich aus den unteren Schichten (geringer Bildungsstand, geringes Einkommen) gekommen, sondern würden sich gleichmäßig über alle Bevölkerungsschichten verteilen, allerdings mit deutlichen Unterschieden im Osten und im Westen.

Die Linke 2008

Siehe hier.

Das DIW schließt daraus, die Linke hätte das Zeug zur Volkspartei.

Dazu muss man bemerken, dass diese Studie ihre Befragungen 2007 vornahm, also zu einer Zeit, als die Linke in den Umfragen noch bei weitem keine 13 oder 14 Prozent der Stimmen bei der „Sonntagsfrage“ erhielt wie jetzt, das sind immerhin fast das doppelte als bei der Bundestagswahl 2005. Das sind schlechte Nachrichten für die etablierten Parteien, die sich nun wohl langsam daran gewöhnen müssen, mit der „Linken“ leben zu müssen.

Dabei muss man die allerletzten Entwicklungen noch berücksichtigen, wo der Staat, geführt von Parteien, die den Treueeid auf die Prinzipien des Neo-Liberalismus geschworen haben, jetzt entgegen allen diesen Prinzipien staatlicherseits massiv in die Wirtschaftsabläufe eingreift, die nach deren Bibel doch immer nur und gut funktionieren, wenn sich der Staat da völlig raushält.

Meseberg-Tagung Bundesregierung

Damit verlieren diese „bolschewistischen Neoliberalen“ das bisschen an Glaubwürdigkeit, das sie noch hatten, jedenfalls bei einer guten Anzahl von Menschen.

Kein Wunder, dass speziell die Partei, die eigentlich konservativ sein müsste, also die überkommenen Werte hochhalten, in spezieller Weise Zuspruch verliert. Letzter Stand: CDU bei 33% derer, die noch ihre Stimme abgeben, das sind etwa die Hälfte der Wahlberechtigten, macht zusammen also in etwa 16,5% der wahlberechtigten Bürger, die dieser „Volkspartei“ noch zustimmen. Die andere angebliche Volkspartei, die SPD, steht derweil auf 25%, das macht also 12,5% der Wahlberechtigten. Die Summe von beiden Regierungsparteien, nur dass man mal die richtigen Zahlen hat, kommt gerade mal auf 28% der Zustimmung der Wahlberechtigten.

Wenn die aktuellen Ausbrüche der beginnenden Weltwirtschaftskrise erst einmal in das Bewusstsein weiter Kreise der Bevökerung eingesickert sind und Hunderttausende ihren Arbeitsplatz verloren haben, dann werden da noch ganz andere Zahlen herauskommen.

Bundestag - Reichstag

Wirklich interessant ist es aber auch, die Kommentare unter diesem Artikel in der Süddeutschen zu lesen, bereits am ersten Tag weit mehr als 150. Da kommt die Wut auf die Profiteure zum Teil vehement zum Ausdruck. Einer der heftigen Verteidiger der etablierten Parteien unter den Kommentatoren, der sich ‚Passagier‘ nennt, antwortet darauf mit dem, was er wahrscheinlich für den Leibhaftigen hält:

„...wenn man Ihre Formulierungen so liest (...) dann sollten Sie überlegen, ob statt der Linken nicht die MLPD ihre wahre politische Heimat ist ...“

Süddeutsche - historisches Foto des Redaktionsgebäudes in der Münchener Sendlinger Strasse

Danke, Herr Passagier, für die Aufklärung.

Aber auch ein anderer Kommentar hat sehr viel Beachtung gefunden, der von einer Kommentatorin stammt, die sich „Unschuldsvermutung“ nennt:

„Ich bin geborene Münchnerin (Wessi) mit Abitur und Eigentumswohnung und außerdem wertkonservative Katholikin, die (fast) jeden Sonntag in die Kirche geht.

München

Ich wähle die Linke und bin seit kurzem auch Mitglied, weil sie als einzige Partei das christliche Menschenbild und die christliche Soziallehre vertritt (auch wenn ich in der Familienpolitik andere Ansichten vertrete). Die sogenannten christlichen Parteien tanzen ums goldene Kalb und treten die christliche Soziallehre mit Füßen. Die SPD hat alle ihre Grundsätze verraten und ist so charakterlos geworden, dass einem schlecht werden könnte. Die Grünen sind nur noch eine grün angestrichene FDP. Die FDP ist marktradikal und sozialdarwinistisch und daher von vorherein für einen Christen indiskutabel und unwählbar. Die freien Wähler sind - ja was eigentlich ?

Wenn ich mir Sonntags die Predigt anhöre, dann bekomme ich jedesmal bestätigt, dass die Linkspartei die einzige Alternative darstellt, wenn man eine gewissenhafte und christliche Wahl treffen will. Oder um es mal wieder mit dem katholischen Bischof Helder Camara zu sagen: "Wenn ich den Armen zu Essen gebe, nennen sie mich einen Heiligen. Wenn ich danach frage, warum sie in Armut leben, nennen sie mich einen Kommunisten." Dem ist nichts hinzuzufügen.“


Veröffentlicht am 9. Oktober 2008 in der Berliner Umschau


Originalveröffentlichung

Dienstag, 7. Oktober 2008

Die Konjunktiv-Straftat: 'Könnte begehen ...'

4 Verbrecher

Von Karl Weiss

Mit neuen Straftatbeständen will die Bundesregierung nun endgültig den Menschenrechten in Deutschland den Garaus machen. Da war nicht nur Schäuble, der sich für den vorbeugenden Todesschuss gegen mutmassliche Terroristen und für die Aufhebung der Unschuldsvermutung bei Terrorismusverdacht aussprach, da war nicht nur Verteidigunsminister Jung, der offen aussprach, er würde sich nicht an das Verfassungsgerichtsurteil gegen das Abschiessen von entführten Passagierflugzeuen halten und er hätte bereits Luftwaffen-Piloten, die das für ihn besorgen würden, jetzt hat Frau Zypries auch das Einführen neuer Straftaten angekündigt. Die Vorbereitung von schweren Verbrechen soll jetzt strafbar werden, ebenso das Einstellen von Bombenbauanleitungen in das Internet, die Teilnahme an Terror-Camps und das Beschaffen und Vorhalten von Materialien, die für Terroranschläge dienen können.

Beckstein

Bisher sind fast alle Straftaten (mit der Ausnahme der Straftat der „Unterstützung bzw. Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung“, Paragraph 129 a) in Deutschland im wesentlichen eindeutig definiert. Besonders schwere Straftaten, wie z.B. Mord, sind sogar akribisch beschrieben (in diesem Fall in der Abgrenzung zu Totschlag).

Das ist nur natürlich. Wirklich verurteilt soll nur werden, wer genau jene Bedingungen erfüllt, ansonsten fällt er in eine leichtere Kategorie oder geht straffrei aus. Dies ist zwingend Bestandteil der Gesetzgebung jeden Staates, der die allgemeinen Menschenrechte zur Grundlage seiner Gesetzgebung gemacht hat. Wäre es anders, würde man die Straftaten, speziell die schweren Straftaten, nur generell beschreiben und es jedes Mal einem Richter überlassen, ob er den Angeklagten nach diesem oder einem anderen Paragraphen oder gar nicht bestrafen will, wäre dies ein Rückfall in feudalistische oder obrigkeitsstaatliche Zeiten, als die Feudalherren bzw. die „Obrigkeit“ gleichzeitig die Richter waren und nach Gutdünken entschieden. Dann würden Mörder ohne Strafe ausgehen, während leichte Straftaten mit schwersten Strafen belegt würden und Personen, welche das Wohlwollen des jeweiligen Richters haben, gingen straffrei aus.

Allerdings sind auch jetzt bereits Lücken und zu allgemeine Beschreibungen im Strafgesetzbuch enthalten und die Spanne der Möglichkeiten der Bestrafung ein und desselben Delikts sind oft zu weit gefasst.

Filbinger und Kohl

So kommt es auch heute schon zu schreienden Ungerechtigkeiten wie Kohl, Ackermann, Esser und Hartz, die straffrei ausgingen, oder wie die absurden Strafen, die Schill, als er noch Richter war, für kleine Delikte ausgesprochen hat.

Schill beim Koksen

Zudem hat jeder Staat, der als demokratisch eingestuft werden will, die Unschuldsvermutung im Rechtssystem als Grundlage zu respektieren. Jeder Verdächtige hat solange als unschuldig zu gelten – und dementsprechend behandelt zu werden -, bis er rechtskräftig verurteilt ist. Warum das? Weil man ihm das umfassende Recht auf Verteidigung zugestehen will, das er nur in einem ordentlichen Gerichtsverfahren wahrnehmen kann.

Es darf keine Rolle spielen, dass die Polizei ihn festgenommen hat, dass es Hinweise oder sogar konkrete Verdachtsmomente gegen ihn gibt, dass es Belastungszeugen gibt oder dass er ein Geständnis abgelegt und später widerrufen hat. Erst wenn er mit Hilfe eines Fachmanns (seines Rechtsanwalts) das umfassende Recht zur Verteidigung hatte, kann schliesslich ein Richter über seine eventuelle Bestrafung entscheiden. Bis zum eigentlichen Prozess kümmert sich ja in der Regel niemand um die ihn entlastenden Momente. Staatsanwaltschaft und Polizei wollen typischerweise einen Fall möglichst schnell lösen. Erst im Prozess kann zum ersten Mal gezeigt werden, was ihn entlastet.

Meseberg-Tagung Bundesregierung

Warum wurde dies Prinzip der Unschuldsvermutung eingeführt? Weil es unglaubliche Zufälle gibt. Jeder von uns kann durch eine Ansammlung von zufälligen Umständen plötzlich zu einem Verdächtigen werden. Dann werden wir jedes dieser wichtigen Rechte brauchen wie die Luft zum Atmen, um nicht Teil des Heeres der unschuldig Verurteilten zu werden (in den USA schätzen Fachleute, dass mindestens 20% der Gefängnisinsassen unschuldig sind).

Diese Rechtsprinzipien führen natürlich dazu, dass manchmal Täter nicht verurteilt werden, weil man ihnen die Tat(en) nicht einwandfrei nachweisen kann. Der berufsmässige Verbrecher Al Capone in den USA zum Beispiel, zu Zeiten, als die USA noch die Rechte der Verdächtigen repektierten, konnte wegen Beweisschwierigkeiten für eine gute Weile nicht verurteilt werden. Am Ende konnte man ihm nur Steuerhinterzuiehung im umfangreichen Ausmass nachweisen und ihn so schliesslich doch noch ins Gefängnis bringen. Solche Fälle wurden als unvermeidlicher Ausfluss der Anwendung der Menschenrechte in Kauf genommen, ja, die USA brüsteten sich zu jener Zeit sogar damit, dass dort die Menschenrechte ungeteilt gegolten hätten, auch für Verbrecher.

Doch genau von dort, von den USA, ging dann auch die Tendenz zum Abbau dieser Rechte aus, als unter Reagan die Politik der „Zero tolerance“ eingeführt wurde und als nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 alle diese Rechte, zuerst bedingt, später absolut aufgehoben wurden.

Bush

Diese Rechte werden üblicherweise von bestimmte rechten Politikern als „Täterschutz“ verleumdet. Sie wurden auch bei uns schon mehrfach durchlöchert. Der Generalangriff auf alle diese Rechte hat aber erst jetzt begonnen. Unter dem Vorwand der Terrorismus-Bekämpfung sollen sie ausgehebelt werden. Neue Straftaten sollen definiert werden. So hat Justizministerin Zypriess jetzt angekündigt, man werde ein Gesetz einbringen, das „Beschaffung und Vorhaltung von Materialien unter Strafe stellt, mit denen Anschläge begangen werden können.“ Damit ist der Willkür Tür und Tor geöffnet.
  • Verbrecher Nr. 1: Sie, verehrter Leser
    Praktisch jeder hat sich bereits Materialien beschafft und vorgehalten, mit denen Anschläge begangen werden können. Wenn Sie ein Auto haben, so beschaffen Sie sich und halten vor: Benzin und Öl, die beiden Bestandteile für Molotov-Cocktails, mit denen gefährliche Anschläge durchgeführt werden können.
    Wie viele haben das berühmte Teppichmesser, mit dem angeblich die Anschläge des 11. September durchgeführt wurden?
    Überhaupt Messer. Haben Sie etwa keines?
    Und wenn Sie eine Waffe im Haus haben? Sei es mit Waffenschein und Grund. Wer garantiert uns, Sie werden damit keinen Anschlag begehen?
Stasi 2.0

Generell, so fordert Schäuble, müsse die Strafbarkeit von Vorbereitung zu schweren Straftaten eingeführt werden. Hmmm, da kommen wir von Hundertsten ins Tausendste.

Filbinger - Schäuble
  • Verbrecher Nr. 2: Schon wieder Sie, verehrter Leser
    Nehmen wir einmal an, Sie, verehrter Leser, hätten jahrelange Auseinandersetzungen mit ihrem Nachbarn und einmal hätten Sie ihn auch angeschrien: „Ich bring dich um, du Arschloch!“ Unter Zeugen. Dann planen Sie wirklich ernsthaft, ihn umzbringen. Allerdings wollen Sie nicht gefasst werden und entwickeln einen Plan. Unter anderem lassen Sie einen Privatdetektiv hinter ihm herspionieren, um seine Gewohnheiten zu kennen und Sie kaufen eine Pistole. Der Privatdetektiv allerdings bekommt den Eindruck, sie wollten den Mann umbringen und meldet der Polizei, was er weiss. Nach einiger Zeit wird Ihnen klar, Sie würden irgendwie doch gefasst, ihre Wut ist auch schon verraucht und sie führen Ihren Plan nicht aus. Wieviel Jahre Gefängnis hätten Sie wegen Vorbereitung einer Straftat verwirkt?
Merken Sie, in wie schwieriges Gelände man kommt, wenn man Vorbereitungen strafbar machen will?

Und nehmen wir einmal an, Sie wollten den Nachbarn nie umbringen. Der Privatdetektiv lag falsch. Sie vermuteten in Wirklichkeit, ihre Frau würde mit dem Nachbarn schlafen, deshalb hatten sie den Privatdetektiv ih beobachten lassen. Und die Pistole haben Sie beschafft, weil sie Angst hatten, der Nachbar könnte etwas gegen Sie vorhaben.

Merken Sie den Treibsand, in den man kommt, wenn man Vorbereitungstaten strafbar machen will?

Und da soll auch strafbar sein, wenn man sich in Terrorcamps ausbilden lässt.
  • Verbrecher Nr. 3: Omar Mohammed
    Nehmen Sie einmal den Fall von Omar Mohammed, einem Pakistani, der mit 16 von seinen Eltern in ein Camp geschickt wid, wo er den Islam studieren soll. In dem Camp wird nicht nur der Islam gelehrt, sondern auch Nahkampf und der Umgang mit Waffen. Ebenso wird die körperliche Ertüchtigung betrieben. Ein westlicher Geheimdienst bekam einen Hinweis von einer Person, dies sei ein Terrorcamp. Omar blieb 2 Jahre in diesem Camp, bevor er auf der Universität in Islamabad zu studieren begann.

    Unser Mohammed hat zwar nie vorgehabt, Anschläge zu begehen, aber nun ist er gezeichnet, denn kurze Zeit später wird dies Camp von US-Truppen ausgeräuchert, die aus Afganistan über die Grenze kommen und man findet seinen Namen auf den Teilnehmerlisten. Da Omar aber ein schlauer Junge ist, bekommt er nach seinem Bachelor ein Stipendium für einen „Master“ in Deutschland. Kurz danach wird er an der Uni Hamburg aus dem Hörsaal heraus verhaftet. Da man ihm glaubt, er sei nicht unmittelbar in die Vorbereitung eines Anschlages verwickelt, bekommt er nur 4 Jahre Haft wegen Terrorcamp-Ausbildung.
  • Verbrecher Nr. 4: Der Autor
    Und dann gibt es die Fälle der Chemiker, z.B. der des Schreibers dieser Zeilen. Karl Weiss hat in mehreren Artikeln zum Ausdruck gebracht, dass er gegen den Kapitalismus und für den Sozalismus ist, also klarer Fall von „Verfassungsfeind“. Ist bereits unter Beobachtung durch den „Verfassungsschutz“. Dazu kommt noch, er versucht in zwei Artikeln, deutsche Sicherheitskräfte zu widerlegen, zu ironisieren, ja sogar lächerlich zu machen, siehe hier und hier.
Offenbar ein subversives Element! Und Sozialisten sind sowieso das gleiche wie Terroristen, nicht? Dann kommt noch etwas dazu: Nach Angaben eines Geheimdienstes aus dem Nahen Osten wurde er am Madrider Flughafen zusammen mit A.B. gesehen, der auf der Terrorliste der Vereinigten Staaten steht, die mehr als 1 Million Namen umfasst. Eventuell könnten die beiden ein Päckchen ausgetauscht haben.

In Wirklichkeit waren beide nur zusammengestossen und hatten sich gegenseitig entschuldigt, aber der Gewährsman war nicht nahe genug dran, um das zu bemerken.

Nun, angesichts solch deutlicher Indizien, wird Karl Weiss unter ständige Überwachung gestellt. Nun stellt sich heraus, er ist in der Firma, in der er arbeitet, für Bestellungen verantwortlich, die relativ grosse Mengen leicht entzündlicher Flüssigkeiten umfassen, die speziell für kombinierte Spreng- und Brandanschläge geeignet sind. Zwar braucht man dann noch Zünder, um daraus Bomben zu machen, aber die könnte er ja bei dem Treffen mit A.B. bekommen haben. Ausserdem wurde von dieser Firma bereits einmal ein Menge von Waserstoffperoxid bestellt, aus dem man nach Ansicht der Sicherheitsbehörden Sprengstoff machen kann.

Kurz, das Indiziengebäude ist vollständig, es handelt sich um einen gefährlichen Terroristen! Karl Weiss wird bei seiner nächsten Einreise nach Deutschland festgenommen und nach Ägypten überstellt, das für seine effektive Folter bekannt ist, denn man braucht alle Namen der Terrorgruppe.


Veröffentlicht in der Berliner Umschau am 6.10.2008

Originalveröffentlichung

Montag, 6. Oktober 2008

Brasilianische Fussballmeisterschaft auf der Zielgeraden

Extrem ausgeglichene Meisterschaft

Von Karl Weiss

Die Brasilianische Fussballmeisterschaft tritt in ihre entscheidende Phase. Noch 10 Spieltage sind zu absolvieren und 10 (in Worten : zehn) Vereine haben noch eine Chance, die Meisterschaft zu gewinnen, fünf im engeren Kreis und weitere fünf mit nur wenigen Punkten Rückstand. Acht Vereine sind dagegen noch akut vom Abstieg bedroht, ein weiterer noch nicht endgültig gesichert. D.h. von insgesamt 20 Vereinen in der Liga sind 19 noch direkt in den Kampf um die Meisterschaft oder in den gegen den Abstieg involviert, lediglich Sport Recife als 11. ist in einer „neutralen Zone“.


Alle Bilder in diesem Artikel sind von der Libertadores-Begegnung Fluminense -São Paulo im Mai. Adriano spielt heute nicht mehr bei São Paulo, sondern ist zu Inter Mailand zurückgekehrt.

In Wirklichkeit kann Sport rein rechnerisch noch Meister werden oder absteigen, nur kennt man die Stärke der Teams oben und die Schwäche der unten und so kann man diesen Club ausnehmen. Rein zufällig ist es gerade Sport, das dieses Jahr den Pokal gewonnen hat und damit bereits seinen Platz in der „Libertadores“ sicher hat. Im Gegensatz zur Champions Leage kommen in Südamerika auch die Pokalsieger in die Kontinent-Meisterschaft.

Man kann sich kaum erinnern, je eine so ausgeglichene Meisterschaftsrunde in irgendeinem Land gesehen zu haben.

Der letzte Spieltag wird am 7. Dezember sein, wenn alle zehn Begegnungen um 16 Uhr angepfiffen werden. Man kann jetzt schon darauf wetten, dass an jenem Tag noch Entscheidungen in Bezug auf die Meisterschaft und/oder die Plätze in der ‚Libertadores‘ fallen (dem südamerikanischen Gegenstück zur Champions Leage; außer dem Meister kommen noch der zweite, dritte und vierte in die Libertadores), genauso wie zum Abstieg.



An der Spitze stehen punktgleich Palmeiras São Paulo und Gremio Porto Alegre mit 53 Punkten. Palmeiras war seit Beginn der Saison Favorit. Man hatte sich deutlich verstärkt, hatte Anfang des Jahres Wanderley Luxemburgo als Trainer engagiert und die São Paulo-Meisterschaft gegen den São Paulo F.C. gewonnen. Der jeweils von Luxemburgo trainierte Verein stand die ganzen letzten Jahre in Brasilien auf einem der drei ersten Plätze. Zwar hat Luxemburgo bei Real Madrid schon bewiesen, dass er kein guter Trainer ist für Vereine, die nicht die brasilianische Spielweise praktizieren (viele Kurzpässe und Dribblings), ebenso kann er Mannschaften nicht gut auf Gegner einstellen, die nicht so spielen (was er als Trainer der Nationalmannschaft gezeigt hat), aber wenn beide brasilianisch sind, ist er fast unschlagbar.

Zu Beginn der Meisterschaft hatte Palmeiras allerdings eine ausgedehnte Schwächephase und brauchte lange, bis man begann, sich in der Tabelle emporzuarbeiten. Während der Saison aber bekam an der Spitze ein Verein nach dem anderen Schwächeperioden und so schloss Palmeiras bald auf.

Gremio Porto Alegre hatte sich vorher die Tabellenspitze geholt, als der lange führende Verein Flamengo Rio de Janeiro, Brasiliens Club mit den meisten Anhängern, seine Schwächephase bekam. Doch nun ist es Gremio, das diese Schwächephase hat. Man hat letzte Woche in einem Spiel der Südamerika-Meisterschaft (das ist das Gegenstück zum UEFA-Cup) eine 4:0-Schlappe gegen den Lokalrivalen Internacional erlitten.



Auf dem Sprung stehen dahinter mit vier Punkten Abstand (das ist bei zehn ausstehenden Spielen fast nichts) drei Vereine, jeder aus einer der drei grossen Metropolen des brasilianischen Südostens: Der São Paulo F.C., Flamengo Rio de Janeiro und Cruzeiro Belo Horizonte. Vorjahresmeister São Paulo scheint in einer guten Phase zu sein und darf noch als einer der grossen Anwärter auf die Meisterschaft angesehen werden. Flamengo hat sich nach der Schwächephase wieder gefangen, nachdem man grosse Teile der Saison an der Spitze stand und muss ebenfalls noch als ernster Anwärter angesehen werden.

Interessant: Alle diese 5 Vereine ander Spitze haben fast die gleiche Zahl von Toren geschossen: 43, 44, 45 oder 46.

São Paulo hat bereits 10 Unentschieden zu verzeichnen. Das Team ist Spezialist darin, eine drohende Niederlage noch zu vermeiden. Am anderen Ende der Skala steht Cruzeiro: Mit nur 4 Unentschieden in 28 Spielen hat man die Tabellenführung hauptsächlich deshalb verloren, weil man Rückstände nicht versteht in Unentschieden zu verwandeln. Die höchste Zahl von Siegen (das ist das erste Kriterium bei Punktgleicheit) hat Palmeiras mit 16 (von 28 Spielen, ein weiterer Beweis für die Ausgeglichenheit), die geringste Zahl der Niederlagen haben Gremio und São Paulo mit fünf. Gremio hat auch die beste Tordifferenz. Am Ende dürfte mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit entweder Palmeiras, Gremio oder São Paulo vorne stehen.



Hinter diesen ersten fünf stehen noch mit Chancen auf die Meisterschaft: Coritiba aus der paranaensischen Hauptstadt Curitiba mit 44 Punkten, Botafogo Rio de Janeiro, Vitória Salvador und Goiás Goiánia mit 43 und Internacional mit 42 Punkten.

Der Abstiegsstrudel zieht sich vom 12., das ist Atlético Mineiro mit 34 Punkten, über Santos aus der grössten Hafenstadt Südamerikas mit 33 und Figuerense Florianópolis mit 32 hin zu Náutico Recife mit 30 und Atletico Paranaense aus Curitiba mit 28, die alle noch nicht auf einem Abstiegsplatz stehen, aber auch nur wenige Punkte davor, hin zu den vier auf den Abstiegsplätzen: Auf Platz 17 Portuguesa São Paulo (einer der üblichen Verdächtigen Aufsteiger für den Abstieg), auf Platz 18 Ipatinga aus der Stahlstadt in Minas Gerais (auch einer der üblichen Verdächtigen), beide mit 27 Punkten und dann – wer richtig mitgezählt hat, weiss es schon – auf den beiden letzten Plätzen und in höchster Abstiegsnot zwei der vier grossen Rio-Vereine: Fluminense als Vorletzter mit 27 und Vasco als Letzter mit 26 Punkten. Ja, genau jenes Fluminense, das noch im Juni in den Endspielen der Copa Libertadores stand und nur im Elfmeterschiessen verlor.

Das wäre tatsächlich ein Schlag für Rio, wenn beide absteigen sollten. Aber es sind ja noch 10 Runden zu spielen, da kann noch viel passieren. Sollten beide sich noch retten können, würde der Abstieg wohl auf Portuguesa, Ipatinga, Atletico Paranaense und Náutico zulaufen.



Da kommen jetzt eine grosse Anzahl von 6-Punkte-Spielen, die sicherlich extrem interessant sein werden. So treffen am letzten Spieltag zum Beispiel Fluminense und Ipatinga aufeinander und spielen wahscheinlich um den Abstieg, ebenso wie beim Spiel Santos-Náutico, während gleichzeitig das Spiel Palmeiras gegen Botafogo die Meisterschaft entscheiden könnte.

Am fünftletzten Spieltag steigt in São Paulo das Spiel zwischen den beiden jetzigen Spitzenreitern, Palmeiras und Gremio. Das könnte bereits die Vorentscheidung sein

Am 2. November ist das Duell zwischen Fluminense und Vasco angesagt. Wer da verliert, hat gute Chancen abzusteigen. Am gleichen Tag auch Goiás - Cruzeiro. Da dürfte der Verlierer aus dem Meisterschaftsrennen sein.



Wenn Flamengo am 29. Oktober bei Vitória in Salvador antreten muss und dort verliert, könnte der Traum von der Meisterschaft ausgeträumt sein.

Allerdings könnte das gleiche auch auf Vitória zutreffen, wenn es am 23.10. bei São Paulo spielt.

Für Fluminense könnte das Spiel am 11.10. bereits Schicksalspiel sein, wenn man in Curitiba bei Atletico Paranaense antritt. Ein Auswärtssieg – und man könnte an dem Rivalen vorbeiziehen und aus den Abstiegsplätzen herauskommen, eine Niederlage und die Lichter gingen schon fast aus.


Veröffentlicht am 6. Oktober 2008 in der Berliner Umschau

Originalveröffentlichung

Donnerstag, 2. Oktober 2008

Schrecklich! Bolivien auf der 'schwarzen Liste'

Die Lachplatte

Von Karl Weiss

Kaum der Öffentlichkeit bekannt wurde die „Rache“ der US-Regierung für die Ausweisung des Botschafters Philip Goldberg aus Bolivien: Man setzte Bolivien auf die „schwarze Liste“ der Länder, die „ihren Verpflichtungen in der Bekämpfung des Rauschgifthandels“ nicht nachkommen. Schreck lass nach! Welch entsetzliches Schicksal! Wird Bolivien je wieder Licht sehen?

Botschafter Philip Goldberg

Der US-Botschafter in Bolivien, Philip Goldberg, war einschlägig bekannt. Er war schon für die US-Regierung im Kosovo tätig und hat dort auf serbischer und auf albanischer Seite die Gemüter zur Wallung gebracht gegen den scheinbaren Gegner: Die Serben bzw. die Albaner. Er ist ein berufsmässiger Aufwiegler. Er war die Geheimwaffe, die aus den USA nach Bolivien geschickt wurde, um die dortige staatliche Integrität zur Auflösung zu bringen, nachdem der neugewählte Präsident Evo Morales das Wort „Sozialismus“ in den Mund genommen hatte.

Gezielt hat Botschafter Goldberg den Gouverneuren der Tiefland-Staaten im Osten Boliviens, in denen das begehrte Erdgas gefunden wurde, die Unterstützung der USA in ihrem „natürlichen“ Bestreben zugesichert, sich von den überwiegend aus Indio-Nachfahren bewohnten Hochland-Staaten Boliviens abzuspalten und die „Tiefland-Union“ zu gründen.

Wenn ein Staat gespalten werden muss, Goldmann ist Fachmann. Er traf sich im Wochenrythmus mit den Gouverneuren und auch mit Bürgermeistern aus dem zu bildenden neuen Staat, und ließ eine Menge Geld springen, um sogenannte „Milizen“ (‚milicia‘) aufzubauen, die hauptamtlich nichts anderes machen, als die Bevölkerung, soweit sie nicht abspaltungswillig ist, zu tyrannisieren, und dafür gut bezahlt werden, eine Art von SA-Truppe. Mit Evo Morales dagegen traf sich Goldberg nur einmal und nur für ein paar Sekunden, als es unumgänglich war.

Evo Morales

Was im Kosovo so gut funktioniert hat (der Kosovo ist heute ein anerkannter souveräner Staat, obwohl dies allen Völkerrechtsprinzipien widerspricht), ließ sich allerdings nicht so leicht auf Bolivien übertragen.
  • Zum einen gelang es nicht, die von Indios abstammenden Mehrheit zu irgendwelchen Unterdrückungsmassnahmen gegen die überwiegend von europäischen Einwanderern abstammenden Tieflandbewohner zu bewegen.
  • Zweitens zog nur ein Teil der Tieflandbewohner mit. Sehr viele erinnerten sich noch gut daran, dass Bolivien vor den Ergasfunden hauptsächlich von den Einnahmen aus den Minen lebte, die in den Höhenlagen der Anden liegen.
  • Zum dritten gehören die Gouverneure der nach US-Willen abzuspaltenden Staaten alle zur Oligarchie des Landes, die über zwei Jahrhunderte das Volk bis aufs Hemd ausgezogen und ausgebeutet hat und viele der Ärmeren vergassen das nicht so schnell.
  • Viertens schliesslich: Alle Anliegerstaaten Boliviens, das sind Peru, Brasilien, Paraguay, Argentinien und Chile, traten vom ersten Moment an eindeutig gegen jede Veränderung der Staaten oder Staatsgrenzen in Südamerika an. Brasilien und Argentinien sicherten Morales in den kritischen Tagen des Putschversuchs der Gouverneure sogar Truppen zu, falls er sie anfordern würde.
Morales und Lula in Santiago

So wurde nichts aus dem Putsch und statt einem nagelneuen Tiefland-Staat hat Bolivien einen gestärkten Präsidenten, der sich durchgesetzt hat. Schade für die US-Regierung! Dazu noch die Blamage mit dem heimgeschickten Botschafter!

Da war natürlich eine scharfe Bestrafung fällig.

Wie ist es nun mit dem Rauschgifthandel in Bolivien? Tatsächlich – da beisst die Maus keinen Faden ab – wird in Bolivien in nicht unbedeutendem Umfang die Coca-Pflanze angebaut, aus deren Blättern man Cocain (Kokain) und daraus auch „Crack“ gewinnen kann. Nur – die baut man schon seit vorkolumbianischen Zeiten an und die Nachkommen der Indios (und nicht nur sie ) kauen Coca-Blätter und man macht dort einen wohlschmeckenden Tee daraus. Wird Coca auf diese Weise zu sich genommen, so hat es eine angenehme, leichte beruhigende und schläfrig machende Wirkung. Zu Halluzinationen reicht es nicht (Diese Beschreibung hat der Berichterstatter von einem, der den Tee selbst probiert hat).

Übrigens war das US-Symbol-Produkt Coca Cola am Anfang auch mit einem Sud dieser Blätter angereichert, daher der Name. Erst als Kokain in den Zwanziger Jahren plötzlich als hochkonzentriertes Rauschgift auftauchte, verbannte man dies aus dem Cola. Kokain hat ganz andere Wirkungen als der Coca-Tee: Es führt, inhaliert durch die Nase, zu Hochgefühlen, zu Allmachtsgefühlen und zu Aggressivität.

Angeblich sollen auch geringe Mengen des in Bolivien angebauten Coca zu Kokain verarbeitet worden und ausser Landes geschmuggelt worden sein, aber das ist erwiesermassen bestenfalls ein verschwindend geringe Menge. Weit über 95 % des Kokain der Welt kommt aus Kolumbien und Peru, zwei Ländern, die „unerklärlicherweise“ trotz starker Dollarunterstützung einfach nicht in der Lage sind, den Kokain-Fluss auch nur geringfügig zu verringern. Und die CIA, ich schwöre Ihnen, hat garantiert nichts mit diesen Tatsachen zu tun, die CIA ist eine ehrenwerte Organisation! Ausserdem ist es eine unverschämte und freche Lüge, in Kolumbien gäbe es fast so viel US-Agenten wie Einwohner!

Die Antwort von Evo Morales, nachdem ihm die Hiobsbotschaft überbracht wurde, Bolivien sei auf die „schwarze Liste“ gesetzt worden und damit würde das Land keinen Dollar der „Hilfe gegen den Rauschgiftschmuggel“ mehr erhalten, war: Dass sei nicht schlimm, denn 90% dieser Summe sei sowieso in Form von Aufträgen für US-Firmen „geschenkt“ worden.

Und nun kommt die Lachplatte: Halten Sie sich fest! Die „schwarze Liste“ der Länder, die nicht genügend gegen den Rauschgifthandel unternehmen, hier ist sie:

Aus Südamerika:

Brasilien, Kolumbien, Ecuador, Paraguay, Peru und Venezuela – und jetzt natürlich auch Bolivien.

Nun, Brasilien, Kolumbien und Peru stehen da völlig zu Recht, denn der Grossteil des Kokain, das die CIA aus Kolumbien und Peru auf den Weg in die Staaten und nach Europa bringt, wird über brasilianischen Boden hinausgeschmuggelt, siehe hierzu auch den Artikel über SIVAM, hier: http://karlweiss.twoday.net/stories/5159665/

Venezuela und seit letztem Wochende auch Ecuador und jetzt eben auch Bolivien haben Präsidenten, die bereits das Wort „Sozialismus“ in den Mund genommen haben, also? Ist das nicht Begründung genug?

Wie das arme Paraguay dahin gekommen ist, bleibt im dunkeln.

Aus Nordamerika und der Karibik:

Mexiko, Guatemala, Panama,Haiti, Jamaika, Dominikanische Republik und Bermudas

Die Bermudas und Panama sind zwar rein formal souveräner Staaten, dort herrscht aber faktisch US-Recht. Wieso da die US-Regierung nicht einfach aktiv wird, ist unverständlich (oder vielleicht verräterisch?)

Aus Afrika:
Nigeria

Aus Asien:

Afghanistan, Birma, Indien, Laos, Pakistan,

Und China? Und China? Diese Frage will nicht aufhören.

Afghanistan??? Afghanistan???

Hier ein Kommentar dazu von einer Leserin der „Süddeutschen“ unter dem Artikel, der hierüber informiert: „Elynittria“ schreibt u.a.:

„Lachen musste ich zu lesen, dass Afghanistan auf der Liste steht, eingedenk der Tatsache, dass die Amis den Drogenanbau und Vertrieb dort absichern.“

Als kleine Anmerkung noch: Über 80% der weltweiten Produktion von schweren illegalen Drogen wie Heroin, Kokain, Opium und einige andere werden in folgenden Ländern konsumiert: Vereinigte Staaten von Amerika, China, Japan und Europäische Union.

Veröffentlicht am 2. Oktober 2008 in der Berliner Umschau

Originalveröffentlichung

Mittwoch, 1. Oktober 2008

Zwei politische Erdrutsche

Es wird nicht mehr so sein wie früher

Von Karl Weiss

Zwei politische Erdrutsche an zwei aufeinanderfolgenden Tagen! Der Berichterstatter hatte bereits in einigen Artikeln bewegte und interessante Zeiten vorausgesagt, aber das übertraf doch alles seit 9/11.

Beckstein

Sonntag: Eine der großen politischen Parteien in der Bundesrepublik verliert in der bayerischen Landtagswahl über 17 Prozentpunkte an Wählern (in Zahlen: 800 000 Wähler) in einer Legislaturperiode! Gegenüber den Ergebnissen der Bundestagswahl 2005 (also der letzten Wahl in Bayern vorher) verliert die CSU sogar 1,5 Millionen Wählerstimmen!

Montag: Der vom Präsidenten vorgelege und von ALLEN Parteiführern und den Präsidentschaftskandidaten BEIDER Parteien empfohlene Plan, den Finanzinstitutionen in den USA Hunderten von Milliarden Steuergelder in den Rachen zu werfen, wird in einer noch nie gesehenen Rebellion der einfachen Abgeordneten gegen ihre Parteiführer abgelehnt. Die Reaktion der Wall Street: Der Dow Jones Aktienindex, der bei weitem wichtigste der Welt, verliert an einem einzigen Tag über 777 Punkte, mehr als je zuvor. Vor allem aber bedeute dies: Verluste der Werte der dort gelisteten Gesellschaften in nie gekanntem Ausmaß: 1.2 Billionen Dollar an einem Tag!

Bush

Auf den ersten Blick haben diese beiden „land-slides“ nichts miteinander zu tun und tatsächlich ist der Zusammenhang nur indirekt. Aber es gibt einen gemeinsamen Nenner: Das kapitalistische System hat ausgedient. Es geht seinen letzten Tagen entgegen. Im ersten Erdrutsch kommt dies in der Abwendung der deutschen Bundesbürger von den bürgerlichen Parteien zum Ausdruck. Im zweiten Erdrutsch kommt dies zum Ausdruck im extremen Druck der Bevölkerung der USA auf die Abgeordneten, dies 700 Milliarden-Dollar-Geschenk für jene, die Schuld sind an der Krise, nicht durchzulassen, auch und nicht zuletzt, weil es allen vorher gepredigten Prinzipien widerspricht.

Reden wir zunächst von der deutschen Situation:

Die massiven Einbrüche der CSU in Bayern haben natürlich auch regionale Gründe, aber das riesige Ausmaß lässt sich so nicht erklären. In der ganzen Zeit des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland hat es nie seine solche Wahlschlappe gegeben. Deutlich wird dies auch daran, dass die Schwesterpartei CDU bei den Kommunalwahlen in Brandenburg am gleichen Tag ebenfalls massiv Einbußen hinnehmen musste.

Man stelle sich vor: Bei den Umfragen vorher war das schlechteste Ergebnis für die CSU 47% der abgegebenen Stimmen. Das wurde bereits als Katastrophe angesehen. In Wirklichkeit sackte man aber auf 43% ab. Die Kaffeesatzleser von den Umfrageinstituten sind angesichts solcher Pleiten sprachlos.

Das geradezu sensationelle an diesem Wahlergebnis wird aber speziell dann klar, wenn man fragt, wieviel von diesen Stimmen denn zur anderen „großen Volkspartei“, der SPD gingen. Antwort: praktisch keine. Die SPD, die bereits bei den letzten Wahlen Hunderttausende von Wählern verloren hatte, erhielt in Bayern ihr schlechtestes Ergebnis in Zeiten der Bundesrepublik mit 18,6 % der abgegebenen Stimmen. Es gab Städte wie Kempten und Lindau, wo die SPD nur noch viertstärkste Kraft ist.

Zusammengefasst: Die beiden früheren großen Volksparteien CSU (im Fall Bayern) und SPD haben noch gerade soviel Stimmen bekommen wie in der vorherigen Wahl die CSU allein.

Mit anderen Worten: Die Zeiten, als es in der deutschen politischen Landschaft zwei „grosse Volksparteien“ gab und daneben noch eine oder einige wenig bedeutenden kleinere, sind vorbei.

Die Abkehr von den bürgerlichen Parteien in Deutschland kommt in einigen Wahlen vor allem im Einbruch der Wahlbeteiligung zum Ausdruck, in anderen speziell in massiven Stimmenverlusten der SPD, in weiteren in deutlichen Rückgängen bei FDP und/oder den Grünen, aber generell gibt es seit Beginn der großen Koalition fast immer die Ergebnisse, die speziell negativ für SPD und/oder CDU/CSU sind.

Zur gleichen Zeit taucht die neu erstandene „Linke“ fast immer bei den Gewinnern auf. In Bayern hat sie auf Anhieb über 461. 000 Stimmen bekommen, wenn dies auch noch nicht für den Einzug in den Landtag ausgereicht hat.

In anderen Worten: Es gibt in Deutschland einen generellen Linkstrend. Im Gegensatz zu Österreich gibt es keine deutliche Tendenz zu extrem rechten Parteien.

Womit wir nun zu den Ereignissen in den USA kommen:

Die Hilfe für die Täter (die Finanzinstitutionen)statt für die Betroffenen (die Bürger, die ihr Haus verlieren) war so klar und deutlich, dass selbst der an extrem kapitalistische Verhältnisse gewöhnte US-Bürger begann zu rebellieren. Wie CNN am Montagabend berichtete, hat eine Website gegen diesen „bailout plan“, wie er dort genannt wird, die erst am Sonntag ins Netz gestellt wurde, innerhalb 24 Stunden 100 000 Unterschriften gegen dies Vorhaben gesammelt.

Capitol, Washington (DC)

Ein Teil der Abgeordneten, der noch das Ohr am Puls des Volkes hat, war sich bewusst: Man würde ihn in seinem Wahlkreis zerreissen, wenn er dem zustimmen sollte. So gab es parteiübergreifende Kontakte und die überwiegende Mehrheit der republikanischen Kongressabgeordneten zusammen mit einer bedeutenden Minderheit von demokratischen vereinbarten, gegen das Projekt zu stimmen und taten dies.

Der Präsident der Vereinigten Staaten, beide Präsidentschaftskandidaten und alle – ohne Ausnahme – „leader“ der beiden Parteien hatten die Annahme des Plans empfohlen. Das Argument war: Man müsse verhindern, dass die Krise der Finanzinstitutionen auf die Realwirtschaft im Lande übergeift. Sonst sei mit massiven Werksschliessungen und steil ansteigender Arbeitslosigkeit zu rechnen. Allerdings hat diese Argumentation einen Haken, den schnell Viele bemerkten: Alle Protagonisten des Plans weigerten sich zu garantieren, dies Übergreifen auf die Realwirtschaft werde mit der Annahme des Plans auf keinen Fall eintreten.

Barack Obama

Das hat einen einfachen Grund: Es wird in jedem Fall zu einer Wirtschaftskrise (also einer Krise der Realwirtschaft) kommen. Die hat nämlich als Ursache nicht das Übergreifen von Problemen der Finanzwirtschaft, sondern es ist eine Überproduktionskrise. Es werden weit mehr Güter angeboten als die Arbeiter kaufen können, denn sie erhalten fast keine Lohnerhöhungen und es bleiben viele Güter unverkauft. Es müssen die Produktionskapazitäten heruntergeschraubt werden. Viele Entlassungen, weitere Lohnkürzungen. Das ist das Einmaleins des Kapitalismus, wie es bereits Marx vor über 100 Jahren dargelegt hat.

Nun mögen die US-Bürger und die Abgeordneten keinen Marx gelesen haben, aber sie haben ein Gespür für die Dinge und sie spüren richtig. Mag am Donnerstag oder irgendwann vielleicht noch eine Mehrheit für den „bailout plan“ in irgendeiner Form zusammenkommen, der Gang in die Wirtschaftskrise ist vorgezeichnet - sie hat sogar schon begonnen.

Auf jeden Fall: In Deutschland wie auch in den Vereinigten Staaten wird nichts mehr so sein wie vor diesen zwei denkwürdigen Tagen: 28. und 29 September 2008.


Veröffentlicht am 1. Oktober 2008 in der Berliner Umschau

Originalveröffentlichung

Montag, 29. September 2008

Zwei Marionetten

Die erste Debatte der beiden Präsidentschaftskandidaten in den USA

Von Karl Weiss

Der Berichterstatter hat sich der unangenehmen Aufgabe unterzogen, die erste Debatte zwischen den beiden Kandidaten McCain und Obama live und unmittelbar in der Originalsprache zu verfolgen. Dabei half natürlich, dass man hier in Brasilien eine ähnliche Zeitzone hat wie dort in den Vereinigten Staaten, denn von Deutschland aus hätte man um 3 Uhr morgens einschalten müssen.

Barack Obama

Was sind die wesentlichen Lehren, die man aus dieser Debatte ziehen kann?
  • Die Unterschiede zwischen den beiden Programmen sind minimal, etwa so wie jene zwischen Steinmeier um Merkel. Zwar gibt es Punkte, in denen die beiden deutlich verschiedene Meinungen darlegten, aber die sind völlig untergeordnet, wie z.B., ob der US-Präsident persönlich an Verhandlungen mit „bösen Buben“ teilnehmen soll oder nicht.
  • Was sind die wesentlichen und wichtigen übereinstimmenden Punkte, die aus den Stellungnahmen hervorgingen?

    Beide sind vor allem um die Vormachtstellung der USA als alleinige Supermacht besorgt. Sie wollen und werden alles tun, um diese zu erhalten. Zwar wollen und werden sie dies nicht in der gleichen Manier wie Bush junior tun, aber alle Änderungen sollen eben genau dazu dienen, diese Vorherrschaft nur noch intensiver zu sichern.
  • Sie sind beide Repräsentanten des Imperialismus, in diesem Fall des US-Imperiums. Sie haben kein anderes Bandmaß als das der absoluten Vorherrschaft der USA über den Rest der Welt. Dies ist so absolut, dass sie dies kaum selber bemerken in seiner absurden Extremität.

    Beide Kandidaten sind, wie fast immer bei bürgerlichen Politikern, Aushängeschilder von „Beratern“ und „Gönnern“, die im Hintergrund bleiben. Sie sind keine eigenständigen Personen in dem Sinne, dass sie je in der Lage wären, eine eigenständige (und eventuell unterschiedliche) Position zu artikulieren. Sie können mit Fug und Recht als Marionetten bezeichnet werden.

    Sie mögen zwar privat eigene Meinungen haben, aber sie sind in der Öffentlichkeit darauf gedrillt, die abgesprochenen Programme zu repräsentieren. Beide tun dies eloquent, aber ohne eine spürbare innere Anteilnahme.

    Dies wurde vor allem deutlich, als der Moderator mehrmals insistierend fragte, ob und inwieweit denn das Programm von Hunderten von Milliarden Dollar der Hilfe für „notleidende“ Banken und Finanzinstitutionen, das in jenem Moment in den Einzelheiten verhandelt wurde, die Regierungsprogramme beeinflussen würde. Beide gaben zwar zu, die finanziellen Möglichkeiten würden verringert, konnten aber keine klare Auskunft geben, wo man denn streichen solle und wolle und wieviel.
Barack und Michelle Obama im Wahlkampf
  • Beeindruckend auch, wie beide Kandidaten gezwungen sind, die grossen Lebenslügen der US-Gesellschaft nachzukauen. Das beginnt bei der ersten grosssen Lebenslüge, die Obama besonders liebt, der angeblichen Aufsteigsmöglichkeit vom Tellerwäscher zum Millionär, wenn man es nur will und sich anstrengt. Dass dies für 99,99% der Tellerwäscher nicht gilt, will man nicht wahrhaben. Obama stellt sich selbst gerne als solch ein Beispiel hin. Nur bestätigen Ausnahmen immer einfach die Regel.

    Die zweite grosse Lebenslüge ist, die USA wäre eine Demokratie und würde überall auf der Erde versuchen, die Demokratie einzuführen. In Wirklichkeit ist die USA unter allen westlichen Ländern das am wenigsten demokratische, wenn man unter Demokratie im wesentlichen die Gültigkeit der allgemeinen Menschenrechte versteht. Ein grosser Teil der Militärdiktaturen der letzten 100 Jahre wurden von den USA „inspiriert“ und/oder von Söldnern/Freunden der US-Regierung durchgeführt. Es lässt sich kaum etwas noch weniger demokratisches vorstellen wie die USA. Interessant auch, dass ein kleiner Zipfel dieser Diskussion in der Debatte aufkam, als Obama den Republikanern vorwarf, den (kürzlich zurückgetretenen) pakistanischen Militärdiktator Musharraf zu seinem Putsch animiert und ihm Hlfestellung gegeben zu haben. McCain verneinte dies keineswegs, sondern sagte, zu jener Zeit sei Pakistan ein „failed state“ gewesen (und damit sei ein Militärputsch wohl gerechtfertigt). So einfach ist das mit dem „Verbreiten der Demokratie“: Definiert man ein Land nach eigenem Gutdünken als „nicht funktionierendem Staat“, dann muss es sich leider, so leid es uns tut, eine Militärdiktatur gefallen lassen.

    Schliesslich die dritte Lebenslüge der US-Gesellschaft: Es sei keineswegs das inperialistische Interesse an Dominanz, in diesem Fall über die ganze Welt, die zu völkerrechtswidrigen Überfällen auf andere Länder und Genoziden wie im Irak führt, nein, es ginge um den Kampf gegen den Terrorismus, wie in Afghanistan und dem Irak bzw. um Verhindern von „ethnischen Säuberungen“, wie im früheren Jugoslawien. Nur sind in allen diesen Fällen die Begründungen bereits widerlegt, auch wenn die Kandidaten sie immer erneut auftischen, so als ob das nicht so sei. Auch hat man keinerlei Probleme mit ethnischen Säuberungen, wenn sie von Israel durchgeführt werden.
  • Beide wiederholten im ersten Teil der Debatte immer wieder die Punkte ihres ökonomischen Regierungsprogramms, so als ob die vergangene Woche mit einem Beinahe-Zusammenbruch des gesamten weltweiten Finanzsystems nicht stattgefunden hätte. Beide geben zwar an, in die Verhandlungen über das Paket der Hilfe für die notleidenden Banken und Finanzinstitutionen einbezogen zu sein, konnten aber keinerlei Angaben über den Verhandlungsstand machen. Sie wiederholten nur ihre Positionen hierzu, im gleichen Wortlaut wie 4 Tage vorher. Beide stellten dies Programm so dar, als ob nun zwar Geld ausgegeben würde, nur später, wenn die Krise ausgestanden sei, käme dies wieder in die Kassen zurückgeflossen. Das ist aber bekannterweise grossenteils eine Illusion. Daraus ergibt sich, was beide im zweiten Teil der Debatte über die Aussenpolitik sagten: Es wurde nicht im geringsten über Einschränkungen der Rolle der USA als weltweiter „Polizist“, über Verringerungen der Präsenz im Ausland gesagt
  • Entweder haben beide nicht begriffen, was der Ausbruch einer von den USA ausgehenden Wirtschaftskrise bedeutet oder sie versuchen den Wähler darüber zu täuschen, beide in gleichem Masse.

    Zwar sagte Obama am Anfang, die USA ständen vor einer „Rezession“ (das verniedlichende Wort der bürgerlichen Ökonomen für die Wirtschaftskrise), der grössten seit der „grossen Depression“ (das war die Wirtschaftskrise, die 1929 begann und sich bis zum Ausbruch des zweiten Weltkriges 10 Jahre später hinzog) und McCain bestätigte, man stehe vor der grössten Krise, seit er lebe („und ich bin schon ziemlich lange auf der Welt“), ja, er legte sogar noch einen drauf und sagte, man stehe mit dem 700-Milliarden-Dollar-Hilfsprogramm keineswegs am Anfang des Endes der Krise, sondern nur am Ende des Anfangs. Doch wenn es um die Lehren daraus ging, war völlige Leere. Beide wiederholten das ökonomische und aussenpolitische Programm, das bereits auf beiden Parteitagen im August vorgestellt worden war.

    Es war eine fast unglaubliche Szene, als der Moderator der Debatte drei Mal nacheinander fragte, was die Kandidaten denn nun aus ihrem Programm an Ausgaben streichen würden und dreimal von beiden keine vernünftigen Antworten bekam. Anscheinend haben die ‚Berater’ der beiden noch keine Zeit gefunden, die Programme den neuen Gegebenheiten anzupassen und so blieben beide in ihren Worthülsen stecken und konnten nicht mehr vor noch zurück.
Was ist wirklich der entscheidende Punkt der beginnenden Wirtschaftskrise für die USA? Die sich bildende Dollarblase wird platzen. Im Moment strömt vagabundierendes Kapital in den traditionell sichersten Hafen: AAA! Dollar-Bonds! Anleihen der Regierung der Vereinigten Staaten! Das hat der Abwärtsbewegung des Dollar halt geboten und führt zeitweise sogar zu einem Anstieg des Dollar-Kurses. Aber dies ist angesichts der Überproduktionskrise in den Vereinigten Staaten nichts als eine Blase.

Und was lernt man von Seifenblasen? Sie mögen wunderschön schillern, sie mögen sogar für eine ganze Zeit gross und grösser werden. Doch immer kommt der Moment, in dem sie platzen.

Genau das wird dem Dollar passieren, zu irgendeinem Zeitpunkt dieser Krise. Und das wird die Funktion des Dollars als Welt-Leitwährung beeinträchtigen oder ihn sogar ganz von diesem Thron stossen. Je nachdem, wie tief der Dollar dann fallen wird, wird die alleinige Supermacht USA entweder stark in ihren internationalen Ambitionen beschränkt oder sie wird zusammenschrumpeln zu einer von mehreren Weltmächten oder wird im Extremfall sogar nur noch eine regionale Grossmacht sein, so wie es mit Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geschah.

Dies alles ist den Kandidaten entweder nicht klar oder sie wollen es einfach nicht wahrhaben oder sie täuschen die Wähler bewusst darüber. Beide stellten die Vergangenheit dar und waren noch nicht in der Gegenwart angekommen. Beide waren sich einig, nicht einen Cent von den Militärausgaben zu streichen. Beide stimmten darin überein, die aus dem Irak abzuziehenden Truppen nun nach Afghanistan zu schicken. Obama fragte nicht einmal nach, wohin denn die Milliarden im Irak verschwunden sind.

Beide drohten dem Iran, Russland (das angeblich Georgien überfallen hat), China, Nord–Korea und Syrien, erklärten, ein Zurückrudern aus den Konsequenzen der „orangenen Revolution“ in der Ukraine könnte nicht hingenommen werden, sowohl die Ukraine als auch Georgien könnten in die NATO aufgenommen werden, sobald sie die Voraussetzungen erfüllten (was bedeutet, Georgien muss erneut seine abtrünnigen Provinzen überfallen und die Ukraine muss die russische Flotte aus Sewastopol vertreiben).

Beide sagten, sie wollten nicht zurück zum kalten Krieg, erklärten aber nicht, wie das funktionieren soll, wenn man Russland als Diktatur bezeichnet (Russland ist nicht mehr Diktatur als die USA) und als absolut Böses hinstellt wie einst Reagan die Sowjetunion. Obama kündigte noch eine Spezialbehandlung von Hugo Chávez an, was auch nur als Drohung verstanden werden kann. Er gab ebenso eine offene Drohung an Pakistan ab: Wenn die neue Regeirung dort nicht mit den Rückzugsräumen der Taliban in jenem Land aufräume, würde man auch Pakistan angreifen (was Bush ja in Wirklichkeit schon tut).

Allerdings sind die Zeiten bereits vorbei, als die US-Regierung nur zu drohen brauchte und alle mussten wohl oder übel folgen oder wurden mit völkerrechtswidrigen Kriegen überzogen.Schon heute kann man nicht mehr als einen Krieg zur gleichen Zeit führen, ohne in ernsthafte Schwierigkeiten zu kommen, wie im Moment in Afghanistan. Schon heute muss man zähneknirschend hinnehmen, dass eine Anzahl von Staatschefs einfach nicht mehr den USA gehorchen und damit bis auf weiteres davonkommen. Der Status der alleinigen Supermacht der USA ist bereits heute mit Einschränkunungen zu versehen – wie sehr dann erst, wenn die Krise ihren Höhepunkt erreichen wird.

Ja, in den Vereinigten Staaten werden eine Menge der „Führer“ noch einiges lernen müssen, bis sie in ihre neue Rolle hineinwachsen können.


Veröffentlicht am 29. September 2008 in der Berliner Umschau

Originalveröffentlichung

Sonntag, 28. September 2008

Brasilien jenseits von Fussball und Samba, Teil 13: Wie unsere Zukunft in der beginnenden kapitalistischen Barbarei aussähe

'Ich habe kein Leben'


Von Elmar Getto


Ein erschütterndes Dokument über das Leben im Kapitalismus (oder eigentlich schon in der kapitalistischen Barbarei): Ein 12-jähriger in Rio de Janeiro wird von der Polizei festgenommen und verprügelt. Er hat beim Drogenhandel geholfen und ist Schmiere gestanden, als die Drogenhändler einen Polizisten umbrachten. Der Reporterin, die ihn auf der Polizeistation befragt: „Warum bist du in dieses Leben eingestiegen?", sagt er: „Ich habe kein Leben." Und „Das war meine einzige Möglichkeit zu überleben."

Brasilien (topographisch)

Wie wird es aussehen, wenn es uns nicht gelingt, den Kapitalismus zu besiegen und den wahren Sozialismus zu errichten, wenn der Kapitalismus in die kapitalistische Barbarei übergehen wird? In einigen Entwicklungsländern, so wie in Brasilien, kann man jetzt schon sehen, was kapitalistische Barbarei IN DEN ERSTEN ANSÄTZEN heißen würde:

In wesentlichen Teilen des Landes herrscht nicht mehr die Staatsmacht, sondern eine Doppelherrschaft zwischen Staatsmacht und kriegsmäßig bewaffneten, mafiaähnlichen Banden, die sich vor allem durch Drogen-, Frauen- und Waffenhandel finanzieren. Der Drogenkonsum (illegale Drogen) hat sich tief in die Gesellschaft eingeführt, vor allem die Unterdrückten versuchen ihre elende Lage im Rausch zu vergessen, aber auch die Droge der Schickeria, Kokain (auch in Form von Crack), spielt eine bedeutende Rolle. Nicht einmal mehr ein Viertel der Einwohner hat dort regelmäßige bezahlte Arbeit.

Dies sind Zustände, wie sie in Brasilien schon heute in bestimmten Teilen herrschen. Besonders in der größten Stadt der südlichen Hemisphäre, São Paulo, und in Rio de Janeiro ist dies bereits für einen wesentlichen Teil der Bevölkerung Realität. In Rio auf den Hügeln, in Sâo Paulo an der Peripherie.

São Paulo, grösste Stadt der südlichen Hemisphere

In den Armenvierteln, den sogenannten Favelas, herrschen 60, 70, 80, 90% Arbeitslosigkeit bei den Männern und männlichen Jugendlichen. Die einzige Aussicht für die meisten ist, den kriminellen Banden beizutreten, Drogen zu verkaufen und Hilfsdienste zu leisten. Die Polizei, schlecht bezahlt und in lächerlicher Weise unterbewaffnet gegenüber den Kriminellen, die über jede Art von Kriegswaffen verfügen, hat keine wirkliche Kontrolle mehr über diese Regionen, denn sie kann dort nur noch in großer Anzahl bei seltenen „Suchaktionen" auftreten, die üblicherweise von den lokalen Politikern als Beweis ihrer phantastischen „Bekämpfung der Kriminalität" angeordnet werden.

Die Polizei ist zudem - ständig in Angst, selbst erschossen zu werden - völlig brutalisiert und schießt auf alles, was männlich ist und sich bewegt (das mit dem Männlich ist dabei nicht unbedingt notwendig).

Die kriminellen Banden sind völlig skrupellos, wenn jemand eine erhaltene Droge nach dem Weiterverkauf nicht oder nur teilweise bezahlt. Derjenige wird ohne Ausnahme liquidiert. Dabei macht man sich nicht immer die Mühe, ihn allein abzupassen, sondern erschießt ihn auch schon mal in aller Öffentlichkeit und dann auch gleich alle anderen Umstehenden, um keine Zeugen übrig zu lassen. Z.B. so kommen im heutigen Brasilien Zahlen zustande wie die 40 000 Ermordeten pro Jahr, die höchste Zahl von Morden aller Länder (wenn man in diesem Fall einmal den Irak ausnimmt - aber selbst dort hat man Schwierigkeiten, auf 40 000 Ermordete zu kommen).

Rio de Janeiro Botanischer Garten 1

Der Schreiber dieser Zeilen hat Jahre in Barueri an der Peripherie von São Paulo gelebt und dort abends die Maschinenpistolensalven gehört, wenn solche Massaker angerichtet wurden. Ein Bekannter von ihm wurde bei einem erschossen. Als er später in Rio de Janeiro lebte, konnte man in manchen Nächten Schnellfeuergewehr- und Maschinenwaffen-Feuer hören, wenn sich verschiedene der Banden bekämpften oder ein Feuergefecht mit Polizisten stattfand.

Die Polizisten versuchen so lange wie möglich zu überleben in dieser Situation und nehmen kleine Bestechungsgelder an, hauptsächlich um damit den Führern der kriminellen Banden zu signalisieren, daß sie nichts von ihnen zu befürchten haben. Aber immer, wenn ein Polizist im Verdacht steht, irgendeine eventuell gefährliche Information weitergegeben zu haben, wird er von den Unterführern der Kriminalität zum Tode verurteilt und ein Hinrichtungskommando wird abgestellt, um das schmutzige Geschäft durchzuführen.

Das war auch in diesem Fall so. Ein Polizist wurde im vergangenen Mai in Niteroi, Großraum Rio de Janeiro, ermordet von einem Kommando der kriminellen Organisation der Favela, wo er zuständig war. Wie oft üblich, wurden von der kriminellen Bande, in diesem Fall den ‚Herrschern’ des ‚Morro do Estado’ in Niteroi, dabei auch Kinder mit in das Verbrechen einbezogen. Dadurch hat man diese später als Jugendliche in der Hand, denn man kann sie ja jederzeit der Polizei ausliefern und so schafft man sich vor Angst schlotternde Untergebene, die selbst die unmenschlichsten Befehle ausführen.

Rio de Janeiro, Zuckerhut und Corcovado von Niteroi aus

In diesem Fall wurde ein 12-jähriger Junge einbezogen, der gelegentlich für 20 Real (7,50 Euro) pro Tag als Verkäufer von Kleinmengen von Marihuana an bekannten Punkten in der Nähe der Favela für die Drogen-Mafia arbeitet (daß wir auch in Deutschland bereits auf diesem Weg sind, kann uns jeder Ein-Euro-Jobber bestätigen. Zwar sind die hiesigen „Arbeitgeber" offiziell noch keine kriminellen Organisationen, aber z.B. schon politische Parteien, was ja auch nicht sehr unterschiedlich ist). Der Junge wurde abkommandiert, Schmiere zu stehen beim Mord an jenem Polizisten. Dabei kam es zu einem Feuergefecht, bei dem sowohl der Polizist als auch einer der Mordbuben getötet wurden.

Wer sich in etwa ein Bild machen will, wie man sich das Leben und die Zustände in einer Favela vorzustellen hat, kann sich das Stück oder eine der beiden Verfilmungen „Orpheu Negro" ansehen, ein Meisterwerk des brasilianischen Dichters und Schriftstellers Vinicius de Morais, heute leider schon verstorben, der u.a. auch das Gedicht (Text) des weltbekannten Liedes „Garota de Ipanema" („The Girl from Ipanema") geschrieben hat. Zwar ist diese Beschreibung schon Jahrzehnte alt, damals gab es diese Zustände erst in wenigen begrenzten Gebieten und die unglaubliche Brutalität der heutigen Zustände deutete sich erst an, aber das Prinzip bleibt das gleiche.

Die Polizei reagiert auf Polizistenmorde üblicherweise nicht damit, daß die Täter gefunden und der Justiz übergeben werden, sondern mit Rache-Unternehmen gegen diejenige Favela, die als Urheber des Mordes angesehen wird.

Im März dieses Jahres wurde ein Massaker bekannt, das Polizisten, die nicht im Dienst waren, in einer Favela in der ‚Baixada Fluminense’ angerichtet haben, ein anderer Bereich von Groß-Rio-de-Janeiro. 30 Personen wurden abgeschlachtet, einschließlich Frauen und Kinder, wahllos, offenbar weil die Polizisten eine Riesenwut hatten.

Es wurde in diesem Fall nicht aufgeklärt, ob es wiederum um einen Racheakt für einen Polizistenmord gehandelt hat oder ob die Angabe der Täter stimmt, sie seien erbost über eine unpopuläre Maßnahme eines ihrer Vorgesetzten gewesen.

Zuckerhut von der Botafogo-Bucht aus

Tatsache ist, daß die Täter, obwohl sie bereits innerhalb kurzer Zeit identifiziert werden konnten, bis heute keinerlei irgendwie geartete Strafe gefunden haben. Zwar wurden sie wegen des internationalen Aufsehens, das jenes Massaker hervorrief, für kurze Zeit in ein speziell für Polizisten vorgesehenes Gefängnis eingesperrt, aber sofort wieder freigelassen, als die internationale Aufmerksamkeit nachließ. Bis heute tun sie ihren Dienst in der Polizei und bis heute liegt gegen keinen von ihnen eine Anklage vor.

Die Aburteilung solcher Täter ist extrem selten, denn es finden sich praktisch nie Zeugen, die aussagebereit sind. Jeder weiß, wer gegen einen Polizisten aussagt, wird nicht allzu lange danach mit einer Kugel im Kopf aufgefunden. Selbst das Nicht-Aussagen schützt dabei Zeugen wenig. Im Fall des Polizistenmordes in Niteroi gab es nämlich einen Zeugen, der sich aber aus Angst weigerte auszusagen. Trotzdem wurde seine Leiche kurze Zeit später im Kofferraum eines Autos gefunden - mit der obligatorischen Kugel im Kopf.

Es gibt zwar in einzelnen Fällen Zeugenschutzprogramme, aber auf die vertraut inzwischen kaum einer mehr, denn neuer Name und Aufenthaltsort sind ja innerhalb der Polizei bekannt und bleiben vor anderen Polizisten nicht immer geheim.

Auf den Jungen, der 1993 das Candelaria-Massaker überlebte (ehemalige Polizisten und Polizisten außer Dienst ermordeten 6 Straßen-Kinder, verletzten weitere 5 schwer) und sich bereit erklärte auszusagen, wurden 3 Anschläge verübt, die er wie durch ein Wunder überlebte. Er lebt heute unter neuem Namen in der Schweiz. Die Verurteilungen von Polizisten bzw. Ex-Polizisten wegen dieses Massakers (alle unterhalb der Strafe für Mord) wurden ausnahmslos von höheren Gerichten wegen angeblicher Formfehler wieder aufgehoben. Sie sind alle in Freiheit.

Staatsanwälte können praktisch keine Verfahren gegen Polizisten führen, denn die Polizei würde dann in den von jenem Staatsanwalt bearbeiteten Fällen die Aufklärung blockieren und der Staatsanwalt müßte abberufen werden. Als man einen Staatsanwalt nur für Polizisten-Kriminalität einsetzte, wurde er bald mit der berühmten Kugel im Kopf aufgefunden. Es braucht nicht erwähnt zu werden, daß dieser Mord nie aufgeklärt wurde.

Interessierte ultrarechte Politiker und Medien, speziell der Groß-Fernsehsender ‚Globo’, lassen immer wieder deutlich durchblicken, daß solche Massaker von Polizisten an Straßenkindern und Favela-Bevölkerung „im Grunde berechtigt" und notwendig seinen, nur leider wegen der legalen Probleme nicht in der notwendigen Häufigkeit durchgeführt werden könnten.

Das geht so weit, daß reaktionäre Politiker mit bestimmten Codewörtern und -Zahlen sich zur Ausrottung von „potentiellen Straßenräubern" und „Delinquenten" bekennen und mehr oder weniger offen zur Wahl mit diesem Programm antreten. Speziell gilt dies für eine Anzahl von Politikern der PP (Partido Progressista), einer ultrarechten Partei in Brasilien, die Partei von Paulo Maluf, dem „Franz-Josef-Strauß Brasiliens". Ein durch und durch korrupter und reaktionärer Politiker, der Kandidat der Militärs bei der noch nicht vom Volk durchgeführten Präsidentenwahl im Jahr 1985 in Brasilien am Ende der Militärdiktatur war.

Corcovado von Botafogo aus

Politiker dieser Partei benutzen ihre Parteinummer 11, um solche Anspielungen zu machen. In Brasilien haben alle Parteien feste Nummern. Die Präsidentenwahlen und Gouverneurswahlen (Ministerpräsidenten der Bundesstaaten) werden direkt mit diesen Nummern durchgeführt, die einzelnen Listen für Bundestags, Senator-, Landtags- und Kommunalwahlen fangen mit dieser Nummer an. Die Kandidaten dieser Partei hängen eine weitere 1 an die Parteinummer an und spielen mit der sich dann ergebenden Zahl 111 auf das Carandiru-Massaker an.

Im Jahr 1994 war nach einer Gefangenen-Revolte im Großgefängnis Carandiru von São Paulo von der stürmenden Polizei ein unerhörtes Massaker unter den Häftlingen verübt worden. 111 von ihnen wurden exekutiert.

Weder wurde der verantwortliche Gouverneur Fleury bisher angeklagt (er ist weiterhin hochangesehener Politiker) noch erhielten die Polizeikommandeure oder die einzelnen ausführenden Polizisten irgendwelche Strafen. Stattdessen identifizieren sich bestimmte Politiker, z.B. ein gewisser Bolsonaro, mit dieser Nummer als „law-and-order"-Rambos, worauf allerdings weniger und weniger der ratlosen brasilianischen Wähler hereinfallen.

Im Fall des Polizistenmordes im Mai in Niteroi hatte die Polizei nun unter anderem herausgefunden, daß der Zwölfjährige beteiligt war. Sie holten ihn vom Verkaufsort der Marihuana ab (trafen natürlich bereits in Kleinpackungen aufgeteiltes Marihuana bei ihm an) und nahmen ihn mit aufs Revier, wo er kräftig verprügelt wurde.

Tänzerin beim Karneval in Rio

Interessant hier das Detail, daß die Polizei natürlich genau weiß, wo illegale Rauschgifte verkauft werden, diese Verkaufsstellen aber keineswegs ausräuchert, sondern dort alle gewähren läßt. In Brasilien haben diese Verkaufsstellen sogar einen eigenen Namen: „Boca do fumo". Dies macht deutlich, wie verwoben bereits die Polizei und das organisierte Verbrechen sind, die man nur noch an der Uniform unterscheiden kann.

Jemand aus der Favela hatte gesehen, wie der Junge abgeführt wurde und die Mutter benachrichtigt, die als Tagelöhnerin arbeitet ( ja, Taglöhner werden in der kapitalistischen Barbarei natürlich auch wieder eingeführt, es wird nicht mehr lange dauern, dann haben wir in Deutschland auch wieder welche). Die Reporterin einer Zeitung Rios schildert die Szene so, als sie auf der Wache ankommt: „Der Junge stand da, in Tränen aufgelöst, umgeben von zumindest 6 Polizisten mit Gewehren und Pistolen. Als die Mutter ankommt, wendet sie sich zuerst an den Jungen: „Du sagst jetzt gar nichts mehr! Sonst werde ich es sein, die dich mit Schlägen eindeckt!" Dann wendet sie sich an die Polizisten: „Ihr habt kein Recht, einen Jungen festzunehmen und zu schlagen! Was ist das für eine Geschichte?"

Eine Zeit später hat sie sich schon etwas beruhigt und wird von der Reporterin befragt. Sie erzählt, daß sie außer dem Jungen noch 5 Kinder hat, zwischen 21 und 2 Jahren alt. Sie sagt auch, daß ein anderer Sohn im Jahr 2003, 16 Jahre alt, von Leuten der konkurrierenden Rauschgifthändlerbande aus der Nachbarfavela verschleppt und bei lebendigem Leib verbrannt worden sei. „Es ist nicht gerecht, daß eine Mutter so ihre Kinder verliert. Keine Mutter verdient es, so etwas zu erleben!"

Karneval in Rio - Tänzerin fast nackt

Danach befragt die Reporterin den Jungen. Er sagt, er braucht das Geld, das er mit dem Marihuana-Verkauf verdient, zum Überleben. Ja, er ginge zur Schule. Er habe einmal Arzt werden wollen. Aber an diesem Tag sei die Schule ausgefallen, weil die Lehrerin fehlte (Na, das kennen wir doch auch aus Deutschland, nicht?). Schließlich fragt die Reporterin: „Warum bist du in dieses Leben eingestiegen?" und er sagt: „Ich habe kein Leben, Tante." (‚Tante’ und ‚Onkel’ sind die übliche Bezeichnung, mit der Kinder aus den Favelas außenstehende Personen ansprechen.)

Der Junge hat bereits eine klare Sicht der Wirklichkeit. Männliche Jugendliche in den Favelas haben, statistisch gesehen, nur etwa 50% Chance, das 30. Lebensjahr zu erreichen oder anders ausgedrückt, 50% Chance, vorher ermordet zu werden. Dieser Junge, so berichtet die Reporterin weiter, wird nun in ein Besserungslager für Jugendliche von 12 bis 18 Jahren gebracht. Dort wird man ihm endgültig alles beibringen, was skrupellose Kriminelle für ihr kurzes Leben brauchen, denn es handelt sich um reine Aufbewahrungsanstalten mit brutalisierten Aufsehern und Folter.

So zieht der brasilianische Staat bewußt den Nachwuchs für die kriminellen Banden heran.

In der brasilianischen Öffentlichkeit wird es versucht so darzustellen, daß die Köpfe jener Banden die jeweiligen Machthabenden in den Favelas sind. Die sind in der Regel mit ihren Spitznamen bekannt und genießen in den Medien eine gewisse - und keineswegs nur negative - Aufmerksamkeit. So haben die brasilianischen Medien einen der Favela-Bosse, einen gewissen Fernandinho Beira-Mar, als öffentliche Persönlichkeit hochgejubelt, so als ob an ihm irgendetwas zu feiern wäre.

Brasilianischer Karneval: Tänzerin auf dem Festwagen

Wenn man allerdings seinen Menschenverstand zu Hilfe nimmt, so wird klar, daß die wirklichen Hintermänner dieser kriminellen Banden ja täglich Hunderttausende von Dollars an Gewinnen einstecken. Völlig undenkbar, daß diese Bosse in Favelas leben. Man wird sie wohl eher in den typischen Häusern und Wohnungen der brasilianischen Superreichen finden.

Da sind wir denn auch schon angekommen bei jenen Personen, denen all dies zugute kommt. Die brasilianische Gesellschaft ist dominiert von etwa 500 bis 1000 Familien (ein Leser meinte, es könnten auch 1500 sein), die alle Institutionen dominieren. Sie haben die Politik in der Hand, das Parlament, die Justiz, die Medien, die Polizei, die Armee, kurz: Alles.

Sie zeichnen sich vor allem durch zwei Dinge aus: Sie sind superreich - Vermögen von Milliarden von Dollar sind in Brasilien häufig - und sie sorgen dafür, daß wesentliche Teile der in Brasilien geschaffenen Werte in Form von Zinsen und Zinseszinsen für die überbordende Auslandsverschuldung an internationale ‚Finanzagenten’ gehen, also Banken, Großkonzerne und private Anleger.

Die Armut Brasiliens und der meisten Brasilianer ist also durch das Zusammenspiel der Superreichen Brasiliens (dort von den Medien - die ihnen gehören - gerne „Elite" genannt) und der Imperialisten bedingt.

Dort, bei diesen Superreichen, sind dann auch die Hintermänner zu suchen, die letztlich die kriminellen Gangs in der Hand haben, die große Teile der brasilianischen Gesellschaft terrorisieren. Es gibt sogar klare Hinweise, daß ein Teil der Politiker, die in Brasilien etwas zu sagen haben, direkt oder indirekt mit diesen Mafiabanden verknüpft sind.

Speziell zu den Deals, die Politiker hier mit den kriminellen Banden schliessen, siehe hier und hier.

Ein Beispiel sei hier beschrieben: der in Brasilien bekannte Politiker Garotinho (im Moment gerade bei der Partei PMDB). Er wurde, damals noch bei einer angeblich linksgerichteten Partei, der PDT, zum Gouverneur von Rio gewählt.

Zunächst tat er etwas, das vielen Hoffnung gab, hier würde nun einer einmal wirklich versuchen, die Zustände zu verbessern: Er beschäftigte einen anerkannten Fachmann in Sicherheitsfragen und beauftragte ihn, die Zustände bei Polizei, Strafvollzug und Justiz zu durchleuchten und Vorschläge für Änderungen zu machen. Der war denn auch schon bei seinen ersten Untersuchungen fündig geworden. Er hatte herausgefunden, daß die gesamte Spitze der Zivil-Polizei im Staat Rio de Janeiro korrupt war. Er legte nach seinen eigenen Angaben den entsprechenden Bericht mit Belegen usw. bei einem kurzen Gespräch mit dem Gouverneur auf dessen Tisch.

Am nächsten Tag war die Story in allen Zeitungen und im Fernsehen. Die betroffenen Polizeioffiziere waren vorgewarnt, um eventuelle Beweise verschwinden lassen zu können. Der Sicherheitsexperte bekam Morddrohungen für sich und seine Familie. Er wurde kurz danach vom Gouverneur entlassen und mußte mit der Familie in die USA fliehen, um sein Leben und seine Familie zu schützen. Von den im Bericht genannten Offizieren (alle in den Rängen von Obersten und höher) wurden zwei versetzt, alle blieben im Amt und ansonsten betrieben sie weiter ihre „enge Zusammenarbeit" mit den Verbrecherbanden. Die Zivil-Polizei ist in Brasilien jener Teil der Polizei, der für Ermittlungen und Vorbereitung von Anklagen zuständig ist, also die entscheidende Stelle, bei der man sich gegen eventuelle staatliche Verfolgung versichern kann.

Die nächste Großtat des Gouverneurs folgte kurze Zeit später. Es war gerade ein völlig neues Hochsicherheits-Gefängnis in Rio fertiggestellt worden, nach den modernsten Erkenntnissen des Umganges mit Schwerst-Kriminellen. Hier würden also die bereits Verurteilten mittleren Chargen der Mafia-Banden einsitzen müssen und auch zukünftig Verurteilte hineinkommen - dazu gehörte u.a. der oben schon erwähnte Verbrecher mit dem Spitznamen Beira-Mar.

Favela in Belo Horizonte

Laut Angaben der ‚Folha de São Paulo’, der größten Tageszeitung Brasiliens, wurden alle wesentlichen Sicherheitseinrichtungen des Gefängnisses mit dem Namen ‚Bangu 1’ nach der Übergabe des Baus an die lokalen Behörden außer Kraft gesetzt und abgebaut, noch bevor es eingeweiht wurde. Alle Türen und Absperrungen wurden entfernt, die sicherstellen sollten, daß es zwischen Häftlingen und Aufsehern wie auch zwischen Häftlingen und Besuchern - wie auch Anwälten - zu keinem physischen Kontakt kommen könnte. Ebenso wurde das gesamte Überwachungssystem mit Kameras usw. nie benutzt. Das Gefängnis wurde also so betrieben wie alle anderen Gefängnisse in Brasilien auch.

So hörte man denn auch schon kurz nach der Einweihung davon, daß die Insassen, soweit sie Sergeanten der Drogen-Banden in den Favelas gewesen waren, von dort aus per Handy ihre ‚Geschäfte’ weiter führten. Abgehörte Telefongespräche belegten, daß sie ungehindert Mordaufträge per Telefon gaben und ähnliches. Später bekam man sogar ein Video zu sehen, daß nach des Gouverneurs eigenen Angaben von Häftlingen erstellt wurde (man stelle sich vor, es konnten Video-Kameras in die Gefängnisse und die fertigen Videos herausgeschmuggelt werden), indem man sah, daß während der Zeit der Zellenöffnungen (alle Häftlinge konnten im Gefängnis herumlaufen, sich ungehindert miteinander verständigen) offen Rauschgift angeboten und verkauft wurde.

Doch damit waren die sehr speziellen Vorlieben dieses Gouverneurs noch keineswegs erschöpft. Er liebte es auch, sich mit Gestalten aus der Unterwelt zu umgeben. Er berief zum Sportminister von Rio de Janeiro einen Politiker, der bereits mehrmals aufgefallen war, weil er engste Beziehungen zu den Chefs der Terrorbanden in der Favela Mangueira hatte. Er besuchte z.B. den Boss der Mangueira-Bande regelmäßig im Gefängnis, als dieser verurteilt war. Nach Absitzen seiner Strafe durfte dieser Drogen-Unter-Boss dann sogar ein Amt in der Aufsicht des Maracanã-Stadions einnehmen, in das ihn sein Freund, der Sportminister, berufen hatte (Die Favela Mangueira liegt gleich neben dem Maracanã-Stadion).

Kaum glaublich war auch der nächste Skandal, der sich abspielte. Es war eine neue Direktorin berufen worden in genau jenes Spezialgefängnis, das oben bereits erwähnt wurde. Diese Frau war offenbar ziemlich unerschrocken und pflichtbewusst und wohl auch nicht bestechlich - bezeichnend, daß für so etwas anscheinend immer eine Frau kommen muß, die Herren der Schöpfung scheinen generell nicht unbedingt die Mutigsten zu sein. Jedenfalls ordnete sie an, daß ein Teil der speziellen Sicherheitsmaßnahmen des Gefängnisses wieder eingeführt wurden und auch spezielle Restriktionen für den Anwaltskontakt.

Dazu muß man wissen, daß diese Drogenbanden-Unter-Bosse mit ganzen Horden von Anwälten arbeiten. Der oben genannte Beira-Mar z.B. beschäftigte 14 Anwälte nur für sich. So hat er täglich Besuch von einem oder mehreren Anwälten (Es wäre übrigens leicht, anhand der Bezahlung dieser Anwälte den Weg zurück zu den Geldquellen der Verbrecherbanden und eventuell zu höheren Chargen zu verfolgen, aber das wurde noch nicht einmal versucht.). Besagte Gefängnisdirektorin beschränkte nun die Zahl der Anwaltsbesuche pro Woche und ließ auch die Gespräche mit den Anwälten abhören. Allerdings begann sie bereits mit dem Abhören, als der zuständige Richter dies noch gar nicht genehmigt hatte. Sie staunte nicht schlecht, als sie eines der Anwaltsgespräche abhörte. Der Häftling und der Anwalt sprachen die Einzelheiten ihrer (der Direktorin) Ermordung ab! Das entsprechende Band leitete die Direktorin direkt an den Gouverneur Garotinho und bat um speziellen Schutz.

Der erklärte daraufhin, er könne nicht aktiv werden, denn die Abhöraktion sei illegal gewesen. Wenige Tage später wurde die Direktorin erschossen aufgefunden. Sie war genau auf die Art ermordet worden, wie es auf dem Tonband vereinbart worden war. Der Gouverneur sagte, er habe mit den Ermittlungen zu diesem Mord nichts zu tun. Bis heute wurde angeblich nicht aufgeklärt, wer diesen Mord in Auftrag gegeben hatte, obwohl es jeder weiß.

Charakteristisch, daß dies zwar für drei Tage auf der Titelseite der Zeitungen und am Anfang der Nachrichten im Fernsehen kam, aber dann abrupt fallengelassen wurde und der nächste Skandal berichtet wurde. Alle diese Skandale werden von den Medien nicht verfolgt. Es werden keine Aufklärungen verlangt, nicht darauf gedrungen, daß die Parlamente, Staatsanwälte und die Polizei untersuchen. Die anfängliche Erklärung, es werde alles brutalstmöglich aufgeklärt, wird für bare Münze genommen und dann nicht mehr nach der Aufklärung gefragt (das kennen wir gut aus Deutschland, Roland Koch läßt grüßen).

Das ist auch verständlich, denn die Medien sind ja eben in den Händen genau jener Superreichen Brasiliens, aus deren Kreisen die Hintermänner kommen. Die Medien kochen einen Skandal nach dem anderen hoch, in schneller Abfolge, so daß die einzelnen schnell dem Vergessen anheim fallen. So wird die Öffentlichkeit scheinbar informiert, doch in Wirklichkeit nur unterhalten, im Endeffekt düpiert.

Ebenso charakteristisch, daß diese Art von Skandalen in den Wahlkämpfen von den gegnerischen Kandidaten nicht benutzt wird, um diese Kandidaten anzugreifen. Die Krähen hacken einander...

Interessant, daß genau dieser Politiker Garotinho bei der ersten Runde der letzten Präsidentenwahlen in Brasilien auf den dritten Platz kam – nach Lula und dem konservativen Politiker Serra, den er dann im zweiten Wahgang schlug. Auffallend, daß er in ‚seinem’ Staat Rio de Janeiro über 70% der Stimmen bekam, ein kaum glaubwürdiges Ergebnis. Es besteht, nicht zuletzt auch aufgrund der späteren Wahlen auf kommunaler und Landesebene, der starke Verdacht, daß in Rio de Janeiro massiv Wahlen gefälscht werden.

Es werden die gleichen Wahlmaschinen wie in den USA verwendet, von denen bereits bewiesen ist, daß sie manipuliert werden können. Bei den Wahlen der Landtagsabgeordneten in Rio hatten eine Anzahl von Kandidaten bei den Zwischenergebnissen bereits eine höhere Stimmenzahl, als ihnen am Ende zugesprochen wurden.

Wie auch in den USA, gibt es bei diesen Maschinen außerhalb des elektronischen Gedächtnisses keine Dokumentation auf Papier, was ein Nachzählen unmöglich macht.

Dies waren einige Eindrücke von den Zuständen, die bereits den Anfang der kapitalistischen Barbarei kennzeichnen, auf die wir auch in Deutschland zusteuern, wenn wir nicht vorher den echten Sozialismus errichten.


Hier der letzte Artikel aus Elmar Gettos Brasilien-Reihe, die inzwischen schon vielfach zitiert wird. Dieser Artikel wurde am 6. Februar 2006 in der "Berliner Umschau" veröffentlicht. Die anderen Teile kann man hier im Blog ebenfalls finden.

Anmerkung von Karl Weiss vom 30. September 2006:
Der oben angesprochene Politiker Garotinho ist inzwischen soweit desavouiert, daß er Statthalter auf den Gouverneursposten von Rio de Janeiro schicken muß. Zuerst ließ er seine Frau (Rosinha) zum Gouverneur wählen, jetzt kandidiert ein anderer Strohmann, eingewisser Cabral, für ihn - und steht an erster Stelle der Umfragen für die morgigen Wahlen. Man sieht ihn auf Plakaten hier in Rio de Janeiro zusammen mit dem oben bereits erwähnten Sportminister, der auf den Künstlernamen "Chiquinho da Mangueira" hört. Der kandidiert nämlich als Bundestagsabgeordneter. Damit wird deutlich, daß nicht nur Oligarchen aus Posten der Politik die kriminellen Organisationen schützen, sondern auch die kriminellen Banden direkt in die Politik eindringen.


Hier die Links zu allen Teilen der Reihe „Brasilien jenseits von Fussball und Samba“

- Teil 1: „Wie der Amazonas zu seinem Namen kam“

- Teil 2: ‚Menschenfresser-Country’

- Teil 3: „Ausgerottete Künstler“

- Teil 4: Niemeyer ist 100 – ‚Auf dem Höhepunkt des Schaffens’

- Teil 5: Brasilien und Gold

- Teil 6: Die Landschaften Brasiliens – Der Amazonas-Regenwald

- Teil 7: Brasilien und der Strom

- Teil 8: Die Landschaften Brasiliens – Mata Atlântica

- Teil 9: Santos Dumont und der erste Motorflug

- Teil 10: SIVAM – Big Brother in Amazonien

- Teil 11: Sprit aus nachwachsenden Rohstoffen

- Teil 12: Regenwaldvernichtung und Trockenheit im Amazonasgebiet

- Teil 13: Wie unsere Zukunft in der beginnenden kapitalistischen Barbarei aussähe – „Ich habe kein Leben“

Samstag, 27. September 2008

'Ende der neoliberalen Ära'

Lula schwimmt auf der Woge

Von Karl Weiss

In seiner Rede vor der UN-Vollversammlung in New York dekretierte der brasilianische Präsident ‚Lula‘ da Silva „das Ende der neoliberalen Ära“. Er sagte, nicht nur der normale Bürger müsse sich ethisch und ernsthaft verhalten, auch das Finanzsystem. Für jemand, der selbst ausführlich Neoliberalismus betrieben hat, ist das immerhin bemerkenswert.

Brasilien (topographisch)

Lula sparte auch sonst nicht mit Kritik, sowohl in Richtung der US-Regierung als auch gegenüber der Weltbank, dem Welt-Währungs-Fonds und den G8. „Wenn ein kleines Land in eine Krise kommt,“ so sagte er, “dann sind diese Institutionen immer schnell mit `Ratschlägen` bei der Hand, doch nun, da es die Vereinigten Staaten trifft, hört man von dort gar nichts.“

Er forderte auch – und das ging eindeutig in Richtung der USA: “Die Folgen der ungebremsten Habgier können nicht einfach straflos von allen getragen werden.“

Das „Wall Street Journal“ charakterisierte daraufhin die Politik Lulas als einen „Balanceakt zwischen orthodoxen ökonomischer Maßnahmen und Finanzierung populistischer Sozialprogramme.“

Tatsächlich war Lula bereits in seiner ersten Amtsperiode (2002 – 2006) auf absoluten Tiefpunkten in seiner Popularität angekommen, nachdem fast alle wesentlichen Politiker seiner Partei und seiner Regierung in Korruptionsskandale verwickelt waren und zurücktreten mussten. Zu jener Zeit hatte er auch eine Rentenreform durch die Legislative gebracht, die jene „orthodoxe“ Wirtschaftspolitik widerspiegelte: Erhöhung des Rentenalters, Verringerung der Rente usw. Man hätte ihn beinahe Lula Schröder nennen können. Gleichzeitig wurden die skandalös hohen Pensionen, die z.B. Richter in Brasilien bekommen, nicht angetastet.

Chávez und Lula

Es wurden Telefonlizenzen für das Festnetz wie auch für Handys verkauft, die praktisch das gesamte Telefon-System Brasiliens in die Hände ausländischer Kapitaleigner legte, in diesem Fall von spanischen, italienischen und französischen Firmen.

Noch vor kurzem wurden einige der wichtigsten vierspurigen Bundesstrassen an private Firmen vergeben, die gegen den Unterhalt der Strassen das Recht haben werden, eine Maut zu verlangen, deren Erhöhung jährlich bereits garantiert ist. Darunter waren Strassen wie die „Rodovia Fernão Dias“, die São Paulo mit Belo Horizonte verbindet und die der Staat gerade erst mit einem Aufwand von Milliarden Reais vierspurig ausgebaut hatte. Die meisten der Strassen gingen an einen spanischen Konzern.

Kurz nach der Rentenreform aber begann Lula – gerade noch rechtzeitig vor den Wahlen 2006 – mit dem Programm „bolsa família“ (Familien-Stipendium), das Bedürftigen eine monatliche Zuwendung von umgerechnet etwa 25 Euros pro Person garantiert, wenn die Kinder der Familie die Schule besuchen. Dies ist bis heute bereits auf fast ganz Brasilien ausgeweitet worden und hat sich als erfolgreiche, wenn auch nicht vollständige Bekämpfung des Hungers und der schlimmsten Auswirkungen des Elends erwiesen (und auch als Anreiz, die Kinder in die Schule zu schicken).

Bush und Lula in Brasilien

Gleichzeitig garantierte dies Programm Lulas Wiederwahl und seine hohe Popularität heute. Er hat vor kurzem auch einen Tarifabschluss im öffentlichen Dienst mit besonderer Berücksichtigung des Militärs abgeschlossen, das bereits dieses Jahr deutliche Gehaltserhöhungen garantiert und gleichzeitig jene für die folgenden Jahre festlegt. Er schuf auch Tausende neuer Stellen im öffentlichen Dienst.

Ausserdem hat er jedes Jahr den Mindestlohn (der allerdings nicht überall in Brasilien eingehalten wird) stärker als die Inflation erhöht (im Moment auf umgerechnet etwa 160 Euro im Monat) und zusätzlich noch Jahr für Jahr die Erhöhung um jeweils einen Monat vorverlegt.

Dazu kam ein Wirtschaftsboom in Brasilien, der weiterhin anhält, so als ob die Weltwirtschaft sich nicht auf der Abwärts-Rutschbahn befände. Im letzten Jahr wuchs die Wirtschaft Brasiliens um etwa 5% (nach Abzug der Inflation) und auch dieses Jahr wird diese Marke wohl wieder erreicht werden.



Dieses Wachstum wurde zwar auch und gerade durch gesteigerte Exporteinnahmen initiiert (das Hauptexportprodukt Brasiliens, Eisenerz, unterlag in den letzten Jahren einer Preissteigerung auf das zweieinhalb-fache, das zweitwichtigste, Soja und Soja-Öl auf etwa das doppelte), konnte aber dann in einen vom Inlandskonsum getragenen Aufschwung umgesetzt werden, denn viele neue Arbeitsplätze (offizielle und inoffizielle) öffneten sich, was wiederum mehr Inlandskonsum erzeugte, was weitere neue Arbeitsplätze schuf usw.

In einer Umfrage haben über 60% der Brasilianer erklärt, heute ein besseres Lebensniveau zu haben als 4 Jahre zuvor. Die guten Noten für Lula haben bei Umfragen ein absolutes Rekordniveau erreicht, seit es Umfragen gibt: 77,7% der Befragten, während die ganze Regierung von 68 % als ‚gut‘ oder ‚sehr gut‘ eingeschätzt wird. Nicht einmal kurz nach seiner ersten Wahl, als fast das ganze Land hohe Hoffnungen in ihn setzte, wurden solch hohen Raten der Zustimmung erreicht. Das bekannte Argentinische Zeitung ‚Nación‘ spricht sogar von Lula-Manie

Natürlich hat sich Lula nicht einfach so vom Saulus zum Paulus gewandelt. Er hat vielmehr mit diesen Politikänderungen hauptsächlich auf die in ganz Lateinamerika um sich greifende revolutionäre Gärung reagiert. In Lateinamerika kann man heute nicht mehr einfach weitermachen wie bisher. Entweder man muss sich radikal auf die Seite der US-Regierung stellen und wird dann automatisch zu einem weithin verhassten Politiker wie Uribe in Kolumbien oder man muss eine Öffnung zu „linken“ Positionen betreiben.

Morales und Lula in Santiago

Zum anderen hat Lula Gefallen daran gefunden, als einer der internationalen Führer der Entwicklungsländer angesehen zu werden. Dazu muss er bis zu einem gewissen Grade natürlich deren Interessen vertreten und zumindest in Worten gegen die grossen Industrieländer schiessen

Während in diesem Moment nur noch etwa 14 % der US-Bürger glauben, ihr Land befinde sich auf dem richtigen Kurs, gilt dies in Brasilien für mehr als 60%. Eine in etwa vergleichbare Umfrage in Deutschland ergab 17%.

Das ist der Unterschied zwischen Neoliberalismus und „gemässigt linken Positionen“.

Könnte Lula sich 2010 erneut zur Wiederwahl stellen, wäre sie mit Rekordergebnis gesichert. Aber es gibt in seiner Partei, der PT, keine andere bekannte und beliebte Persönlichkeit – kein Wunder, da fast alle bekannten PTler in Strafprozessen Angeklagte sind. Die mit gewisser Wahrscheinlichkeit als Kandidatin in Frage kommende Ministerin Dilma Roussef erhält im Moment in den Umfragen im günstigsten Fall 12 % der Stimmen. Tritt sie gegen die bekanntesten Kandidaten der Oposition an, sogar noch weniger. Aber das kann sich ändern bis 2010.


Veröffentlicht am 26. September 2008 in der Berliner Umschau

Originalveröffentlichung

Freitag, 26. September 2008

Alles über 65 - ab nach rechts!

Parteien erhalten Bürgeradressen – nach Alter gestaffelt – für unangeforderte Wahlpropaganda

Von Karl Weiss

Hatten wir uns kürzlich noch über die Firmen aufgeregt (hier ), die von allen möglichen Datensammlern Namen, Adressen, Telefonnummern, Kontonummern und Kreditkartendaten von Hunderttausenden oder Millionen Deutschen kaufen können, um damit ihre Propaganda gezielter an Mann und Frau zu bringen – oder aber auch um kriminelle Dinge damit anzustellen, wie Abbuchungen von (oder mit) der Kreditkarte, Abräumen des Kontos usw., so verschlägt es uns nun wirklich den Atem, wenn wir hören, die Parteien dürfen für ihre Wahl-„Werbung“ von den Einwohnermeldeämtern ganz legal alle erforderlichen Daten von Bevölkerungsgruppen abrufen, um dann gezielt bestimmte Teile der Bevölkerung mit Propagandamaterial zuwerfen zu können.

So hat CSU-Ministerpräsident Beckstein sich ganz gezielt an die über 65-jährigen Münchner gewandt und ihnen u.a. folgende Zumutung geschrieben: "Gemeinsam haben wir Bayern zu einem großartigen Land gemacht", obwohl sich fast niemand daran erinnerte, etwas gemeinsam mit Beckstein gemacht zu haben.

Aber das liegt natürlich daran, dass diese alten Knacker kein Gedächtnis mehr haben, nicht wahr?

Eine 83-jährige Münchnerin beschwerte sich bei der CSU über die nicht angeforderte Post und bekam prompt die lapidare Antwort, das sei legal.

Ein SPD-Mitglied erklärte: „Wenn das legal ist, dann ist das ja gerade der Skandal.“

Dies sei, so bekommt man zur Auskunft, nicht nur legal, sondern werde von fast allen Parteien genutzt. Das Recht hätten alle kandidierenden Parteien ab einem halben Jahr vor den Wahlen.

Jetzt wissen Sie also, lieber gläserner Bundesbürger, warum wir uns in Deutschland immer am Wohnort an- und abmelden müssen (in den meisten Ländern der Welt gibt es das nicht). Wo bekämen sonst die Parteien unsere Adressen her?

Man könne sich mit Ausfüllen eines Formular dort ausklinken, wird einem auf Beschwerde hin gesagt, das im Internet heruntergeladen werden könnte. Na, die über 65-Jährigen haben ja alle Internet.

Hat man nicht vergessen, uns dies zu sagen oder uns ein Merkblatt hierüber zu geben, als wir uns das letzte Mal bei einem Einwohnermeldeamt angemeldet haben?

Es sei im Sinne des Gemeinwohls, wenn Parteien unsere Adressen bekämen, wird argumentiert. Ja, deshalb heißt jenes Wohl wohl auch „gemein“.

Nach einer Anzahl von Wahlen, wenn man jeweils eine Altersgruppe abgeschöpft hat, hat damit jede clevere Partei die gesamte Adressenkartei der Bevölkerung, feinsäuberlich nach Altersgruppen – und „Cleverle“ sind sie ja wohl alle, oder?

Wie gut, dass wir wissen, alle Politker sind die reinsten Engel und werden selbstverständlich unsere Adressen niemals verkaufen oder missbrauchen, nicht wahr – sonst müsste man ja fast Übles befürchten.


Veröffentlicht am 26. September 2008 in der Berliner Umschau

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