Brasilien

Donnerstag, 26. Juli 2007

Jede Waschmaschine hat mehr Sicherheitsmarge

Das Flugzeug-Unglück der TAM in São Paulo ist letztes Beispiel einer Fehlerserie


Von Karl Weiss


Es schält sich nun, einige Tage nach dem schwersten Flugzeugunglück der brasilianischen Luftfahrt, mehr und mehr heraus: Es handelt sich wiederum, wie schon beim Absturz der Boeing 737 der Gol im September letzten Jahres, um eine Reihe von Fehlern bzw. unglücklichen erschwerenden Umständen, die in ihrer Gesamtheit zur Katastrophe geführt haben.

TAM Crash São Paulo

199 wahrscheinlich Tote sind bereits gezählt, erst 63 Leichen sind identifiziert, denn die meisten sind verbrannt und dies teilweise bis zur Unkenntlichkeit. Bei einigen Überresten ist kaum noch festzustellen, dass dies überhaupt ein menschlicher Leichnam ist. Der Vergleich der typischen Zahn-Register zur Identifizierung ist in einer Reihe von Fällen nicht mehr möglich. Da hilft nur noch DNA-Vergleich.

Die gravierendsten Fehler, die sicherlich wesentlich zur Katastrophe beigetragen haben, sind:
  • Es ist ungeklärt, auf welcher Grundlage die Haupt-Start- und Landebahn des Flughafen Congonhas in São Paulo gegen Ende Juni nach einem teilweisen Neubelag der Piste freigegeben wurde. Der Grund für die Arbeiten an der Startbahn waren schon mehrfach aufgetretenen gefährliche Situationen, weil sich bei Regen Pfützen auf dem Rollfeld bilden. Die Betreibergesellschaft der brasilianischen Flughäfen Infra-Aereo hatte damals angegeben, es hätte eine Überprüfung der Konditionen der Landebahn durch ein Technologie-Institut in São Paulo stattgefunden. Alle waren davon ausgegangen, dieses Institut hätte die Rollbahn freigegeben. Nun wurde aber von dem Institut eine Mitteilung an die Öffentlichkeit herausgegeben, die besagt, die Ergebnisse der Untersuchung seinen noch gar nicht aus dem Institut herausgekommen. Sie seien erst (zufällig) einen Tag vor dem Desaster fertiggestellt und noch niemand zugestellt worden. Damit steht fest: Die Betreibergesellschaft des Flughafens hat die Freigabe ohne eine fach- und sachgerechte Überprüfung durchgeführt. Eventuell hat sie sogar eine technische Freigabe vorgetäuscht. Zwar habe man die Messung eines Koeffizienten durchgeführt, der eine genügende Reibung der Bahnoberfläche gezeigt hätte, aber das Entscheidende, das Anbringen von Rillen, um den Wasserablauf zu verbessern, war nicht geschehen. Der Vorstandsvorsitzende dieser Gesellschaft läuft in Brasilien immer noch frei herum.
  • Die TAM, die Fluggesellschaft des verunglückten Flugzeugs, veröffentlichte eine Mitteilung, das verunglückte Flugzeug habe vier Tage vor der Katastrophe einen Fehler an der Schubumkehr eines der beiden Triebwerke erlitten und sei seitdem mit abgeschalteter Schubumkehr geflogen. Sowohl TAM als auch die Herstellerfirma Airbus behaupten, dies sei üblich. Das Flugzeug sei auch ohne Schubumkehr sicher und es hätte nicht zur Reparatur aus dem Verkehr gezogen werden müssen. Ein Fachmann, der Luftfahrtspezialist de Oliveira von der Universität São Paulo, ist da ganz anderer Meinung: „Auf einer kurzen (1950 Meter) und regennassen Piste wie jene von Congonhas am Tag des Unglücks, würde der Umkehrschub sicherlich wesentlich zum Bremsen des Flugzeugs beigetragen haben. Auf keinen Fall hätte ein Flugzeug mit 62,5 Tonnen dort unter diesen Bedingungen ohne die Schubumkehr landen dürfen.“ Sowohl der Vorstandsvorsitzende der TAM wie auch der von Airbus laufen ebenfalls weiter frei herum.
  • Der dritte wesentliche Fehler war ganz sicherlich, dass in Congonhas weder eine generelle Anweisung bestand, bei feuchter Piste oder jedenfalls bei starkem Regen keine Landungen zuzulassen noch dass in der konkreten Situation die Flugaufsicht zumindest so lange die Piste für Landungen gesperrt hätte, bis der starke Platzregen nachliess. Das Flugzeug hatte ja genug Treibstoff an Bord, um über eine Stunde im Auffangraum zu kreisen. Es hätte auch auf die naheliegenden Flughäfen Internationaler Flughafen von São Paulo in Cumbica oder Internationaler Flughafen von Campinas - Viracopos umgeleitet werden können. Auch die hierfür Verantwortlichen laufen frei herum.
  • Ausserdem ist – anscheinend aus der Auswertung der „black box“ - bereits das Gerücht durchgesickert, es habe einen technischen Fehler am Flugzeug bei der Landung gegeben.
Man kann sich jetzt ungefähr die Situation des Piloten vorstellen, als er in einem dichten Regenguss im Dunkeln (um kurz vor sieben ist es jetzt im Winter im Südosten Brasiliens bereits zappenduster) auf der Landebahn von Congonhas aufsetzte. Er dürfte gleich gemerkt haben, dass Aquaplaning ihm ein normales Bremsen mit den Bremsen an den Rädern unmöglich machte (wer schon einmal Aquaplaning im Auto erlebt hat, weiss: Es ist genau wie Glatteis). Ebenso wusste er ja, man hatte ihn veranlasst, diesen Flug durchzuführen, obwohl die Schubumkehr nicht funktionierte. Damit konnte er also ebenfalls nicht bremsen.

Er hat sich also wohl in Sekundenbruchteilen überlegen müssen, was ihm an Handlungsmöglichkeiten offenblieb. Die bei weitem naheliegendste war mit Sicherheit das Durchstarten. Die Geschwindigkeit, mit der er am Ende der Landebahn ankam, lässt auch mit guter Wahrscheinlichkeit annehmen, genau dies hat er versucht. Nun muss aber irgendein anderer Fehler aufgetreten sein, denn normalerwiese hätte die Länge der Landebahn für ein Durchstartmanöver ausreichen müssen.

Denkbar ist, er hat die Entscheidung zum Durchstarten zu spät getroffen. Oder aber, der Computer hat sie zu spät getroffen (siehe unten).

Was jedenfalls auffällt, in der allerletzen Phase des Rollens innerhalb des Flughafens hat das Flugzeug eine Linkskurve gemacht. Dort, am Ende der Landebahn, mündet ja die Zufahrtstrecke in die Landebahn und genau dort ist es nach links geschwenkt, so als ob bei dieser Geschwindigkeit eine so scharfe Kurve möglich wäre. Es ist völlig unklar, ob dies ein Steuermanöver des Piloten war – was eigentlich keinen Sinn ergibt – oder ob ein weiterer Fehler am Flugzeug auftrat, der dies verursachte.

Dadurch war ein Abheben und Durchstarten sowieso nicht mehr möglich, denn nun musste er nicht nur den einfachen Zaun am Ende des Flughafens durchbrechen, sondern eine Betonabsperrung, die ein so schweres Flugzeug bei etwa 250 km/h auch durchbrach, was aber jedes Hoffen auf ein Durchstarten unmöglich machte. Es wird wohl ungeklärt bleiben, ob das Durchstarten gelungen wäre, wenn diese Linkskurve nicht geschehen wäre.

Trotzdem hob das Flugzeug kurzzeitig ab, denn hinter dem Flughafenzaun geht es etwa dreissig Meter steil nach unten. Es flog über die belebte Avenida Washington Louis, um dann aber wenige Meter dahinter auf dem Boden aufzuschlagen, die Tankstelle abzurasieren und in das dahinter stehende grosse Beton-Gebäude hineinzuknallen, das den Jet umittelbar zum Stehen brachte und alles in einer Explosion aufgehen liess.

Die Betreibergesellschaft des Flughafens hat ein Video veröffentlicht, auf dem man einen Teil dieses Ablaufs verfolgen kann. Das Video ist von einer der feststehenden Kameras am Flughafengebäude aufgenommen worden. Im Blick ist bei dieser Kamera im Hintergrund der letzte Teil der Landebahn.

Zunächst hat man ein Video davorgestellt, das eine normalen Landung eines Flugzeugs in diesem Teil der Landebahn zeigt. Das Flugzeug bremst stark ab, kommt fast zum Stehen und rollt dann nach links aus dem Blickwinkel. Es ist etwa 11 Sekunden im Blickbereich.

Dann kommt das Video, das vom Durchlauf des Unglücks-Airbus auf genommen wurde. Die genaue Uhrzeit ist eingeblendet und kann verfolgt werden. Das Flugzeug rast mit hoher Geschwindigkeit durchs Bild. Eine Sekunde, nachdem es links aus dem Bild verschwunden ist, sieht man den Lichtschein einer riesigen Explosion von dort. Es hat nur drei Sekunden gebracht, um den Blickbereich zu durchmessen. Angesichts dessen, was passiert ist, laufen einem kalte Schauer über den Rücken beim Ansehen des Videos.

Im Zusammenhang mit diesem Desaster ist dem Berichterstatter auch ein Erlebnis von eine Südafrika-Reise wieder eingefallen. Am Flughafen von Johannesburg musste er beim Heimflug nach Deutschland nämlich Stunden auf den Abflug des Lufthansa-Jumbos warten. Es war von dem Warteraum zu erkennen, es wurde an dem Jumbo gearbeitet, genau gesagt an einem der Triebwerke. Als Grund für die Verzögerung wurde `Regen` angegeben. In Johannesburg ist Regen eine Seltenheit, aber an diesem Tag gab es dort einen Landregen.

Das schien zunächst keinen Sinn zu ergeben. Als man dann aber endlich ins Flugzeug durfte, klärte der Flugkapitän auf, um was es sich gehandelt hatte. In einem der Triebwerke habe die Schubumkehr nicht funktioniert. Da die Startbahn aber regennass war, durfte der Jumbo so nicht starten. Hätte der Startvorgang abgebrochen werden müssen, hätte die Schubumkehr auf beiden Seiten gleichmässig und von allen vier Triebwerken zur Verfügung stehen müssen, um ein sicheres Bremsen vor dem Ende der Startbahn zu gewährleisten.

Nun mag jemand einwenden, hier handelte es sich ja um einen Jumbo, also ein weit grösseres und schwereres Flugzeug als ein A 320. Stimmt, aber es handelte sich auch um den internationalen Flughafen von Johannesburg mit einer Startbahn von 3200 oder 3500 Metern und grossen Auslaufstrecken hinter der Startbahn ohne dicht bewohnte Gebiete.

Allerdings handelte es sich um die 80er-Jahre. Das war also im wesentlichen vor der allgemeinen Liberalisierung des Flugverkehrs, jedenfalls war die Lufthansa noch nicht direkt betroffen. Heute hat die generelle Liberalisierung (fast immer verbunden mit einer Privatisierung der staatlichen Linien) zu einem im wahrsten Sinne tödlichen Konkurrenzkampf der Fluglinien (und Flughäfen) untereinander geführt hat, dem schon reihenweise Fluggesellschaften zum Opfer gefallen sind, eine der letzten die früher staatliche brasilianische Varig, davor in Brasilien bereits die VASP und die Transbrasil. Es kann kein Zweifel bestehen, die völlige Unterwerfung der Luftfahrt unter die kapitalistischen Profitgesetze hat das Fliegen deutlich unsicherer gemacht.

Im Zusammenhang mit diesem tragischen Unglück einer A 320 muss auch an die Geschichte dieses Flugzeugs erinnert werden.

Bei einem Schauflug in Mulhouse in Frankreich im Jahr 1988 zur Vorstellung vor der Weltpresse ist ein Airbus 320 nämlich abgestürzt. Er flog sehr niedrig eine Ehrenrunde über den Flughafen und blieb dann genauso niedrig, als er hinter dem Ende der Startbahn auf ein Waldstück zusteuerte, anstatt schneller zu werden und nach oben zu ziehen.

Er streifte die Bäume und krachte in den Wald. Zum Glück wurde der Absturz durch die Bäume zum Teil abgefedert, sodass von 136 Insassen 133 überlebten, einschliesslich der Piloten.

Die Airbus behauptete, die Piloten hätten Fehler gemacht und versäumt, das Flugzeug zu beschleunigen und hochzuziehen. Vom ersten Moment an war aber zweifelhaft, warum so erfahrene Piloten so stümperhaften Fehler begangen haben sollten. Die Piloten dagegen gaben an, das Flugzeug habe auf die Steuer- und Bechleunigungs-Bewegungen nicht reagiert. Als es schliesslich reagierte, habe man schon die Bäume gestreift.

Die A 320 war nämlich das erste Serien-Flugzeug, das ausschliesslich vom Computer seine konkreten Befehle empfängt. Die Steuerung und die Hebel des Piloten geben lediglich Informationen in den Computer ein (rein digitale fly-by-wire-Steuerung, der Pilot fliegt mit Joysticks). Ein Fachmann gab damals ein Gutachten ab, der Computer könne tatsächlich die Befehle nicht sofort ausgeführt haben, weil sie für ihn völlig unlogisch erschienen sein mögen.

Der erste Prozess gegen die Piloten wurde unter ungeklärten Umständen abgebrochen.

Später fand ein neuer Prozess mit einem anderen Richter statt, in dem die Piloten verurteilt wurden. Ihre Einlassungen wurden zu Schutzbehauptungen erklärt. Sie hätten angeblich während des Fluges das automatische Flugkontrollsystem abgeschaltet. Dies wäre ein so unglaublicher Fehler, dass dies ernsthaft bezweifelt werden muss. Jener Gutachter war von der Bildfläche verschwunden. Es wollten die Gerüchte nicht verstummen, der Richter sei vom französischen Staat zur Staatsraison gezwungen worden. Der ganze Ruf der Airbus – nicht nur in Frankreich – stand auf dem Spiel und daher mussten die Piloten schuldig sein.

Sollte der Computer der A 320 in Congonhas etwa wieder verspätet auf die Befehle zum Durchstarten reagiert haben? Vielleicht weil die Räder, die ja bei Aquaplaning über einem Wasserkeil schwebten, eine weit niedrigere Geschwindigkeit dem Computer vorspiegelten als es die wirkliche war? Vielleicht hätte aus der dem Computer angezeigten Geschwindigkeit kein Durchstarten mehr erfolgen können und er verweigerte darum, sofort zum Durchstarten überzugehen?

Interessant auch ein anderes Unglück einer A 320, dem meist verkauften Verkehrsflugzeug der Welt (5000 Exemplare), das Lufthansa-Unglück in Warschau am 14. September 1993. Auch dort trat bei der Landung Aquaplaning auf. Der Computer liess deshalb keine Bremshilfen und keinen Umkehrschub zu, bis nur noch ein kleiner Teil der Landebahn zur Verfügung stand. Das Flugzeug schoss über die Landebahn hinaus und kam an einem Erdwall zum Stehen, wo es Feuer fing. Zwei Personen starben.

Die Parallelen zum Fall in São Paulo sind vielfach. Hätte es in Congonhas hinter dem Ende der Landebahn eine Auslaufzone mit einem Erdwall gegeben, wären wahrscheinlich auch nur wenige Tote zu beklagen gewesen. Die Lage des Flughafens mitten in der Stadt und ohne auch nur den geringsten Sicherheitsabstand zu Strassen und Gebäuden, auch unmittelbar am Ende der Start- und Landebahn, muss also als eine wesentliche Ursache für die katastrophalen Aussmasse des Unglücks angesehen werden.

Nach Angaben auf der Site

http://de.wikipedia.org/wiki/Airbus_A320

führten die Erkenntnisse aus dem Unfall in Warschau zu einer Änderung der Software für die Bodenkontakterkennung, aber eben nicht zu dem, was die Concorde (ebenfalls ein fly-by-wire-Flugzeug) hatte, einem Ersatzsystem, das im Notfall dem Piloten das direkte Fliegen ermöglicht, ohne dass der Computer, der eventuell fehlerbehaftet sein kann, gegen den Willen des Piloten Entscheidungen treffen kann.

Nun, die Tendenz bei allen Beteiligten in Brasilien ist jedenfalls, dem toten Piloten die Verantwortung in die Schuhe zu schieben.

Kurios noch: Das Flugzeug hat eine Passagier-und Crew-Höchstzahl von 185, aber es waren auch zwei Kleinkinder an Bord, die keinen eigenen Sitzplatz hatten, so dass in Wirklichkeit 187 Insassen an Bord waren. Zunächst war aber immer von 186 ausgegangen worden. Auch die veröffentlichte Passagierliste enthielt 186 Namen. Erst jetzt wurde bekannt, es war auf dem letzten freien Platz noch ein Angestellter der TAM im Flugzeug, der mit einem Spezial-Pass einsteigen konnte und daher nicht auf der Liste stand.

Zu diesen 187 Toten kommen drei Angestellte der TAM, die in dem Gebäude arbeiteten, in das der Airbus schoss, die bereits im Krankenhaus an den schweren Verbrennungen gestorben sind. Es werden unter den Personen, die an jenem Abend im Gebäude der TAM Express-Frachtgesellschaft waren, aber noch acht Personen vermisst, die nach jeglicher Wahrscheinlichkeit auch tot sein dürften. Das macht insgesamt 198 Tote.

Dazu wurde jetzt klar, in der Tankstelle, wo das Flugzeug zunächst aufschlug, stand ein Taxi. Seine verkohlten Überreste wurden nun in den Trümmern gefunden. Der 22-jährige Fahrer des Taxis war zunächst verschollen. Inzwischen wurde er bereits als einer Toten identifiziert. Damit erhöht sich die Zahl auf 199.

Die ANAC, die staatliche Aufsichtsbehörde über den Flugverkehr in Brasilien, hat am Samstag bekanntgegeben, es werde eine Kommission eingesetzt, die den Bau eines neuen nationalen Flughafens in São Paulo als Ersatz für Congonhas prüfen wird. Ebenso hat man Massnahmen angeordnet, die Zahl der Flüge über Congonhas zu verringern. Speziell sollen keine Zwischenlandungen in Congonhas mehr möglich sein. Das bezieht sich darauf, dass der verunglückte Airbus noch viel Sprit in den Tanks hatte, als er verunglückte, denn er hätte noch nach Belo Horizonte weiterfliegen sollen.

Der Berichterstatter, der schon oft in Congonhas gestartet und gelandet ist, kann noch das unwohle Gefühl nachtragen, das man dort oft hatte. Bei fast jedem Start rauschte man über das Ende des Flughafens in den Luftraum über der dichtbesiedelten Stadt nur ein bis zwei Sekunden, nachdem man abgehoben hatte. Bei fast jeder Landung musste ein wesentlicher Teil der Landebahn genutzt werden, um zum Stehen zu kommen. Bei einem jährlichen Passagieraufkommen von 20 Millionen auf diesem Flughafen ein etwas kritischer Zustand. Jede Waschmaschine hat mehr Sicherheitsmarge.

Inzwischen hat sich auch die Internationale Transportarbeiter-Föderation ITF zu diesem Desaster zu Wort gemeldet und es als vorhergesehen und vermeidbar bezeichnet. Ingo Marowsky, der Sekretär der Sektion Ziviluftfahrt der ITF, sagte dazu: “Wir und die brasilianischen Gewerkschaften haben wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass die Sicherheit gefährdet war. Es gibt keinen besseren Beweis dafür, als dass Vertreter der Beschäftigten der TAM mit solchen des Managments in jenem Moment eine Sitzung über Beschwerden wegen fehlender Sicherheit in jenem TAM-Gebäude abhielten, als das Flugzeug hineinkrachte.“

Auf der Site des internationalen Gewerkschafts-Zusammenschlusses kann man ein Dokument nachlesen, das bereits lange vor diesem Unfall wichtige Verbesserungen in der Zivilluftfahrt Brasiliens und der anderen Länder des Mercosur fordert:

http://www.itfglobal.org/news-online/index.cfm/newsdetail/1458


Veröffentlicht am 26. Juli 2007 in der Berliner Umschau


Originalartikel

Mittwoch, 18. Juli 2007

Bis zu 200 Tote bei Flugzeugunglück in São Paulo

Tragödie mit Ansage - Airbus der brasilianischen Linie TAM abgestürzt

Von Karl Weiss

Am Abend des 17.7.2007, kurz vor 19 Uhr Ortszeit (Mitternacht europäische Sommerzeit), machte ein Airbus 320 der brasilianischen Linie TAM, kommend aus Porto Alegre im Süden Brasiliens, einen Landeanflug auf den Flughafen Congonhas, mitten in der Stadt São Paulo, dessen Haupt-Start- und Landebahn erst kürzlich nach einem teilweisen Neubelag wieder freigegeben worden war. Die Landung misslang. Das Flugzeug schoss noch in voller Geschwindigkeit über das Ende der Landebahn hinaus, kreuzte eine sechsspurige Hauptstrasse und knallte in eine Tankstelle und anschließend in ein Gebäude der eigenen Fluggesellschaft.

TAM Crash São Paulo

Zu diesem Zeitpunkt herrschten schwere Regenfälle in São Paulo. Die ersten Kommentare gehen davon aus, dass sich Pfützen auf der Start- und Landebahn gebildet hatten und ein effektives Bremsen des Flugzeuges verhinderten. Vielleicht hat der Flugkapitän auch ein Durchstarten versucht. Die Landebahn in Congonhas ist nur 2000 Meter lang.

Um sieben Uhr abends ist in São Paulo der Höhepunkt des abendlichen Stossverkehrs mit kilometerlangen Staus. Höchstwahrscheinlich war die Hauptstraße direkt am Flughafen in beiden Richtungen auf allen Spuren gestaut.

Der Airbus der TAM soll nach ersten Meldungen 176 Personen an Bord gehabt haben. Andere Meldungen besagen, es habe zumindest 4 Überlebende im Flugzeug gegeben. Es muss aber davon ausgegangen werden, dass es auch Verletzte und eventuell Tote auf dem Boden gegeben hat, denn das Gebäude der TAM, in das der Jet gerast ist, war belebt.

Auch besteht die Möglichkeit, dass der Riesenjet, als er die Avenida Washington Louis kreuzte, eine Anzahl von Fahrzeugen dort mit sich gerissen hat. Eventuell ist das Flugzeug aber an dieser Stelle auch über sie hinweg geflogen. Das Ende des Flughafens liegt hier etwa 30 Meter über dem Strassenniveau.

Es muss wohl mit zwischen 170 und 200 Toten gerechnet werden, das ist aber offiziell noch nicht bestätigt.

Im Moment, als der Berichterstatter dies schreibt, etwa 2 einhalb Stunden nach dem Unglück, Originalübertragungen auf allen Fernsehkanälen beobachtend und im Internet die neuesten Nachrichten verfolgend, sind die Brände immer noch nicht gelöscht, obwohl mehr als 100 Feuerwehrfahrzeuge vor Ort sind. Sie werden offenbar genährt vom Kerosin des Flugzeugs selbst, von auslaufendem Benzin, Alkohol und Diesel von der Tankstelle und von einem Treibstoff-Depot, das laut Internet-Meldungen im Gebäude vorhanden gewesen sein soll.

Das Flugzeug sollte nach dem Zwischenstop in São Paulo nach Belo Horizonte weiterfliegen und war offenbar noch mit ausreichend Treibstoff für den Weiterflug versehen.

Laut einer Internet-Meldung hat ein Taxifahrer, der unmittelbar nach dem Unglück zum Katastrophenort kam, mindestens vier Personen aus dem Gebäude der TAM springen sehen, wo sie offenbar in einem Flammenmeer waren. Am Fernsehen wird eben berichtet, dass zumindest eine dieser Personen bereits tot im Krankenhaus ankam mit gebrochenem Schädel.

Bereits im Jahr 1996 war eine Fokker 100 der gleichen Fluggesellschaft TAM kurz nach dem Start von eben diesem Flughafen mitten in ein Wohngebiet gestürzt und hatte 98 Insassen und eine Person auf dem Boden in den Tod gerissen.

Die Stadt São Paulo hat, mit insgesamt 20 Millionen Einwohnern im Metropol-Gebiet die grösste der Südhalbkugel, wie so viele andere Städte, zwar einen internationalen Flughafen ausserhalb der Stadt, der weit genug von bewohnten Gebieten, Gebäuden und belebten Hauptstrassen entfernt ist, den Flughafen Cumbica, unterhält aber weiterhin einen kleineren nationalen Flughafen mitten in der Stadt, eben den Flughafen Congonhas. Wenige Meter hinter dem Flughafenzaun sind bewohnte Gebiete, andere Gebäude und zwei sechs- und teilweise sogar achtspurige Hauptstrassen.

Das gleiche gilt übrigens auch für die beiden anderen grossen Städte der Region Südosten Brasiliens, Rio de Janeiro und Belo Horizonte (von wo der Berichterstatter schreibt). In Rio ist es der Flughafen Santo Dumont, wo startenden Flugzeuge eine scharfe Kurve machen müssen, um nicht mit dem Zuckerhut zusammenzustossen. Hier in Belo Horizonte heisst der Stadtflughafen Pampulha, bevorzugt von den Passagieren wegen der kurzen Anfahrtzeit, obwohl ein sicherer Flughafen draussen vor der Stadt völlig unterausgelastet ist.

Aber dies ist ja nicht nur in Brasilien üblich. In Chicago in den USA heisst der Flughafen mitten in der Stadt Midway, in der deutschen Hauptstadt Berlin Tempelhof.

Alle diese Flughäfen entsprechen nicht den internationalen Luftfahrtrichtlinien, die zumindest ein oder zwei Kilometer freies Land hinter den Enden der Start- und Landebahnen verlangen.

In Brasilien kommt aber noch erschwerend hinzu, dass hier mit einer gewissen Häufigkeit die Regenfälle als tropische Sturzbäche auftreten.

Die Katastrophe vom 17.7.07 in São Paulo allerdings ist in einer Art und Weise angekündigt gewesen, dass eigentlich, wenn alles mit rechten Dingen zuginge, jetzt Personen der grob fahrlässigen Tötung angeklagt werden müssten.

Die Haupt-Start- und Landebahn von Congonhas ist nämlich bereits vor Monaten gesperrt worden durch einen Gerichtsbeschluss, beantragt von einem Staatsanwalt in São Paulo – und zwar genau aus diesem Grund: Bei Regen bildeten sich immer wieder grosse Pfützen, die sowohl Start- als auch Landevorgänge gefährdeten.

Man hat dann teilweise einen neuen Belag auf die Bahn aufgebracht und sie wurde erst vor wenigen Wochen wieder gänzlich freigegeben – durch Gerichtsbeschlüsse, welche die Flughafengesellschaft Infra-Aereo und die Fluggesellschaften beantragt hatten, während die Staatsanwaltschaft weiterhin für die Sperrung plädiert hat.

Doch diesmal gab es sogar noch eine unmittelbare Ansage: Einen Tag vor dem Desaster, am 16.6.07, rutschte ein kleineres Flugzeug der Fluggesellschaft Pantanal aus der Landebahn und bohrte sich in die Wiese, ohne dass allerdings jemand verletzt wurde. Der Flughafen war für eine gute Zeit gesperrt aufgrund dieses Beinahe-Unglücks. Auch an diesem Tag regnete es schon in São Paulo. Der Zwischenfall war ebenfalls auf Aquaplaning auf Pfützen auf der Rollbahn zurückzuführen.

Niemand wurde aufmerksam und sperrte nun die Piste, solange sie nass war. So kam es wie es kommen musste.

Dazu kommt, ein grosses Flugzeug wie der Airbus 320 dürfte auf einer so kurzen und gefährdeten Landebahn gar nicht zugelassen sein – aber die Fluggesellschaften wollen Reibach machen. Für sie lohnen sich vollbesetzte Grossflugzeuge an Tagesrandterminen wie diesem (Ankuft 19 Uhr) weit mehr als nur mit 100-Passagier-Flugzeugen zu fliegen, wie sie für kurze Landebahnen eher geeignet erscheinen.

Inzwischen ist es 22.30 h in Brasilien und man kann am Fernsehen in Originalübertragung sehen, wie jetzt, dreieinhalb Stunden nach der Katastrophe, immer noch bzw. schon wieder zig-meterhohe Flammen aus dem Gebäude schlagen, in das der Airbus gerast ist. Ein Teil des Gebäudes ist bereits eingestürzt und man wundert sich, wie der Rest immer noch standhält.

Als letzte Meldung kommt gerade: Die Fussball-Mannschaft von Gremio Porto Alegre, eben noch in den Endspielen der südamerikanischen Vereinsmeisterschaft „Libertadores“, ist nur um ein Haar dem Tod in der Flammenhölle dieses Desasters entkommen. Man war auf diesen Flug gebucht, wurde aber im letzten Moment auf einen anderen umgeleitet.

Informationen für Angehörige möglicher Unfall-Beteiligter finden Sie unter

http://www.tam.com.br/b2c/jsp/default.jhtml?adPagina=3&adArtigo=10742


Veröffentlicht am 18. Juli 2007 in der Berliner Umschau

Originalartikel


Zusatz vom 18.7.07, 9:30 Ortszeit

Inzwischen ist klar, es gibt keine Überlebenden aus dem Flugzeug. Man spricht bereits von mehr als 200 Toten. Insgesamt 7 der Angestellten der TAM, die in dem Gebäude gearbeitet haben, sind verletzt im Krankenhaus. Der erste identifizierte Leiche ist ein Kleinunternehmer, der gerade dabei war, Luftfracht in dem Gebäude aufzugeben, als der Airbus einschlug. Dort ist (war) u.a. die "TAM Express" untergebracht, eine Luftfracht-Gesellschaft.

Unglaublich: Die Start- und Landebahn des Flughafens ist gesperrt seit dem Unglück, aber die brasilianischen Autoritäten haben heute morgen bereits die Wiederaufnahme des Flugverkehrs auf dem Flughafen Congonhas auf der "Hilfspiste" genehmigt. Das ist jene Rollbahn, auf der die Flugzeuge zum Ende der Startbahn fahren, also noch kürzer und noch schmaler als die Hauptpiste.

Diese entmenschten Figuren dirigieren die Wirklichkeit, als ob es Show Business wäre: "The show must go on!"

Montag, 7. Mai 2007

Doppelherrschaft in Brasilien

Abmachungen mit dem Terror - Zurückweichen vor krimineller Gewalt


Mafia-Angriffe in Sao Paulo wurden nach fünf Tagen abgebrochen


Von Karl Weiss


In Brasilien existiert faktisch eine Doppelherrschaft. Einerseits gibt es die Herrschaft des Präsidenten Lula mit seinem Staats- und Gewaltapparat und den dahinter stehenden Kräften, andererseits die Herrschaft von bewaffneten kriminellen Mafia-Banden, die sich immer mehr ausweitet. Die beiden Herrschafts-Gruppen haben sich miteinander arrangiert und vereinbarungen geschlossen, ja, sie haben in einigen Fällen bereits eine Personalunion von beiden Seiten hervorgebracht (gleiche Personen, die zu beiden Gruppen gehören).

Ein Beispiel dafür waren die bewaffneten Angriffe der Mafia-Bande "Primeiro Commando da Capital" (PCC) auf Polizeistationen in São Paulo vor Jahresfrist.

Die Angriffe wurden mit Bomben, Schnellfeuergewehren und Maschinenpistolen auf Polizeireviere durchgeführt, ebenso wie mit gezielten Schüssen auf offenbar vorher ausspionierte Polizisten in Zivil und auf Polizeiautos, darunter eines, das auf einer belebten Brücke in der Stadt São Paulo fuhr.

So plötzlich, wie sie begonnen hatten, wurden die Angriffe nach fünf Tagen eingestellt. Nach etwa 250 bewaffneten Angriffen, einige auch außerhalb des Staates, und nach Aufständen in praktisch allen Gefängnissen des Bundesstaats São Paulo, nach insgesamt über 125 Toten, davon ein großer Teil Polizisten und andere Sicherheitskräfte, wurde offenbar eine Abmachung mit den Verbrechern geschlossen.

Die Terrorbande hätte die Angriffe nach allen seriösen Einschätzungen noch lange weiterführen und das Leben der 20-Millionenstadt São Paulo zum Erliegen bringen können, so wie dies am zweiten Tag der Angriffe schon der Fall war(tagsüber konnten die Menschen ihre Arbeitsstelle nicht erreichen, weil fast keine Omnibusse fuhren, nachts hatten die Banditen eine inoffizielle Ausgangssperre verhängt, die fast vollständig eingehalten wurde).

Doch das offizielle São Paulo dementiert energisch, daß man verhandelt habe und mit Terrororganisationen Verträge schließt. Der neue Gouverneur (entsprechend dem Ministerpräsident des Bundeslandes) wie auch der alte negieren, daß es eine Vereinbarung gegeben habe, deren Bruch zu den Terrorüberfällen geführt habe, wie auch, daß es jetzt eine neue Vereinbarung gebe.

Sie konnten aber nicht erklären, warum die Angriffe plötzlich begannen und plötzlich abgebrochen wurden, bzw. ihre Erklärungen waren nicht schlüssig. Die Umstände waren völlig eindeutig.

Der mutmassliche Anführer der kriminellen Mafia-Bande PCC sitzt ein und war zwei Tage vor Beginn des Terrors in ein Hochsicherheitsgefängnis 620 km von der Hauptstadt entfernt gebracht worden. Daraufhin begann die Terrorwelle.

Einer der Anwälte des mutmaßlichen Anführer der gefangenen Mitglieder der Mafia wurde nach dem Wochenende mit verringerter Terrortätigkeit mit dem Polizeihubschrauber (!) nach Presidente Wenceslau geflogen und konnte mit ihm sprechen, obwohl das Gefängnis-Statut des Hochsicherheitsgefängnisses ihm dies Recht erst nach 7 Tagen im neuen Gefängnis zugesteht. Bei diesem Gespräch war ein hoher Polizeioffizier des Staates zugegen. Wenige Stunden nach dem Gespräch waren alle Angriffe eingestellt und alle Revolten in den Gefängnissen waren friedlich zu Ende gegangen, etwas, was normalerweise Wochen von Verhandlungen dauert.

Corcovado von Botafogo aus

Ein Teil der Presse und zwei Fernseh-Stationen in Brasilien gehen davon aus, daß eine Vereinbarung erzielt wurde, deren Inhalte aber nicht bekannt sind. Wichtige Zeitungen, wie die größte Tageszeitung Brasiliens, die „Folha de São Paulo" sprechen offen über die Vereinbarungen. Selbst die „New York Times" hob in ihrem Artikel die vermuteten Vereinbarungen hervor.

Inzwischen ist es auch schon kein Geheimnis mehr, daß offenbar vorher bereits durch den alten Gouverneur eine Vereinbarung, genannt Waffenstillstand, geschlossen worden war. Nach Angaben der "Folha" wurden der Terrororganisation in diesem Vertrag zugestanden, daß seine Mitglieder, wenn sie gefasst werden, in Gefängnisse in der Nähe ihrer Wohnorte kommen und daß sie dort Handys zur Verfügung haben, um ihre „Geschäfte" vom Gefängnis aus führen zu können.

Einem Monat vorher war der Governeur von São Paulo, Alckmin, zurückgetreten, weil er als Kandidat seiner Partei, der PSDB, für die Präsidentenwahlen später im Jahr aufgestellt worden war. Seitdem war sein Stellvertreter Gouverneur. Der wusste entweder nichts von den Vereinbarungen mit der Verbrecherbande oder wollte Muskeln zeigen und begann die Gefangenen des PCC zu verlegen, was diese wohl als Bruch der Vereinbarungen auslegen mußte.

Nun zeigte die Terrorbande ihrerseits Muskeln und hätte dies wohl Wochen und Monate fortsetzen können. Nach Schätzungen der Medien hat das PCC etwa 5000 Mann zur Verfügung, nicht gezählt die Tausende von Helfern. Nach eigenen Angaben sind es 20.000. Damit aber ist zumindest deutlich geworden, daß es in Brasilien bereits eine Doppelherrschaft gibt, in der die Macht zwischen der Regierung einerseits und den Drogen-Terrorbanden andererseits geteilt ist, wobei beide Seiten mit Drohungen und Vereinbarungen das zerbrechliche Gleichgewicht zu halten versuchen.

Rio de Janeiro, Zuckerhut und Corcovado von Niteroi aus

Wie bereits gemeldet, war vorher schon eine Auseinandersetzung zwischen Staatsmacht und einer Terrorbande nach einem Waffenraub aus einer Militärkaserne in Rio de Janeiro mit einer Vereinbarung abgeschlossen worden, wie Presseorgane berichteten. Auch damals war die Vereinbarung dementiert worden. Man konnte aber auch in jenem Fall die Umstände nicht zufriedenstellend erklären.

Es gab in São Paulo erneut nächtliche Attacken einen Tag nach dem Ende der Angriffswelle und nachdem es eine Nacht ruhig geblieben war. Neben einer Anzahl verbrannter Omnibusse gab es u.a. einen Angriff auf eine Schule, einen auf ein Gebäude der Wasserversorgung und einen auf das Rathaus von Osasco, einer der Städte im Bereich Groß-São Paulo. Insgesamt wurden in dieser Nacht 17 Tote gezählt.

Beim genaueren Hinsehen stellt sich aber heraus, daß keiner der Angriffe mehr als Sachschaden verursachte, während alle 17 Toten angeblich Angreifer waren, die von der Polizei erschossen wurden. Ein Polizeisprecher nannte die Angriffe dieser Nacht ‚Surf’ von Amateuren, also Leuten, die auf einer Woge mitschwimmen. Dazu kam dann offensichtlich die ‚Nacht der langen Messer’, das Ritual von Polizisten immer, wenn Polizisten ermordet wurden: Statt die Verbrecher zu fangen, werden wahllos Leute in den Armenvierteln umgebracht und dann als „Angreifer" bezeichnet.

Inzwischen gibt es auch bereits andere Kriminelle, die im Gefolge des PCC ihre tödlichen Abrechnungen durchführen. So hatte nach Polizei-Angaben ein Massaker mit 10 Toten in dieser Nacht in Guarulhos im Großraum São Paulo keinen Zusammenhang mit dem PCC.

Eine Anzahl von Presseorganen und Fernsehstationen in Brasilien unterdrückte völlig alle Meldungen über die Vereinbarungen mit den Verbrechern, so als ob dies nicht offensichtlich wäre. Sie berichteten einfach nur, die Angriffe hätten aufgehört, ohne eine Begründung zu suchen. Offenbar ist man sich bewußt, daß es weitreichende Konsequenzen hat, wenn ins öffentliche Bewußtsein eindringt, daß die brasilianische Oligarchie mit Terrorbanden gemeinsame Sache macht.

Zwei Tage nach dem Ende der Attacken kam die Meldung, der Anführer der gefangenen PCC-Mitglieder, ein gewisser Cartola, werde aus dem Hochsicherheitsgefängnis zurückverlegt werden. Ein weiterer Beweis für das geleugnete Abkommen.

Offenbar war der Staat nicht bereit, in einen Krieg mit den Verbrechern einzutreten und machte stattdessen Zugeständnisse. Fragt sich, was genau der Grund dafür ist.

Die Regierung versucht den Schein aufrechterhalten, sie sei an der Macht und nicht das PCC.

Die "Folha" spekuliert, der Gesichtsverlust der Regierung, wenn man wochenlang nichts gegen die Terrorherrschaft einer Kriminellenbande unternehmen hätte können, wäre offenbar als so groß angesehen worden, so daß die Vereinbarung das kleinere Übel zu sein schien. Bleibt aber weiter die Frage, warum man dann nicht einen Krieg in vollem Umfang gegen die Terrorbande geführt hat, wenn wirklich eine so grosse Gefahr von ihr ausging.

Oder ist es etwa schon so, dass eine solche Kriegführung gar nicht möglich war, weil ein wichtiger Teil der brasilianischen Oligarchie bereits mit den Terrorbanden verknüpft ist und den Krieg sabotiert hätte (und bereits damit gedroht hat). In diesem Fall gibt es in Brasilien nicht nur eine Doppelherrschaft, sondern eine, in der sich die Regierung Ultimaten von Verbrecherbanden beugen muss.

Auch die vorherige Vereinbarung dürfte bereits in einer solchen Situation der Drohung zustande gekommen sein. Nach außen hin dementiert man einfach.


Dieser Artikel verwendet Teile eines früheren, der im direkten Zusammenhang mit den Ereignissen vor etwa einem Jahr erschienen war. Zu jener Zeit war aber eine umfasssende Analyse nocht nicht möglich. Darum wird dies hier noch einmal aufgegriffen. Das hat auch eine wichtige Bedeutung angesichts der Anklagen, die "Amnesty International" gegen die brasilianische Regierung vorgebracht hat, nicht konsequent gegen das organisiertes Verbrechen vorzugehen.

Sonntag, 18. März 2007

El Dorado - der grösste Goldfund bis dahin

Wie die Kolonialländer ausgeraubt wurden

Von Elmar Getto

"Das brasilianische Gold hinterliess Baracken in Brasilien, Tempel in Portugal und Fabriken in England." (Eduardo Galeano, lateinamerikanischer Schriftsteller)

Gold faszinierte die Menschheit seit Urzeiten. Als ab 1492 Amerika erobert wurde, legte man das Hauptaugenmerk auf etwaige Goldvorkommen. Tatsächlich fand man auf dem Gebiet des heutigen Mexico und der heutigen Vereinigten Staaten ein wenig Gold, aber nichts, was den Aufwand gerechtfertigt hätte (erst viel später wurden die USA einer der wesentlichen Goldproduzenten). Die Suche der Spanier nach „El Dorado“ blieb ohne Resultat.

Wer mehr als ein Jahrhundert später, etwa um 1620 herum, wirklich so etwas wie ein „El Dorado“ entdeckte, waren die Portugiesen, die sich mit dem östlichen Teil des südamerikanischen Kontinents hatten zufrieden geben müssen (heute Brasilien genannt), als im Vertrag von Tortesillas 1494, zwei Jahre nach Christophorus Kolumbus erster Mission, die Welt unter den beiden damaligen Supermächten Spanien und Portugal aufgeteilt wurde.

Bis dahin hatte die Menschheit schon beachtliche Mengen Gold angesammelt, sei es, um Schmuckstücke daraus zu machen oder einfach, um die Macht zu nutzen, die Gold (und damit Geld) auch damals schon gab. Ab diesem Jahr wurde aus Brasilien während der folgenden 200 Jahre bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1822 noch einmal in etwa die gleiche Menge an Gold abtransportiert und nach Europa gebracht, wie jene, die bereits im Besitz der Menschheit war.

Brasilien (topographisch)

Brasilien ist an Bodenschätzen eines der reichsten Ländern der Welt, in dieser Hinsicht vergleichbar mit Südafrika. Vor allem Gold, Diamanten und Smaragden finden sich in beiden Ländern – die erdhistorisch zusammen lagen, bevor die Kontinente auseinanderdrifteten – in beeindruckenden Mengen. Beide Länder haben gewaltig unter diesem Reichtum gelitten und leiden darunter, so wie der Kongo, der bis heute wegen seiner Diamanten nicht zur Ruhe kommt, so wie der arabische Raum, der ohne Unterbrechungen überfallen wird wegen seines Ölreichtums, zerstückelt und in kleinen Teilen verspeist.

Heute sind die meisten grossen Vorkommen in Brasilien bereits ausgebeutet. Nur die fast unendlich grossen Eisenerzvorkommen machen heute noch Brasilien zu einem der grossen Rohstoff-Lieferanten der Menschheit.

Portugal war 1620 aufgrund seiner Großmachtambitionen bereits bis über beide Ohren verschuldet – an die britische Krone. England benutzte seine engen Bindungen zu Portugal, um ein Gegengewicht gegen die damalige Weltmacht Spanien auf der iberischen Halbinsel in seinen Händen zu haben.

Als Karl der Fünfte im Jahre 1516 den spanischen Thron bestieg (den er von seinem Großvater Ferdinand - der Kolumbus nach Westen geschickt hatte - geerbt hatte) und 1519 dann auch den Deutschen und Österreichischen Thron erbte (von seinem anderen Großvater Maximilian dem Ersten), als er ‚Mexico’ und ‚Peru’ erobert hatte (will sagen die Azteken und die Inkas ausgerottet und versklavt hatte), herrschte der spanische König über das bei weitem größte Imperium, das es je in der Menschheitsgeschichte gegeben hatte – man sagte, daß in seinem Reich die Sonne nie unterging. Spanien war, was heute die USA ist – der ‚Herr der Erde’. Zu jenem Zeitpunkt war Portugal bereits eine Weltmacht im Niedergang.

England war dagegen eine aufstrebende Macht. Heinrich der Achte von England (der zwei seiner Gattinen enthaupten ließ, darunter Anna Bolena, die Mutter der späteren Elisabeth I.) war anfänglich noch Verbündeter Karls V., solange es gegen Frankreich ging, aber im weiteren Verlauf der Geschichte (Elisabeth I., konnte bereits die Armada Spaniens besiegen - 1588) wurde die Auseinandersetzung zwischen England und Spanien zum wesentlichen Kampf um die Weltherrschaft, der erst im Jahre 1805 mit der Niederlage der spanischen Armada gegen die englischen Schiffe Admiral Nelsons bei Trafalgar endgültig zugunsten Englands entschieden wurde.

Während dieser ganzen Zeit benutzte England Portugal als Faustpfand gegen Spanien, zum einen als Verbündeter, aber ebenso als abhängige Macht aufgrund ihrer massiven Verschuldung gegenüber England. Es konnte also nichts Schlimmeres passieren für Spanien (und nichts Besseres für England), daß ausgerechnet auf dem Gebiet Portugals in Südamerika große Goldvorkommen entdeckt würden, aber genau dies geschah.

Als das Innere des inzwischen schon ‚Brasilien’ genannten portugiesischen Kolonie in Südamerika erforscht wurde, fand man unter anderem im Jahr 1620 auf dem Gebiet einer Ansiedlung genannt Sabará eine ergiebige Goldmine. Heute ist Sabará nicht mehr als ein kleiner Ort im Einzugsbereich der Millionenstadt Belo Horizonte, Hauptstadt des Bundestaates Minas Gerais (‚Allgemeine Minen’, man stelle sich vor, wieviel Minen es geben muß, bis man einen ganzen Bundesstaat so nennt) [nebenbei gesagt der Ort, wo der Autor nun lebt].

Bis dahin war Gold im wesentlichen in den Flußsanden gefunden worden. Von Zeit zu Zeit fand man kleine goldschimmernde Goldstückchen. Es gab aber auch schon Goldminen, wo Gold aufgrund seiner Farbe zwischen Quarzgestein und ähnlichem gefunden wurde – so z. B. im Harz und im Schwarzwald – heute alle längst ausgebeutet.

Etwa zu dieser Zeit wurde aber die Entdeckung gemacht, daß Gold auch in schwarzen Einlagerungen zwischen Gneis und Granit gefunden werden kann. Dort ist das Gold in so kleinen Partikeln vorhanden, daß sie schwarz statt golden erscheinen. Die zeitweilige Hauptstadt von Minas Gerais, die damals ‚Vila Rica’ hieß und sich schnell zur größten Goldstadt der damaligen Welt entwickelte, heißt bis heute Ouro Preto, ‚schwarzes Gold’.

Schnell stellte sich heraus, daß nicht nur in Sabará und Ouro Preto, sondern in vielen Gemeinden der ganzen Region Gold in allen möglichen Formen vorkommt, und nicht nur Gold, sondern auch Diamanten und Smaragden.

Es gelang Portugal, diese Entdeckungen weitgehend geheim zu halten und in aller Stille ein System der Maultier-Transporte aus der Region ‚Zentrales Minas Gerais’ an die Küste zu organisieren, nach Parati (später nach Rio de Janeiro), wo die Schätze nach Portugal eingeschifft wurden (man kann heute diese Maultierpfade noch besichtigen, unter dem Namen "Königlicher Weg"), um von dort umgehend nach England weiter gesandt zu werden, um die Schulden zu bezahlen. Wenn Sie heute unsagbare Schätze im Tower von London bewundern können, wenn die britische Königsfamilie eine der reichsten der Welt ist, so haben Gold und Edelsteine aus Brasilien wesentlich dazu beigetragen.

Ouro Preto, damals Hauptstadt des Bundesstaates Minas Gerais, ist heute eines der Zentren des Tourismus in Brasilien, denn es stellt das grösste erhaltene Barock-Ensemble der Menschheit dar. Nachforschungen dort ergaben, daß zum Zeitpunkt des Höhepunkts des Goldbooms in der Region, das war etwa um 1780 herum, allein im Gebiet der Gemeinde Ouro Preto über Tausend (1000!) Goldminen arbeiteten, von denen keine weniger als 10 Tonnen Gold pro Jahr produzierte, einige wesentlich mehr.

Nimmt man einen Durchschnitt von etwa 15 Tonnen, sind das allein für eine Gemeinde 15.000 Tonnen pro Jahr Gold. Es gab aber mehr als 50 Gemeinden in der Region im Bereich von Hundertfünfzig Kilometern um Belo Horizonte herum (die Region ‚Zentrales Minas Gerais’), die in ähnlicher Weise Gold produzierten. Nehmen wir nur 25 von ihnen mit einem Schnitt von 500 Goldminen mit einem Schnitt von 10 Tonnen pro Jahr (das ist tief geschätzt), so gab es zu dieser Zeit in der Region eine jährliche Produktion von 140.000 Tonnen Gold (einschliesslich Ouro Preto).

Nimmt man an, dass für den gesamten Zeitraum von 200 Jahren ein Schnitt von nur einem Zehntel dieses Wertes erreicht wurde (erneut tief geschätzt), also 14.000 Tonnen Gold jährlich, so hat sich die Europäische Union (man kann heute nicht mehr ein einzelnes Kolonialistenland verantwortlich machen, denn im finanz-politischen Sinne sind alle unsere Länder in der Europäischen Union aufgegangen) aus der Region ‚Zentrales Minas Gerais’ etwa in der Grössenordnung von 2 Millionen und 800 Tausend Tonnen Gold unrechtmässig angeeignet (um das Wort Raub zu vermeiden).

Das wäre nach dem heutigen Goldwert von etwa 10.000 Dollar pro Kilogramm ein Gesamtwert von (in englischer Zählung) 28 Trillion Dollars, also 28.000 Billion Dollars oder (in deutscher Zählung) 28 Billionen Dollar oder 28 000 Milliarden Dollar.

In Wirklichkeit sind diese Werte weit höher, denn zum damaligen Zeitpunkt war der Goldwert viel höher als heute. Außerdem wurde ja nicht nur in dieser Region Gold gefunden und abgebaut, sondern auch in anderen Regionen Brasiliens, wenn auch diese Region die zentrale Goldregion war. Ebenso kommt dazu, daß aus Brasilien ja nicht nur Gold herausgeholt wurde. Für Diamanten z.B. dürfte fast die gleiche Relation gelten, nämlich daß etwa die Hälfte aller Diamanten der Menschheit zum Zeitpunkt 1822 (der Unabhängigkeit Brasiliens) aus Brasilien stammten, für Smaragde sogar noch mehr. Einige der größten Smaragdvorkommen der Erde sind in Brasilien, z.T. ebenfalls in der genannten Region, z.T. in Pernambuco.

Der damalige Goldpreis für ein Kilo lag nach einem Buch, das vor einigen Jahren in Brasilien veröffentlicht wurde, in der Größenordnung des Jahreseinkommens eines hohen königlichen Beamten, wie z.B. Vasco da Gama (das ist der, der den Seeweg nach Indien um das Kap der Guten Hoffnung herum entdeckt hat).

Jenes Buch sagt, dass der Goldpreis in den folgenden 200 Jahren in etwa in dieser Höhe blieb. Nehmen wir den Betrag des Jahresgehaltes eines heutigen Ministers (Sekretärs) der Europäischen Union, das dürften mindestens 200.000 Euro sein (das ist wieder niedrig geschätzt), so können wir sehen, daß der damalige Werte des Goldes etwa 20 mal so hoch wie heute war. Würden wir diesen Faktor 20 auf den obigen Betrag von (in englischer Zählung) 28 Trillion Dollars’ anwenden, so kommen wir etwa auf eine halbe Quatrillion Dollar (‚half a quatrillion of dollars’, eine Quatrillion ist eine 1 mit 15 Nullen; in deutscher Zählung wären das 500 Billionen Dollars).

Gold

Angesichts solcher Beträge, die aus Brasilien geraubt wurden, sollten wir einen Blick auf die heutige Situation Brasiliens werfen:

Während die Brasilianischen Banken (und die ausländischen Banken in Brasilien) Jahr für Jahr neue Rekordprofite vermelden, während die Reichen in Brasilien in einem Meer von Freudentränen schwimmen vor lauter steigenden Profiten, sinkt das Volk mehr und mehr in eine noch tiefere Armut.

Die offiziellen Zahlen der UNO (man weiß nicht, inwieweit sie zuverlässig sind) sagen, daß 70 der 170 Millioner Brasilianer unterhalb der offiziellen Armutsgrenze von 1 Dollar pro Tag und Person leben und daß von diesen 70 Millionen 50 Millionen an Hunger und Unterernährung leiden. Man weiß allerdings nicht, wie die UNO sich vorstellt, daß man mit unter 1 Dollar pro Tag evtl. nicht an Unterernährung leiden könnte.

Die offiziellen Zahlen der Arbeitslosigkeit sind geschönt, aber der Industrieverband von São Paulo hat neue Zahlen veröffentlicht, die im Grossraum São Paulo eine tatsächliche Arbeitslosigkeit von fast 30% der aktiven Bevölkerung zeigen und diese Zahl dürfte der tatsächlichen deutlich näher sein und auch ähnlich oder höher in anderen Regionen sein.

Die Folge dieser tiefen Armut ist, daß tagtäglich Hunderte von Kindern in Brasilien an den Folgen der Armut sterben (von den Erwachsenen gar nicht zu reden).

Man mag der Meinung sein, daß hierfür hauptsächlich die ungleiche Verteilung des Einkommens im Land die Ursache ist. Tatsächlich ist die Menge an Geld, die jedes Jahr von korrupten Politikern und anderen Angehörigen der Oligarchie aus den öffentlichen Kassen in die eigenen Taschen umgeleitet wird, beachtlich, aber sie gehen nach Schätzungen einer unabhängigen NGO (Non-Governamental Organisation) nicht über etwa 20% des Budgets hinaus und machen damit nur wenige Prozent des Bruttosozialprodukts aus.

Dagegen haben die Zinszahlungen für die Schulden Brasiliens jetzt die Marke von 50% des Staatshaushaltes überschritten. Im Jahr 2003 zahlte Brasilien etwa 50 Milliarden Dollar (‚50 Billion Dollars’) an Zinsen. Das sind nur die Zinsen, darin sind noch keinerlei Rückzahlungen enthalten. An Rückzahlungen sind die imperialistischen Institutionen wie Regierungen, Grossbanken, Grosskonzerne und superreiche Einzelpersonen auch nicht im mindesten interessiert. Was für sie das Interesse an Brasilien ausmacht, ist seine Kapazität, unglaubliche Summen an Zinsen jährlich zu zahlen.

Die Höhe der Gesamtschulden Brasiliens sind aufgrund der Ereignisse der letzten Jahre (drei kurz aufeinanderfolgende Wirtschaftskrisen, jeweils verbunden mit hohen Zinsen, erneuten Kreditaufnahmen - um alte Schulden abzuzahlen) und steigendem Dollarkurs, was die Schulden im Zeitraum der 8 Jahre der letzten Regierung mehr als verdoppelt hat) so angewachsen, daß sie objektiv unbezahlbar geworden sind. Selbst in Tausenden von Jahren und selbst unter günstigsten Umständen könnte das brasilianische Volk dies nicht zurückzahlen.

Nun mag jemand sagen, na, warum hat sich Brasilen denn auch soviel Geld geliehen?

Nur ist Brasilen eben schon mit diesen Schulden geboren worden und hat es seitdem nicht geschafft, sich derer zu entledigen. Als 1822 der damalige Statthalter des portugiesischen Königs (seines Vaters), Dom Pedro I., die Unabhängigkeit Brasiliens erklärte, war dies nicht der heroische Akt der Auflehnung gegen den Vater, sondern die gut durchgerechnete Möglichkeit für Portugal, sich unbezahlbarer Schulden (an die englische Krone) zu entledigen. Die Gesamtschulden Portugals wurden (als Preis für die Unabhängigkeit) schlichtweg auf Brasilien übertragen.

Auch muß man sehen, in welcher Position sich ein an sich reiches Land wie Brasilien damals befand. Es war vollkommen ausgeraubt und arm und wurde kurz danach auch von Dom Pedro I. zurückgelassen in schwierigsten finanziellen Verhältnissen. Die meisten Goldminen, wie auch Diamanten- und Smaragd-Vorkommen, waren zu diesem Zeitpunkt erschöpft oder jedenfalls nur noch mit hohem Aufwand ergiebig.

Man kann in der Nähe von Mariana, eine der anderen Goldstädte im Zentralen Minas Gerais heute in eine Goldmine einfahren, die eventuell in Kürze wieder in Betrieb genommen werden soll angesichts der steigenden Goldpreise - und die dann natürlich nicht mehr zur Besichtigung frei ist.

Wenn wir die oben genannte Summe von einer halben Quatrillion Dollar den Zuständen in Brasilien gegenüberstellen, ergeben sich weitgehende Folgerungen. Dabei muß man auch noch berücksichtigen, daß dies tiefe Schätzungen waren, die nicht einmal anderes Gold außerhalb dieser Region einschlossen, ebensowenig wie andere Güter und Edelstoffe, die aus Brasilien herausgeholt wurden.

Nehmen wir einmal an, Brasilien würde heute Schadenersatz (Reparationen, Ausgleichzahlungen) verlangen, was es in Wirklichkeit nicht tut.

Wenn aber (mit vollem Recht) jüdische Zwangsarbeiter (der Begriff Sklaven, den es ja schon gibt für Zwangsarbeiter, wurde aus guten Gründen peinlichst vermieden) des faschistischen Deutschen Hitlerregimes vom heutigen Deutschland Ausgleichszahlungen verlangen konnten und bekommen haben für sich bzw. für ihre Nachkommen, so hat ganz offensichtlich auch ein kolonialistisch ausgebeutetes Land das Recht dazu.

Diese Ausgleichszahlungen an ehemalige jüdische Sklaven der Hitler-Herrschaft waren mehr symbolische Zahlungen, die nur etwa 10% des Wertes betrugen, den ihre Arbeit wirklich Wert war, soweit den Medien entnommen werden konnte. Um dies zahlen zu können, wurde ein Fond geschaffen, in den einerseits die deutsche Bundesregierung einzahlte (das waren also Steuergelder, die aus dem deutschen Volk herausgeholt wurden) und andererseits von betroffenen Industriefirmen erwartet wurde einzuzahlen. Nach diversen begründeten Drohungen mit Schadenersatzprozessen in Milliardenhöhe in den USA fand sich schließlich wirklich ein Teil der Firmen bereit, ein paar ‚peanuts’ beizusteuern.

Würde Brasilien vergleichsweise sich ebenfalls mit 10% zufriedengeben, würde zusätzlich auf die Aktualisierung des damaligen Goldwertes verzichten und würde auf Schadenersatz für alle anderen Werte verzichten außer dem Gold aus der Region ‚Zentrales Minas Gerais’, so hätte die Europäische Union immer noch 2,8 Trillion Dollars (oder entsprechend weniger in Euro) zu entrichten.

Nehmen wir nun an, Brasilien würde in unendlicher Güte eine Rückzahlungsdauer von 500 Jahren akzeptieren, so wären Jahresraten von etwa 50 Milliarden (Billions) Euro fällig. Da die Gesamtschulden Brasiliens etwa 600 Billions (Milliarden) of Euro betragen, wären die Schulden in zwölf Jahren bezahlt und es ständen immer noch 482 Jahre von jährlichen Zahlungen aus.

Natürlich ist klar, daß die Europäische Union nichts dergleichen als Schuld anerkennen und bezahlen wird. Das herrschende Finanzkapital in der EU wird ganz im Gegenteil darauf bestehen, daß Brasilien weiterhin Jahr für Jahr astronomische Summen nur als Zinsen zahlt und wird auch nicht mit sich darüber reden lassen, wenigstens die Schulden zu erlassen, die Brasilien von Portugal geerbt hat.

Der International Monetary Found ist der internationale Wächter über diese pünktlichen Zahlungen (IMF, dessen Vorsitzender der jetzige Bundespräsident Köhler bis kurz vor seiner Wahl war). Er hat letzhin die hervorragende Zahlungsmoral und –pünktlichkeit Brasiliens gelobt und angekündigt, daß Brasilien mit seiner jetzigen Politik keine neuen ‚Abmachungen’ mit dem IMF mehr schließen muß, sondern jederzeit ‚gut’ ist für neue Anleihen, um die Schulden Brasiliens (und damit seine jährlichen Zinszahlungen) noch weiter zu erhöhen. Der IMF ist also zufrieden mit der Zahl der sterbenden Kinder in Brasilien.

Da Köhler nun deutscher Bundespräsident ist – und doch kurz zuvor noch Fachmann für Kinderausrottung war – hat er uns in seiner Weihnachtsansprache 2004 auch gleich deutlich gemacht, daß dies nun auch auf Deutschland zukommen wird. Er forderte uns auf, Nachbarschaftshilfen einzurichten und uns an afrikanischen Ländern zu orientieren, denn er weiß nur zu genau, daß die herrschende Allparteienkoalition afrikanische und brasilianische Zustände nun auch in Deutschland einführen will. Hartz IV war nur der erste Schritt dazu. Da wird man Nachbarschaftshilfe brauchen, um die Zahl der täglich wegen Armut sterbenden deutschen Kinder niedrig zu halten.


Dies war ursprünglich der fünfte Beitrag der Brasilien-Reihe von Elmar Getto ("Brasilien jenseits von Fussball und Samba"), zuerst veröffentlicht in "Rbi-aktuell" vom 29.12.2004, hier leicht vom Autor aktualisiert und redigiert.


Hier die Links zu allen Teilen der Reihe „Brasilien jenseits von Fussball und Samba“

- Teil 1: „Wie der Amazonas zu seinem Namen kam“

- Teil 2: Menschenfresser-Country

- Teil 3: „Ausgerottete Künstler“

- Teil 4: Niemeyer wird 97 – Auf dem Höhepunkt des Schaffens

- Teil 5: Brasilien und Gold

- Teil 6: Die Landschaften Brasiliens – Der Amazonas-Regenwald

- Teil 7: Brasilien und Strom

- Teil 8: Die Landschaften Brasiliens – Mata Atlântica

- Teil 9: Santos Dumont und der erste Motorflug

- Teil 10: SIVAM – Big Brother in Amazonien

- Teil 11: Sprit aus nachwachsenden Rohstoffen

- Teil 12: Regenwaldvernichtung und Trockenheit im Amazonasgebiet

- Teil 13: Wie unsere Zukunft in der beginnenden kapitalistischen Barbarei aussähe – „Ich habe kein Leben“



Berichtigung

Zusatz von Elmar Getto zum Artikel „El Dorado - Der grösste Goldfund bis dahin“, eingestellt am 18. März 2007 im Blog ‚Karl Weiss – Journalismus’ vom 2. April 2007

Es hat sich herausgestellt, dass meine Recherchen für diesen Artkel damals in zwei Punkten fehlerhaft waren. Darum schreibe ich hier eine Berichtigung. Die wesentlichen inhaltlichen Aussagen des Artikels sind davon nicht betroffen, aber trotzdem sollten Fehler nicht vorkommen und wenn, müssen sie verbessert werden.

Zunächst sei klar festgestellt: Es wurden durch den Fond für die Entschädigung von zu Sklavenarbeit gezwungenen Kriegsgefangenen und Ausländern während der deutschen faschistischen Herrschaft nicht nur Juden entschädigt, sondern auch andere, soweit sie die Möglichkeit hatten, in Deutschland Anträge zu stellen. Unbeschadet bleibt, diese „Entschädgungen“ waren bestenfalls symbolisch. Sie betrugen im Einzelfall 5 000 DM oder in speziellen Fällen 15 000 DM, das ist für meist jahrelange Sklavenarbeit keine Entschädigung. Die Bezeichnung „jüdische Zwangsarbeiter“ im Artikel war also falsch, es hätte heissen müssen "jüdische und andere Zwangsarbeiter".

Der andere Fehler bezieht ich auf die Goldmengen. Ich habe damals minutiös in Ouro Preto und anderen Orten die Mengen an gefördertem Gold recherchiert. Es wurde aber nun klar, was ich recherchiert habe, waren offenbar die Mengen an goldhaltigem Erz, die zu Tage gefördert wurden.

Ich muss also auf die von einem der Kommentatoren zum Artikel geannte Zahl übergehen, das wären also 140 000 Tonnen Gold statt der von mir im Artikel angegebenen zwei Millionen und achthunderttausen Tonnen Gold, das ist also nur ein Zwanzigstel dieser Menge. Anders ausgedrückt, meine Zahl war um de Faktor 20 zu hoch. Das kommt hin, denn das goldhaltige Erz aus dieser Region hat im Schnitt einen Goldgehalt von etwa 5%.

Damit wird der Gesamtwert des aus dieser Region geraubten Goldes bei einem anähernden Goldpreis von 10 000 Euro pro Kilogramm zu 1,4 Billiarden Euro (in englisch 1,4 Trillion Euro).

Rein zufällig ist es aber genau der Faktor 20, um den, wie im Artikel dargestellt, der Wert des Goldes damals höher war. Damit bleibt die Rechnung bezüglich der Abzahlungsraten bei 500 Jahren Abzahlung bestehen, nur wäre der Teilsatz zu streichen: „... würde zusätzlich auf die Aktualisierung des damaligen Goldwertes verzichten, ...“ .

Aber auch, wenn man das aufrecht erhielte, würde immer noch eine lange Zeit mit hohen Zahlungen verbleiben, nachdem längst alle Schulden zurückgezahlt wurden.

Elmar Getto

Donnerstag, 15. März 2007

Neuester Witz aus Brasilien

Bush, Bin Laden und Lula in der Hölle

Gefunden von Karl Weiss

Bush, Bin Laden und Lula sterben und kommen in die Hölle. Bush fragt, ob er in die USA telefonieren darf, um zu erfahren, wie es dort läuft. Der Teufel erlaubt es ihm. Nach einem Gespräch von drei Minuten bekommt er eine Rechnung von 10.000 Dollar vorgelegt. Danach fragt Bin Laden. Auch er darf telefonieren. Seine Rechnung für drei Minuten beläuft sich auf 20.000 Dollar. Dann kommt Lula. Auch er telefoniert 3 Minuten. Der Teufel stellt eine Rechnung von 2 Dollar aus. Warum ist das so billig? Der Teufel erklärt: Lokales Gespräch.


Veröffentlicht in der "Berliner Umschau" am 15. März 2007

Sonntag, 25. Februar 2007

Lulas Brasilien, Teil 8 - Deal mit der Mafia

Brasilianische Zeitung: Unfassbare Zusammenarbeit der Bundesregierung mit einer Mafia-Organisation

Von Karl Weiss

Die größte Tageszeitung Brasiliens hat am Dienstag berichtet: Die brasilianische Armee, ohne Erfolg auf der Suche nach gestohlenen Waffen, ist einen unerhörten "Deal" mit einer der großen kriminellen Mafia-Organisationen eingegangen: Gegen die Rückgabe der Waffen sollen die Einkreisungen der Favelas aufgehoben werden, damit die Mafia wieder ungestört ihren Drogen-Geschäften nachgehen kann.

Rio de Janeiro, Zuckerhut und Corcovado von Niteroi aus

Die brasilianische Armee dementierte diese Meldung, aber die "Folha de São Paulo" bestätigte erneut, daß ihr eindeutige Informationen über diesen Deal vorliegen.

Nach Angaben der Zeitung hatte die kriminelle Drogen-Organisation „Rote Fraktion" bereits am Sonntag die gestohlenen Waffen an das Heer übergeben, nachdem man einen umfangreichen Deal abgeschlossen hatte.

Der hätte im einzelnen folgende Punkte beinhaltet:

- Die Eingänge zu den Favelas würden wieder freigegeben, so daß die Drogenorganisation wieder ihren kriminellen Geschäften nachgehen kann.

- Die Waffen würden präsentiert, als hätte sie das Heer gefunden - und zwar in einer Favela, die nicht von der „Roten Fraktion" beherrscht wird.

- Einer der Unterführer der „Roten Fraktion", der in einem Hochsicherheitsgefängnis einsitzt, wird in ein normales Gefängnis überführt.

Tatsächlich sind seit Montagvormittag die Eingänge der Favelas wieder freigegeben. Tatsächlich hat das Heer am Dienstagnachmittag die gestohlenen Waffen angeblich gefunden und sie dann der Öffentlichkeit präsentiert. Sie seien in der Nähe der Favela Vidigal gewesen. Diese Favela wird nicht von der „Roten Fraktion" kontrolliert, sondern von einer anderen kriminellen Mafia-Vereinigung.

Die Armee erklärte, man werde nun auf die Suche nach den Verantwortlichen für den Raub gehen. Dazu werde man in einzelne Favelas eindringen und bestimmte Personen suchen.

Die Darstellung der Zeitung ist glaubwürdig. Ein solcher Deal ist umso unfassbarer, da es sich lediglich um zehn Gewehre und eine Pistole handelt, ein Klacks gegen die bereits vorhandene Bewaffnung der Drogen-Banden.

Damit hat sich der brasilianische Staat in eine Zusammenarbeit mit kriminellen Großorganisationen begeben, die allen Grundregeln eines souveränen Staates widersprechen.

Zumindest eine der Mafia-Organisationen, die bereits Teile des brasilianischen Staatsgebiets kontrollieren, hat einen fast-offiziellen Charakter als Verhandlungspartner der Behörden bekommen. Verantwortlich für diesen Deal sind die Chefs der Unterhändler der Armee, also die Bundesregierung unter Präsident Lula.

Dies ist Kapitalismus in seinem Verfallsstadium, bereits der Übergang in die kapitalistische Barbarei.


Dieser Artikel erschien am 17. März 2006 in der "Berliner Umschau", hier leicht redigiert als achter Teil der Reihe "Lulas Brasilien"


Links zu den anderen Teilen von "Lulas Brasilien":

Teil 1 - Terroranschlag - Verdächtige freigelassen

Teil 2 - Brasilien und die Sklaverei

Teil 3 - Die Liste der Ermordeten wird immer länger

Teil 4 - Abholzen und Abbrennen

Teil 5 - Brasilianische Regierung von Vatikan-Radio angeklagt

Teil 6 - Pressefreiheit in Brasilien

Teil 7 - Brasilien grösster Fleischexporteur der Welt

Donnerstag, 15. Februar 2007

Lulas Brasilien, Teil 7 - Brasilien grösster Fleischexporteur der Welt

Das Weltklima dankt

Von Karl Weiss

Jetzt sind die Statistiken veröffentlicht worden, jetzt ist es heraus: Brasilien ist im Jahre 2006 zum größten Fleischexporteur der Welt geworden. Was das für Konsequenzen für das Weltklima und die bereits beginnende Klimakatastrophe hat, sowohl wegen der Zerstörung der Regenwälder als auch durch die Freilandviehhaltung auf riesigsten Flächen ohne Baum und Strauch, das kann man erahnen.

Corcovado von Botafogo aus

2,2 Millionen Tonnen Fleisch wurden 2006 von Brasilien aus eingeschifft, was einen Wert von 3,9 Billions (Milliarden) US-Dollar ausmachte, ein Anstieg von 28 Prozent gegenüber dem Vorjahr, als es 3,06 Billions of Dollars waren.

Interessant, den Durchschnittspreis anzusehen: etwa 1.800 Dollar pro Tonne oder anders gesagt, etwa 1 Dollar und 80 Cents oder etwa 1 Euro und 40 Cent pro Kilo.

Dieser hübsche Preis (vergleichen Sie einmal, was Sie für Fleisch zahlen) schließt natürlich auch das wohlfeile Hühnerfleisch ein (Brasilien ist ebenso weltgrößter Exporteur von Hühnerfleisch), aber trotzdem bekommt man eine ungefähre Ahnung, wie bei diesen Geschäften des Lebensmittelbereiches sowohl die Erzeuger wie auch die Verbraucher geprellt werden, um der Lebensmittelindustrie und den Supermarkt-Konzernen Märchenprofite zukommen zu lassen.

Was aber am wichtigsten ist: Damit hat Brasilien 40 Prozent des Welt-Fleischmarktes erobert und den bisherigen Spitzenreiter Australien abgelöst. In Worten: Vierzig Prozent!

Hühner- und Schweinefleisch (letzteres in Brasilien selbst kaum abzusetzen) werden in Brasilien (wie auch Australien und den USA) so wie fast überall auf der Welt produziert: In engen Käfigen und Ställen, unter Einsatz von Wachstumshormonen und Antibiotika, Tierschutz gibt es weder hier noch sonstwo.

Interessant: Der Absatz von Hühnerfleisch aus Brasilien ging sogar zurück im Jahr 2006 gegenüber dem Vorjahr, laut Angabe der brasilianischen Züchterorganisation wegen weltweit zurückgehender Nachfrage. Der Zuwachs wurde also ausschließlich mit Schweine- und wohl vor allem mit Rindfleisch erzielt.

Was Australien und Brasilien gegenüber den anderen fleischerzeugenden Nationen auszeichnet: Beides sind Länder von kontinentalen Ausmaßen, mit (relativ) geringer Bevölkerungsdichte. Beide haben riesige Flächen von Grasland, auf denen man Rinder gezielt zur Fleischerzeugung züchten kann. Es handelt sich also um Kühe, die nicht gemolken werden, um freilaufende Rinder, die Quadratkilometer von Gelände zur Verfügung haben. Einen Winter, in dem man sie in den Stall holen müsste, gibt es praktisch nicht. Damit sind die Kosten der Erzeugung pro Kilo Rindfleisch fast unschlagbar.

Europäische Rinderzüchter im übervölkerten Mittel- und Westeuropa (die Niederlande, England und Deutschland gehören zu den am dichtesten besiedelten Gebieten der Erde) können da nicht mithalten. Sie müssen Futter für die Rinder kaufen – und seien es auch nur zermahlene Rinder (einer der Hauptgründe für BSE) – und haben damit weit höhere Kosten.

Überhaupt lohnt sich Rinderhaltung zur Fleischerzeugung in Deutschland nur, wenn die Kühe auch gemolken werden und damit ein Zusatzverdienst über den Verkauf der Milch hereinkommt. Unterstützten EU-Agrarsubventionen nicht die Rinderhaltung sowohl für Milchvieh als auch als Schlachtvieh, gäbe es sowieso keine Rinderhaltung mehr in der EU – bis auf Ausnahmen. Nun, das wäre auch kein Beinbruch.

Fleischland Brasilien

Photomontage Fleischland Brasilien


Das Problem ist Brasilien.

Aufgrund der Besitz- und Machtstrukturen in Brasilien wird die Rinderhaltung – unabhängig davon, ob sie wirklich einträglich ist, zur „Gewinnung neuen Landes“ genutzt. Das betrifft prinzipiell den Amazonas-Regenwald, aber auch andere schützenswerte und noch weitgehend naturbelassenen Landschaften, wie das trockene „Cerrado“ im Nordosten Brasiliens und das Sumpfgebiet Pantanal im Grenzgebiet mit Paraguay und Bolivien.

In allen drei Bereichen – flächenmäßig bei weitem am meisten am Rand des amazonischen Regenwaldes – wird, meist mit Brandrodung, zunächst ein Areal zugänglich gemacht. Bei dem feucht-warmen Klima gedeihen auf den gerodeten Flächen bald Gräser, Kräuter und Blumen. Dann wird Schlacht-Rind dort eingesetzt, das nun den Bereich abgrast und niedertrampelt und eine Neubildung von Regenwald verhindert. Nach einer Zeit, meist zwischen ein und drei Jahren, wird dann die Rinderherde auf ein neu dem Urwald 'abgerungenes' Land überführt und Soja auf dem „neugewonnenen“ Land angebaut.

Wer dies macht, sind nicht etwa hungrige Kleinbauern, die auf den so gewonnenen Boden angewiesen sind. Über 90 Prozent der Vernichtung von vorher naturbelassenen Flächen gehen auf das Konto von Großgrundbesitzern, Holzhändlern und superreichen Spekulanten.

Im Fall der Holzhändler wird das Gebiet nicht niedergebrannt, sondern gerodet, und im Fall der Spekulanten lässt man es zunächst brach liegen (meistens findet sich ein „lieber Freund“, der ein paar Tausend Stück seiner Rinder dort weiden lässt) und dann mit hohem Gewinn an einen anderen Reichen verkauft.

Die Regierung Lula unternimmt nicht das Geringste, um dem Vordringen der Superreichen gegen den Amazonaswald und andere naturbelassene Flächen Einhalt zu gebieten. Dazu müsste sie sich ja auch mit der brasilianischen Oligarchie anlegen, die ja eben genau von diesen Großgrundbesitzern, Holzhändlern, Spekulanten und außerdem auch den Hintermännern der riesigen kriminellen Mafia-Banden gebildet wird.

Für seine Unterstützung im Parlament braucht Lula aber genau die Stimmen der von dieser Oligarchie Beauftragten dort (zum Teil sind die Parlamentarier selbst die Oligarchen oder aus den Oligarchen-Familien, teilweise lassen sie sich von einem gewieften Rechtsanwalt dort vertreten).

So wird dann jedesmal, wenn wieder eine Entscheidung im Parlament ansteht, die Stimme durch „Wohlverhalten“ gekauft, d.h. die Bundesregierung sichert zu, der Superreiche darf eines der von ihm im Moment gerade bevorzugten illegalen oder halblegalen Geschäfte durchziehen, ohne von Polizei oder Staatsanwaltschaft 'gestört' zu werden.

Ein Land, das von einer solchen Oligarchie beherrscht wird, braucht keine äußeren Feinde mehr.

Die diversen Umweltorganisationen wie „Rettet den Regenwald“, ,Friedensforum’ und andere können also getrost ihre Kampagnen einstellen, in denen behauptet wird, es wäre der Zuckerrohranbau für den Benzin-Ersatz Alkohol oder das Bio-Diesel, die für die Abholzung des Regenwaldes verantwortlich seien. Es ist die Oligarchie. Sie würde auf jeden Fall abbrennen und abholzen - mit Alkohol und Biodiesel oder ohne.

Die Oligarchie macht die fettesten Profite und es wird ihr, wie in diesem Fall, das Fleisch, hauptsächlich von den imperialistischen Ländern, abgekauft. Dafür garantiert sie die Fortführung der US-freundlichen und neoliberalen Politik im Land.

Wenn man durch das Landesinnere Brasiliens fährt, z.B. hier im Bundestaat Minas Gerais, der eine größere Fläche einnimmt als die Bundesrepublik, so kann man riesige Weideflächen sehen, die fein säuberlich von anderem Bewuchs freigehalten werden, aber es sind kaum Rinder darauf zu sehen. Die riesige Zahl der Schlachtrinder verliert sich in einem Land von der Größe Brasiliens. Es können hier etwa noch 5-mal mehr Rinder weiden, ohne dass es zu einer Überweidung käme. Das Weideland wird von den Grossgrundbesitzern „vorgehalten“, um eventuell für Anbau zu dienen, falls sich eine profitable Frucht findet, oder um im Bedarfsfall noch weit mehr Rinder zu ziehen.

Die Unvernunft in der Ernährung der reichen Länder (und nicht nur jener), zweimal am Tag eine Fleisch-(Wurst-)Mahlzeit haben zu müssen, kann also noch beträchtlich ausgeweitet werden.


Glückwunsch, Brasilien! 40 Prozent, Brasilien!


Veröffentlicht am 15. Februar 2007 in "Journalismus - Nachrichten von heute".

Links zu den anderen Teilen von "Lulas Brasilien":

Teil 1 - Terroranschlag - Verdächtige freigelassen

Teil 2 - Brasilien und die Sklaverei

Teil 3 - Die Liste der Ermordeten wird immer länger

Teil 4 - Abholzen und Abbrennen

Teil 5 - Brasilianische Regierung von Vatikan-Radio angeklagt

Teil 6 - Pressefreiheit in Brasilien

Teil 8 - Deal mit der Mafia

Sonntag, 4. Februar 2007

Rio: Prostitution mit Staatsunterstützung

Vila Mimosa: Das beste, was man daraus machen kann

Reportage von Karl Weiss

Vila Mimosa in Rio, das ist so etwas wie ein Elends-Bordell. Man stellt sich das ziemlich eklig vor und es ist wirklich schlimm, aber es ist andererseits innerhalb all des Fürchterlichen, das Prostitution darstellt, eine weltweit in einiger Hinsicht vorbildlich geführte Institution.

Hieronymus Bosch Der Garten der Lüste

Wie ist das möglich? Ist Prostitution nicht der Inbegriff der Unterdrückung der Frau, unvereinbar mit der Menschenwürde und grundsätzlich als Angriff auf alles, was den Menschen teuer sein sollte, zu verurteilen? Ja, das ist sie! Das sollte man auch nie aus den Augen verlieren.

Eines der ersten Dinge, die abgeschafft wurden in der Sowjetunion nach der Errichtung des Sozialismus 1917 war die Prostitution, ebenso wie in China nach 1948. Umgekehrt war die Prostitution eines der ersten Dinge, die wieder eingeführt wurden nach der Wiedererrichtung des Kapitalismus in der Sowjetunion und anderen Ostblockländern 1956, ebenso wie nach dem gleichen Vorgang in China 1976.

Zusammen mit einer Bekannten (zur Absicherung) führte der Schreiber dieser Zeilen vier Interviews mit Prostituierten in der „Straße der Nutten" für den kleinen Mann in Rio de Janeiro.

Bei den Interviews, die mit drei ‚aktiven’ Prostituierten der Vila Mimosa geführt wurden, antworteten diese denn auch eindeutig auf die Frage mit Nein, ob es in einer eventuellen zukünftigen idealen Gesellschaft, in der alles richtig eingerichtet wäre und jeder sein Auskommen hätte, noch einen Platz für die Prostitution gäbe (jedenfalls dann, wenn klargestellt wurde, daß man mit dieser Frage nicht die moralische Verurteilung der Prostitution durch die Hintertür einführen will). Im Kern ist das Bewußtsein der Unvereinbarkeit der Prostituition mit der Menschenwürde jedem in der Menschheit bewußt, auch den Freiern und Prostituierten.

Nun haben wir aber noch den Kapitalismus, in dem die Prostitution täglich erneut fröhliche Urständ feiert. Der Frauenhandel und die Zwangsprostitution sind eines der einträglichsten Geschäfte, auf das sich immer mehr der ständig mächtiger werdenden kriminellen Groß-Organisationen werfen. War die Prostitution, z.B. in Deutschland schon bis zu einem gewissen Punkt aus den Klauen von Kriminellen befreit, so ist heute bereits die umgekehrte Bewegung zu beobachten.

Aus Anlaß der Fußball-WM wurden Hunderte Zwangsprostituierte nach Deutschland geschafft und der DFB und die FIFA hielten es nicht einmal für nötig, auf diesbezügliche Fragen überhaupt zu antworten.

Hieronymus Bosch, Garten der Lüste, Ausschnitt 17

Einen wesentlichen Teil der Kriminalisierung der Prostitution haben die Stadtväter auf dem Gewissen, die sogenannte Schutzzonen schafften und so die Prostitution nach dem Motto: „Aus den Augen, aus dem Sinn" an die Peripherie der Städte verbannten, wo sich in der Regel Straßenstriche bilden.

Ebenso ist es fatal, wenn die Prostituierten unter halblegalen Bedingungen arbeiten müssen, ständig von der Polizei geschnappt werden können.

Selma (Namen geändert), eine ältere Prostituierte in der Vila Mimosa in Rio, ist Vorsitzende des örtlichen Komittees, das sich um die Prostituierten kümmert und sie ausbildet. Sie erklärte uns, was das Problem der Straßenstriche ist:

„Dort [in den Strassenstrichen] kommen wir mit dem Schutz der Frauen vor Zwangsprostitution, mit dem Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung, mit Ausbildung bezüglich der Verwendung von Präservativen und bezüglich von Geschlechtskrankheiten, ebenso wie mit einer Selbstorganisation zur Verhinderung der Ausbeutung durch Zuhälter nur schwer voran. Dort tauchen laufend neue Frauen auf, oft von gewaltbereiten Zuhältern „beschützt", die jegliche Annäherung und jedes Gespräch mit den Frauen unterbinden. Taucht Polizei auf, sind sie blitzschnell verschwunden.

Bosch, Garten der Lüste, Ausschnitt 18

- Hier in der Vila Mimosa, auch wenn wir noch mit unhygienischen Zuständen kämpfen müssen, beginnt keine Frau, ohne zuerst bei uns einen Schnellkurs gemacht zu haben.

Lektion 1: Das Präservativ ist dein Lebensretter: „Ohne Präservativ - nur tot".
Lektion 2: Präservativ überziehen lernen, auch mit dem Mund.
Lektion 3: Wir brauchen keine Männer als Beschützer, wir beschützen uns gegenseitig.
Lektion 4: Wir sind die Starken, die Männer sind schwach - seh sie dir nur an!Lektion 5: Wir helfen alle dafür zu sorgen, daß keine Minderjährigen benutzt werden.
Lektion 6: Wir helfen alle dafür zu sorgen, daß niemand zur Prostitution gezwungen wird.
Lektion 7: Die Geschlechtskrankheiten, ihre Anzeichen, ihre Folgen und ihre Bekämpfung.
Lektion 8: Das Schmiermittel und sein Gebrauch.
Lektion 9: Wie verhält man sich in gefährlichen Situationen.

Erst danach kann die Frau hier anfangen. Sie wird einer der Bars zugeteilt, wo sie mit dem Besitzer der Bar ausmacht, wann sie arbeitet usw.

Bosch, Garten der Lüste, Ausschnitt 2

Hier haben wir einen Einheitspreis, 25 Reais (weniger als 10 Euro). Das ist dem knappen Geldbeutel der Männer angemessen, die hierher kommen und macht uns andererseits zu einem attraktiven Anziehungspunkt. Von den 25 Reais bleiben 3 Reais beim Besitzer der Bar, die anderen 22 bekommt die Frau.

Die meisten Frauen, die hier anfangen, bleiben weniger als zwei Wochen. Es gibt Hunderte von Gründen, warum sie wieder aufhören, aber der wichtigste ist, daß sie sich erniedrigt fühlen.

Andere Frauen bleiben für ein paar Monate. Nur wenige, vielleicht 15%, bleiben auf Dauer hier. Die Gründe, warum Frauen bleiben: Solche, die gut verdienen, bleiben oft lange. Wir hatten hier eine, die hat 54 Freier in einer Nacht geschafft. 54 mal 22 sind fast 1200 Reais (etwas weniger als 500 Euro) - in einer Nacht!

Andere bleiben, weil sie Spaß an der Sache haben. Den meisten Frauen macht das hier keinen Spaß, auch wenn manche den Männern etwas vormachen - aber an die 5 % der Frauen haben einfach Spaß an der Sache - und finden es toll, damit auch noch Geld verdienen zu können. Von denen, die bleiben, machen diese aber dann einen weit grösseren Anteil aus. Glatt die Hälfte der Frauen, die hier auf Dauer bleiben und an die 20% der jeweils aktuellen Besetzung kommen mit einem Freier oft zum Orgasmus."

Attraktive Exotin

Der Besuch des Reporters und seiner Begleiterin ist abgesprochen und angemeldet. Es soll eine komplette Reportage werden. Als der Reporter ankommt, ruft Selma ein Empfangskommitte und es gibt ein grosses Hallo. Etwa zwanzig der Damen umringen die Besucher, beginnen zu tanzen und machen einen Strip-Tease. Alle haben, wie in Brasilien üblich, die Schamhaare rasiert. Als alle nackt sind, nähert sich eine grosse vollbusige Schwarze langsam tanzend an den Reporter an. Sie hat deutlich sichtbar und hervorstehend zwischen den Schamlippen ein "Ding", etwa so dick wie diese.

Sie fühlt und verkündet, ja, der Reporter habe einen Steifen bekommen - und nun habe sie auch einen. Aufschrei und allgemeines Klatschen. Die Frauen scherzen und lachen. Selma sagt, man solle das nicht übel nehmen. Die Frauen hätten nicht viel zu lachen, da müsse man ihnen schon einmal einen Scherz erlauben.

Bosch, Garten der Lüste, Ausschnitt 7

Später fragt der Reporter Selma, ob es sich bei der grossen Schwarzen um einen Hermaphroditen handelt. Nein, die Frau habe nur ein "Ding" (Klitoris) grösser als die anderen. Sie arbeite normal nicht in der Villa Mimosa, sondern in einem Nachtklub. Dort sei ihre körperliche Besonderheit sehr gefragt. Sie könne dort für eine "Nummer" weit mehr verlangen als hier in der Vila, von Ausländern 250 Dollar.

Unsere erste Frau zum Interview wird uns als Carmen (Namen geändert) vorgestellt. Eine Schwarze mit voluminösen und festen Brüsten. Sie ist eine von denen, die viel verdienen. „Die Männer sehen viel auf die Brüste. Ich brauche nur eine von meinen Brustwarzen sehen zu lassen und sie kommen zu mir." - Und läßt uns einen Blick auf ihre Brustwarze werfen - ein dunkler, konisch weit vorspringender Warzenhof mit einer schwarzen, gigantischen Brustwarze, glatt doppelt so dick und hervorstehend wie üblich - das dürfte die Männer anregen.

„Nein, 54 habe ich noch nicht geschafft, aber 32 ist auch schon ganz gut, nicht?"

„Wir raten generell davon ab," wirft Selma ein (die bei allen Interviews dabei ist), „mehr zu zeigen als ein normaler Bikini noch versteckt - aber manche Frauen halten sich nicht daran."

Beim anschliessenden Rundgang sehen wir mehr von dem, was sie damit meint. Eine der Frauen hat nur ein Röckchen und keinen Schlüpfer an und setzt sich auf die Bar, so daß die Männer das „Himmelreich" sehen können - gut rasiert. Zwischen den Lippen erscheinen lange innere Schamlippen. Innerhalb kürzester Zeit hat sie einen Freier gefunden.

Karneval in Rio - Tänzerin fast nackt

Eine andere, eine falsche Blonde, läuft ganz ohne Oberteil herum. Ihre großen Brüste sind Anziehungspunkt für eine Traube von Männern.

Eine dritte, vom Typ ‚Mignon’ tanzt und hebt von Zeit zu Zeit ihren Rock. Auch darunter ist nichts - oder besser gesagt alles. Die Männer stehen Schlange, einen Blick zu erhaschen.

Eine andere, ziemlich Füllige, tanzt mit einem Freier. Sie reibt ihren Hintern an seinem Bauch, wo man eine Erhebung in der Hose ausmachen kann. Der Mann drückt sie dann an sich, reibt an ihr und stöhnt. Man hat den Eindruck, er braucht gar nicht mehr mit ihr "nach oben" zu gehen. Aussen herum stehen eine Anzahl Männer und beobachten die Szene, einige von ihnen mit der Hand in der Hosentasche.

Überhaupt sieht man relativ viele Männer hier, die mit "Handarbeit" beschäftigt sind, während sie die Prostituierten beobachten. Um einige "Attraktionen" bilden sich so Trauben von masturbierenden Männern. Manche greifen einfach in die Hosentasche, andere von oben in die Hose. Man sieht auch solche, die "Ihn" ganz herausholen und an der frischen Luft reiben. Einen konnte man auch beobachten, der genau dies beobachtete und sich damit und dabei befriedigte.

Vor der Tür einer der Bars bildet sich eine dicke Traube von Männern. Der Reporter wird vorgelassen. Auf einem Tisch in der Bar sitzt ein Mann und auf seinem Ding und seinem Schoss eine der Prostituierten. Sie machen Sex. Offensichtlich kann man hier auch Sonderwünsche äussern, wenn man zum beispiel Exhibitionist ist. Viele der Männer, die zusehen, masturbieren.

Selma sagt, einige der Männer, die hierher kommen, können nicht einmal die 25 Reais aufbringen. Sie müssen Anblicke erhaschen und sich masturbieren, um "Druck abzulassen".

Man läßt uns ganz hinten in einer der Bars die steile Wendeltreppe hinaufsteigen. Dort über der Bar sind die Verschläge, in denen die Damen ihrem Beruf nachgehen. Einfache Liegen mit Schaumstoffmatratzen mit gummiertem Überzug. Ein schmuddeliges Bettuch. Selma erklärt uns, daß die Barbesitzer eigentlich dafür sorgen sollten, daß jeweils ein neues Bettuch überzogen wird. Das funktioniere aber nicht immer.

„Die Barbesitzer sind zu geizig, für so viel Wäsche zu bezahlen."

Auf unsere Frage, ob sie etwas über die Weitergabe von Ungeziefer sagen könne, sagt Selma, davon wisse sie nichts. Wir hatten gehört, hier könne man sich leicht Läuse und Sackläuse holen. Kein Kommentar. Dies nur für jene, die eventuell auf den Gedanken kommen, es hier einmal zu versuchen.

Selma sagt, wir seien eine Attraktion - ein deutscher Journalist berichtet über die Vila Mimosa.

Bei unserem Rundgang stehen die Frauen in Gruppen und verwickeln uns in Gespräche. Eine zieht sich vor uns aus. Beeindruckend, eine echte Traumfigur, hochstehende Brüste, der berühmte Birnenhintern. Sie bietet ihre Dienste kostenlos für den Journalisten an, damit er Reklame macht. Nein danke. Wie gut, dass wir daran gedacht haben, eine "Aufpasserin" mitzunehmen. Sonst könnte man glatt in Versuchung kommen.

Selma sagt, das ist üblich, wenn hier Journalisten auftauchen. Fast immer nehmen die solche Angebote an, speziell, wenn sie von einer der attraktivsten Frauen gemacht werden, so wie in diesem Fall. Die Frauen meinen, so kommen keine Negativberichte in die Zeitungen.

Auch das Fernsehen war schon da. Da mussten Überstunden gemacht werden. Insgesamt 12 Männer waren zufriedenzustellen. Einer von ihnen nahm alles "für den persönlichen Gebrauch" auf. Das koste allerdings. Gelegentlich kommen Männer, die Photos und Videos machen wollen. Das ergibt einen Zuatzverdienst, aber viele Frauen wollen trotzdem nicht.

Boticelli Geburt der Venus Ausschnitt

Eine andere Bar. Wiederum steigen wir die Wendeltreppe hoch. Hier mehr Hygiene. Plötzlich sehen wir hinter einem Vorhang, der nicht ganz schliesst, einen Mann. Er äugt durch ein Guckloch in einen der Verschläge und masturbiert sich. Offenbar vermietet der Bareigner auch Logenplätze für Spanner. Selma sagt, das sei nicht vorgesehen, aber sie könne nichts dagegen machen.

In diesem Moment 'kommt' der "Pieping Tom". Er hat bereits ein Tuch, um alles abzuwischen. Dann türmt er eiligst. Eine der Frauen ruft ihm etwas nach wie "Nun weiss ich auch, warum du so einen Kleinen hast!"

Wir wollen herausfinden, ob die Beobachteten von dem kleinen Zusatzverdienst wissen, den der Barbesitzer sich da auf ihre Kosten verschafft und warten, bis sich die Tür des Verschlags öffnet. Es kommen zwei Frauen heraus, noch ohne Kleidung. Sie unterhalten sich zwanglos mit uns. Ihre ausweichenden Antworten lassen ahnen, sie machen dieses kleine Zusatzgeschäft zusammen mit dem Bareigner.

Selma sagt, manche Männer kämen hierher, um ihren Traum von zwei Frauen gleichzeitig zu erfüllen. Dann kommt auch der Mann aus dem Verschlag, er allerdings angezogen. Er weiss offenbar nichts von der Beobachtung und verschwindet nach unten. Die beiden Frauen machen keine Anstalten sich anzuziehen. Auch sie offerieren ihre (Doppel)dienste dem Journalisten und preisen ihre Fähigkeiten.

Eine von ihnen greift wieder zu, wie vorher schon die grosse Schwarze. Sie verkündet wieder genauso die Erektion an alle anderen, ausserdem auch, hier sei reichlich "Masse" gegeben. Andere Frauen kommen und prüfen dies ebenfalls. Man kommt sich etwas begrabscht vor. Allgemeine Anerkennung.

Die Frauen offerieren jetzt die Dienste von insgesamt 5 von ihnen. Sie sagen, der Reporter könnte es mit allen Fünf machen, ohne zu 'kommen' . Erst dann würden sie ihn in einer gemeinsamen Anstrengung zum Höhepunkt bringen. Sie wüssten, wie dass funktioniert. Sie sagen, es wäre unhöflich abzulehnen. Die Angebote seien ehrlich gemeint und seien eine Ehre und eine grosse Ausnahme. Sie akzeptierten kein "Nein", da schon bewiesen sei, der Reporter ist angeregt.

Selma bestätigt, normal gibt es hier niemand, der etwas ohne Bezahlung erhält und die Frauen könnten sich von einer Ablehnung missachtet fühlen. Da muss der Reporter versprechen, an einem anderen Tag wiederzukommen, heute ginge es nicht, denn die Reportage sei zu machen.

Die zweite Interviewte, Cláudia (Name geändert), ist eine der „Alteingesessenen". Sie ist schon fünf Jahre hier. Sie ist klein, hellhäutig, wenig Brust und Hintern. Sie sagt, sie macht es, weil es ihr Spaß macht. Sie ist froh, wenn sie auf fünf Freier in einer Nacht kommt. Sie hat Stammkunden. „Manche Männer fühlen sich nur wohl dabei, wenn sie merken, daß auch die Frau etwas davon hat."sagt sie.

Auch sie bietet eine „Nummer" umsonst an: „Danke, nein." „Deine Freundin kann auch mitmachen, wenn sie will." „Nein, sie ist nicht meine Freundin." Wir sollen Reklame machen in Deutschland für die Vila Mimosa. Nein, wir werden keine Reklame machen.

Sie sagt, sie ist nur drei Tage in der Woche hier. Sie hat zwei Kinder, die ernährt werden wollen. Auf die Frage nach dem Stadtteil, in dem sie wohnt, kommt der Name einer Favela.

Selma hat die Zahlen des brasilianischen Anti-Aids-Programms parat: „Brasilien gibt mehr als 400 Millionen US-Dollar jährlich für sein AIDS-Verhütungs-Programm aus. Es wird von Experten als das erfolgreichste der Entwicklungsländer angesehen. Pro Monat werden etwa 1 Million Kondome verteilt."

Vor dem Karneval sind in ganz Brasilien wieder Plakate aufgehängt, die an die Verwendung von Präservativen erinnerten, die hier liebevoll Camisinha, „Hemdchen", genannt werden.

Selma hat zusammen mit einer anderen älteren Prostituierten ihr ‚Büro’ in einer der Bars gleich am Eingang. Die Frauen fassen hier ihren Bedarf an Kondomen ab. Als wir sie interviewen, wird sie plötzlich gerufen. Zusammen mit der anderen Frau macht sie sich auf den Weg in eine der Bars. Zwei, drei Männer tauchen auf und kommen mit. In der Bar wird ein Betrunkener bereits von zwei Leuten festgehalten. Er hat eine der Frauen geschlagen, weil sie nicht mit ihm nach oben gehen wollte. Der Betrunkene wird von den Männern unsanft aus der Vila Mimosa entfernt.

Die Frau sagt: „Wir haben das Recht, nein zu sagen. Niemand kann uns zwingen."

Selma erklärt, daß die Selbsthilfegruppe Unterstützung vom Staat bekommt. Es sind insgesamt 8 ältere Prostituierte, die für die Vila Mimosa zuständig sind und dort in Schichten fast rund um die Uhr Dienst tun. Ihr Lebensunterhalt wird nicht mehr durch Prostitution, sondern vom Staat gesichert. Sie bestehen aber darauf, sie sind weiter Prostituierte.

Die Vila Mimosa funktioniert an allen Wochentagen, im Prinzip ab 10 Uhr morgens. Dann ist allerdings nicht viel los Die meisten Frauen kommen erst abends.

Am Freitagabend ist Hochbetrieb. Da schieben sich die Männer dichtgedrängt durch die kleinen Gassen zwischen den Bars. An solchen Tagen tun hier bis zu 300 Frauen „Dienst".

Die dritte Interviewte, Renata (Name geändert), ist eine Überraschung. Sie sieht aus wie höchstens 15. Selma sagt, sie habe sie extra für uns ausgesucht, damit wir auf das Thema des Mißbrauchs von Minderjährigen eingehen. Renata ist aber 21 und hat bereits einen kleinen Sohn.

Sie sagt: „Daß ich jung aussehe, verschafft mir eine Menge ‚Freier’. Ich tanze auf der kleinen Bühne, die wir in der Bar haben, mit einem kurzen Röckchen und ohne Höschen. Die Männer müssen sich ein wenig niederbeugen, um zu sehen, was sie sehen wollen. Es ist sehr lustig, sie zu sehen, wie sie sich winden, um etwas zu sehen. Viele greifen sich dann an den Pimmel, weil er hart geworden ist. - Aber anfassen ist nicht. Erst, nachdem 25 Reais bezahlt wurden. Nein, küssen auf den Mund lasse ich mich nicht, das ist nur für meinen Freund. Ja, ich habe einen Freund. Er ist aber auch arbeitslos und ich muß deshalb hier solange arbeiten, bis ich oder er Arbeit finden. Ja, er weiß, daß ich hier arbeite. Er meint, das sei in Ordnung."

Selma erklärt: „Ein wesentlicher Teil der Ausländer, speziell auch der Deutschen, die als Touristen nach Brasilien kommen, ist auf Sex aus. Davon ist wiederum ein Teil auf der Suche nach Minderjährigen. Leider gibt es in verschiedenen Teilen von Brasilien noch Plätze, wo diese Wünsche befriedigt werden."

Sie nennt uns einige solcher Orte, bittet uns aber, das nicht zu verwenden, um nicht noch mehr Kinderschänder anzulocken.Sie sagt, von den fünf Touristen, die bereits ertappt und an ihre Heimatländer ausgeliefert wurden, waren vier Deutsche. Einer von ihnen wurde mit insgesamt vier Mädchen und einem Jungen in dem vom ihm gemieteten Haus vorgefunden. Alle Kinder unter 10 Jahre alt.

Der grosse Anteil Deutscher hinge aber auch damit zusammen, daß Deutschland eines der wenigen Länder ist, das auch Mißbrauch von Minderjährigen im Ausland verfolgt. Mit anderen Worten: Es werden auch Kriminelle aus anderen Ländern erwischt, die aber aus Mangel an Strafbarkeit in ihren Ländern laufen gelassen werden, d.h. ins Flugzeug zurück nach Hause gesetzt werden.

Selma: „Um die schlimmsten Auswüchse bei der Prostitution zu verhindern, muß man einen festen Ort und eine Betreuung der Frauen organisieren. Man muß Straßenstrichs vermeiden, muß Regeln schaffen, Kondome verteilen, Ausbildung betreiben.

Es geht darum, folgendes zu vermeiden:
- Zwangsprostitution
- Verbreitung von AIDS und anderen Geschlechtskrankheiten
- Ausbeutung von Kindern zu sexuellen Zwecken
- Ausbeutung der Frauen durch Zuhälter
- Halblegalität, die es der Polizei ermöglicht, die Frauen auszubeuten, zu erpressen und zu schikanieren."

Der Name Vila Mimosa bezieht sich auf den Unterstadtteil, ein Teil von São Cristovão. Es sind die Mimosen, die ihm den Namen gegeben haben, jene Büsche, die immer gleich die Blätter schließen, wenn sie berührt werden. Na, Mimosen dürfen die Damen hier nicht gerade sein.

Dieser Artikel erschien zuerst in der "Berliner Umschau" am 15. März 2006, hier mit zusätzlichen Erfahrungen und Bildern versehen und geringfügig redigiert.

Mittwoch, 31. Januar 2007

Lulas Brasilien, Teil 5 - Brasiliens Regierung von Vatikan-Radio angeklagt

Vatikan: Lulas Regierung Teil eines Komplotts

Von Karl Weiss

Wie Radio Vatikan meldete, hat der örtlich zuständige Bischof für Pará, wo letztes Jahr die Nonne und Aktivistin für Rechte der Indios und Landarbeiter, Dorothy Stang, ermordet wurde, die Brasilianische Bundesregierung und die Regierung des Bundeststaates Pará angeklagt, Teil eines Komplotts zum Schutz der Hintermänner des Mordes zu sein.

Rio de Janeiro, Zuckerhut und Corcovado von Niteroi aus

Dorothy Stang war nach einer Ankündigung, die von der Polizei und den örtlichen Behörden nicht ernst genommen wurde, von zwei gedingten Tätern ermordet worden. Auch einer der Auftraggeber wurde bereits identifiziert.

Frau Stang hatte sich in jahrelanger aufopferungsvoller Arbeit für die Indios im Gebiet, das Teil des Amazonaswaldes ist, sowie für die Landarbeiter und Kleinbauern eingesetzt und immer wieder die Taten der Großgrundbesitzer, Holzfirmen und Bodenspekulanten in der Region angeprangert. Aus diesen Kreisen, so der Bischof Erwin Kräutler, kam denn auch der Auftrag für ihre Ermordung.

Nach seinen Angaben verhindert aber ein Komplott der Mächtigen in der Region mit der Bundes- und Landesregierung die Aufklärung des Verbrechens. Es seien Unternehmer und hohe Politiker verwickelt. Wenn das Vatikan-Radio dies berichtet, so kann man getrost davon ausgehen, daß in diesem Fall jedes Wort wahr ist - nicht, weil der vatikan immer die Wahrheit sagen Würde, sondern weil der brasilianische Bischof glaubwürdig ist und weil das Vatikan-Radio sich hüten würde, so schwere Anklagen zu erheben, wenn dies nicht wirklich belegt ist.

Damit hat die Lula-Regierung innerhalb von drei Jahren Amtszeit ein Niveau von Abscheulichkeiten erreicht, wie es selbst ihre schlimmsten Feinde nicht vorhergesagt hatten.


Dieser Artikel erschien zuerst in der "Berliner Umschau" vom 15. Februar 2006, hier leicht redigiert.


Links zu den anderen Teilen der Serie "Lulas Brasilien":
Teil 1 Terroranschlag - Verdächtige freigelassen
Teil 2 Brasilien und die Sklaverei
Teil 3 Die Liste der Ermordeten wird immer länger
Teil 4 Abholzen und Abbrennen
Teil 6 Brasilien und die Pressefreiheit
Teil 7 Brasilien grösster Fleischexporteur der Welt
Teil 8 Deal mit der Mafia

Montag, 15. Januar 2007

Lulas Brasilien, Teil 3 - Die Liste der Ermordeten wird immer länger

Aktivistin für die Rechte der Landarbeiter ermordet

Von Elmar Getto


Da war Chico Mendez, der einzige Fall, der außerhalb Brasiliens Aufsehen erregte, und davor und danach viele, viele Andere. Die brasilianischen Großgrundbesitzer waten in Strömen von Blut der von ihnen und in ihrem Auftrag Ermordeten. Der letzte Fall ist der einer brasilianischen 73-jährigen Nonne US-amerikanischer Herkunft, Dorothy Stang, die am 15. Februar 05 begraben wurde. Während dieser Artikel geschrieben wurde, kam bereits die nächste Mord-Meldung: Der Verfechter der Bauernrechte Soares da Costa Filho wurde am Dienstag – ebenfalls im Bundestaat Pará – ermordet aufgefunden.

Dorothy-Stang

Der gesamte Norden, Nordosten und Zentrale Westen Brasiliens, das sind zwei Drittel des Territoriums, sind weiterhin fest in den Händen der Großgrundbesitzer, zu denen heute auch noch eine Reihe reicher Landspekulanten und Holzhändler gestoßen sind. Sie herrschen dort seit den Zeiten der portugiesischen Kolonialherrschaft. Sie werden meistens ‚Colonel’ (Oberst) genannt, wie jeder weiß, der etwas vom brasilianischen kommunistischen Schriftsteller Jorge Amado gelesen hat, der auch in Deutschland gut bekannt ist.

Seit es ‚demokratische Wahlen’ in Brasilien gibt, hat sich daran nur soweit etwas geändert, als nun jeweils ein Mitglied der lokalen Herrscherfamilie gewählt wird. Auch in den anderen Regionen Brasiliens (Süden und Südosten) spielen weiterhin Grossgrundbesitzer eine wichtige Rolle, dort gibt es aber auch viel Industrie, womit diese ihre Macht mit den Industriekapitänen teilen müssen.

Die Methoden dieser ‚kleinen Könige’ haben sich ebenfalls nicht viel geändert seit jenen Zeiten. Einer der Söhne wird Bundestagsabgeordneter, ein anderer Landtagsabgeordneter oder Bürgermeister, der dritte wird der lokale Richter und ein guter Freund der Familie leitet das Grundbuchamt. Will man ein bestimmtes Stück Land, so wird es ganz offiziell mit Richterspruch und Eintragung ins Grundbuch dem neuen Eigentümer übereignet. Falls der bisherige Besitzer es nicht freiwillig aufgibt, kommt man mit der Polizei (rein zufällig ist der örtliche Polizeikommandeur auch ein guter Freund der Familie). Diese Praxis ist so weit verbreitet, daß man schon ein eigenes Wort für diese Leute in Brasilien hat: Grileiros.

Auf diese Weise (und mit anderen Mitteln) haben die brasilianischen Großgrundbesitzer und Landspekulanten seit dem Militärputsch im Jahre 1964 in etwa 30 bis 35 Millionen kleine Bauern und Landarbeiter von ihrem Land und aus diesen Regionen vertrieben, die fast alle in die großen Städte, speziell jene im Südosten Brasiliens, wie São Paulo und Rio de Janeiro, strömten, wo sie und ihre Nachkommen heute den wesentlicher Teil der Bewohner der Favelas (Slums) stellen. So wurde aus der verträumten Stadt der Kaffe-Barone São Paulo, in den dreissiger Jahren eine Stadt mit weniger als 50 000 Einwohnern, eine der grössten Städte der Welt mit etwa 20 Millionen Einwohnern im Einzugsbereich.

Sarkasmus ein –

Nun gibt es aber eine Anzahl Unverbesserliche, die den natürlichen Ablauf der Dinge einfach nicht hinnehmen wollen und sich gegen diese gottgegebenen Vorgänge stellen. Sie versuchen, den kleinen Landbesitzern beizustehen und die Rechte der Landarbeiter zu verteidigen, sie gründen Cooperativen, sie dringen auf nachhaltigen Landbau und nachhaltige Extraktionswirtschaft, sie geben Rechtsschutz und holen auch schon einmal einen besserwisserischen Anwalt aus der Landeshauptstadt. Sie führen Proteste durch und bewaffnen sich auch schon mal, wenn sie bedroht werden. Sie wagen es sogar, Anklagen zu erheben gegen Militärs, Polizisten, Richter, Grundbuch-Verwalter und andere Leute, die nur ihre Pflicht tun. So fördern sie wissentlich die Gewalt auf dem Lande. Kurz, es sind dreckige Kommunisten und Terroristen, die ihren Tod absolut verdient haben.

Sarkasmus aus –

Besonders tun sich hervor bei der Verteidigung der Rechte der Landarbeiter und Kleinbauern die katholische Kirche Brasiliens mit ihrer Organisation ‚Pastoral da Terra’ (‚Hirten der Erde’) und die MST, die organisierte Bewegung der Landlosen. Sie und speziell die Funktionäre dieser Organisationen sind daher auch das ‚beliebteste’ Ziel der Morde, meistens im Auftrag der Großgrundbesitzer, oft legen diese aber auch selber Hand an.

Brasilien (topographisch)

Die katholische Kirche in Brasilien ist in einigen Teilen sehr unterschiedlich von dem, was man in Deutschland und Europa unter diesem Namen kennt. Dort wird nicht mit faschistischen oder militärdiktatorischen Herrschern eng zusammengearbeitet (die enge Kooperation der deutschen katholischen Kirche mit Chiles Diktator Pinochet ist hier unvergessen), dort ist man nicht das äußerst rechte Anhängsel der konservativen Parteien, dort wird „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ und „Was du dem Geringsten meiner Brüder getan hast, hast du mir getan“ noch weithin ernst genommen, kurz, die beiden Organisationen scheinen nicht im mindesten dem gleichen römischen Großkonzern anzugehören.

Neben dem ‚Pastoral da Terra’, einem ständigen Stein des Anstoßes für brasilianische Regierungen seit den Zeiten der Militärdiktatur und des Bischofs Dom Helder Câmara, gibt es auch noch den ‚Pastoral da Criança’ (‚Hirten der Kinder’), der ebenfalls keine Angst hat, der Regierung die Wahrheit zu sagen (was Regierungen dort wie woanders nicht so gerne haben).

Die ermordete Nonne lebte seit 37 Jahren in Brasilien, zuletzt bei einem kleinen Ort im Amazonasgebiet, Anapu. Als Antwort auf den Überfall der US-Regierung auf den Irak gab sie ihre US-Staatsbürgerschaft ab und wurde Brasilianerin. Sie arbeitete in Umweltschutz-, Bürger-, Friedens- und Frauenbewegungen mit.

Im Gebiet von Anapu werden, wie es die brasilianische Verfassung vorschreibt, Parzellen brachliegender Gebiete ohne Regenwald an registrierte Landlose (Kolonnen) übergeben. Ebenso werden Regenwaldgebiete abgesperrt, um dort ein nachhaltige Extraktionswirtschaft zu betreiben. Die örtlichen Großgrundbesitzer wehren sich dagegen, lassen die Häuser der Kolonnen und deren Felder anzünden und bedrohen (und ermorden) die Personen, die diesen Schutz und Beistand gewähren.

Schwester Dorothy prangerte unentwegt die Untaten der Großgrundbesitzer, Grundspekulanten und ihrer Helfer an, aber auch die Ausbeutung der Edelhölzer aus dem Regenwald. So zog sie sich den Haß nicht nur der Großgrundbesitzer, sondern auch der Landspekulanten und Holzhändler zu. Sie war die Leiterin der örtlichen ‚Pastoral da Terra’, also eine offizielle Funktionärin der katholischen Kirche.

Seit 2001 die Drohungen immer mehr zunahmen, hat Schwester Dorothy unermüdlich die örtlichen, regionalen, Landes- und Bundes-Behörden hierauf aufmerksam gemacht und um Eingreifen und Unterstützung gebeten.

Im Februar 2004 kam der nationale Beauftragte für Umweltfragen, Jean Pierre, nach Anapu, um sich ein Bild über die Situation zu machen. Kurz danach tagte in der Nähe eine parlamentarische Untersuchungskommission des Bundestages zu Landfragen, doch nichts wurde in der Realität getan.

In Anerkennung ihres Einsatzes für die Kleinbauern und Landlosen verlieh das Landesparlament des Bundesstaates Pará im Juni 2004 Schwester Dorothy die Ehrenbürgerschaft von Pará.

Eine Delegation der Vereinten Nationen besuchte im Oktober 2004 die Landeshauptstadt Belém, um die Unabhängigkeit des Justizsystems zu untersuchen. Als Betroffene von Bedrohungen wurde auch Dorothy angehört. Wiederum geschah nichts konkretes.

Für ihre Verdienste um die Menschenrechte ehrte sie die Rechtsanwaltskammer von Pará (OAB-PA) im Dezember 2004 mit dem „José Carlos Castro Preis”.

Am 2. Februar 2005, also unmittelbar vor ihrer Ermordung, hat sie ihre Anklagen bei einer öffentlichen Audienz in Rondon dem Minister für Menschenrechte, Nilmário Miranda, vorgetragen und darauf hingewiesen, dass sie ununterbrochen Todesdrohungen erhielt.

Als der Oberste Bundes-Staatsanwalt am 03. Februar 2004 in Belém das ‚Nationale Programm zum Schutz der Menschenrechtsaktivisten’ präsentierte, war Dorothy da und verwies auf die zunehmende Gewalt. Wiederum blieb alles bei Worten ohne Taten. Der Herr Miranda und der Bundes-Staatsanwalt schlafen wahrscheinlich weiterhin gut.

Weder örtliche oder Landes- noch Bundesbehörden wurden in irgendeiner konkreten Weise gegen die allseits bekannten Großgrundbesitzer und Grundspekulanten der Region und die namentlich bekannten Holzhändler tätig. Die Regierung Lula, die jetzt den Tod der Schwester beklagt, ist dafür mit verantwortlich.

Die Regierung Lula ist auf die Abgeordneten aus den Regionen des Großgrundbesitzes angewiesen, um ihre „Reformen“ (Sozialabbau und Abbau von Rechten) durchsetzten zu können. Eben diese Abgeordneten sind aber zum großen Teil identisch mit den Familien eben dieser Großgrundbesitzer oder mit ihnen engstens verbunden. Das Ergebnis ist, daß in bester sozialdemokratischer Tradition hoch ehrenhafte Absichtserklärungen abgegeben werden, um damit die absolute Untätigkeit in der Praxis in diesen Fragen der Menschenrechte und des Umweltschutzes zu kaschieren. Das beste Beispiel ist der schon genannte Festakt zur Präsentation des ‚Programmes zum Schutze der Menschenrechtsaktivisten’ wenige Tage vor der Ermordung von Schwester Dorothy.

Im brasilianischen Bundesland Pará ist das gesamte öffentliche Leben beherrscht von den Großgrundbesitzern und Geschäftemachern. Kein Polizist, kein Staatsanwalt, kein Polizei-Kommandeur, kein Richter oder sonstiger Würdenträger kann es wagen, irgend etwas gegen die Herrscher der Region zu unternehmen, will man nicht Opfer härtester Racheakte werden. Deutlich wurde dies bereits bei den Prozessen gegen die Polizisten und Polizei-Kommandeure, die beim „Massaker von Carajás“ im gleichen Bundesland 19 Mitglieder der Landlosenbewegung abgeschlachtet hatten. Alle wurden in einem Schein-Prozeß freigesprochen. Erst auf Intervention der Bundesbehörden wurde der Prozeß neu aufgerollt.

Charakteristisch für das Klima, unter dem die Menschen dort leben müssen, sind zwei Ereignisse in unmittelbarem Zusammenhang mit Schwester Dorothys Ermordung:

- Die zuständige Polizei-Behörde von Belém hat einen Tag nach ihrer Ermordung, anstatt die Täter zu verfolgen und zu stellen, einen der engsten Mitarbeiter von Schwester Dorothy absurderweise wegen Beteiligung an dem Mord an einem Landarbeiter angeklagt.

- Kurz nach ihrer Ermordung wurde in der Kleinstadt Anapu (auf deren Gebiet der Mord geschah) in aller Öffentlichkeit ein Freudenfeuerwerk von den Hintermännern des Mordes abgebrannt.

Dies alles zeigt, wie die Täter und ihre Hintermänner sich sicher fühlen, genauso wie die Tatsache, daß sie schon den nächsten Mord begingen, bevor Schwester Dorothy noch beigesetzt war. Die Regierung Lula steht dem untätig gegenüber.

In Brasilien gibt es im Moment 0 (in Worten Null) Großgrundbesitzer im Gefängnis wegen eines Mordes oder Anstiftung zum Mord. Der Auftraggeber des Mordes an Chico Mendez wurde zwar verurteilt (und dies auch nur wegen des Aufsehens, den der Fall im Ausland geweckt hatte), verschwand aber nach wenigen Monaten unerklärlicherweise spurlos aus dem Gefängnis und wurde seitdem nicht mehr gesehen. Das heißt alle (in Worten: alle) diese Gewalttaten bleiben ungesühnt. Lediglich die armen Schweine, die sich als Mörder verdingen, kommen manchmal ins Gefängnis. In Brasilien kann man einen Mord für 5000 Reais haben (ca. 1500 Euro).

Nicht sehr mit den Verhältnissen vertraut scheinen die Verfasser von Medienveröffentlichungen in Brasilien, aber auch in Deutschland (wie z.B. im ‚Tropenwaldnetzwerk Brasilien’) zu sein, die Schwester Dorothy als ‚Missionarin’ bezeichnen.

In Brasilien kann man ein Lied über ‚Missionare’ singen, speziell die Indios, die Ureinwohner Brasiliens, die heute weitgehend ausgerottet sind. Missionare der verschiedensten Religionen waren immer Mitverantwortliche an diesen Ausrottungen. Sowohl durch das Absegnen von Massakern und Versklavungen, als auch durch das Einschleppen von für die Indios tödlichen Krankheiten oder durch die Entfremdung von ihren Wurzeln und den oft lebenswichtigen Naturheilkenntnissen der Medizinmänner, alle diese Gründe der Ausrottung stehen nicht zuletzt im Zusammenhang mit Missionaren. Nicht ohne Grund ist darum in Brasilien ‚missionieren’ bei Strafe verboten.

Deshalb: Schwester Dorothy war keine Missionarin, sie hat ihre Solidarität nie abhängig vom Glauben der Betroffenen gemacht.

Durch Zufall wurde gerade am Tag vor der Beisetzung von Schwester Dorothy im brasilianischen Bundestag gezeigt, wie die Regierung Lula abhängig von Abgeordneten aus den Regionen der Großgrundbesitzer ist. Der Bundestag trat nach der Sommerpause zum ersten Mal wieder zusammen und hatte als erstes einen neuen Bundestagspräsidenten zu wählen. Dieses Amt steht traditionsgemäß einem Vertreter der Koalition zu, auf die der Präsident sich stützt. Aber Traditionen sind keine Muß-Bestimmung. Zwei Parteien waren aus der Lula-Koalition ausgestiegen (PMDB und PPS) und sie hatte keine formale Mehrheit mehr.

Trotzdem galt der Kandidat Lulas als praktisch schon fast gewählt. Plötzlich trat aber ein Abgeordneter, ohne überhaupt von einer Partei vorgeschlagen worden zu sein, als Gegenkandidat auf und warb um Stimmen mit dem Versprechen, er werde sich als Bundestagspräsident für eine Erhöhung der Diäten einsetzen. Und siehe da – er gewann im zweiten Wahlgang gegen den Lula-Kandidaten mit einer komfortablen Mehrheit.

Der neue brasilianische Bundestagspräsident, ein gewisser Cavalcanti, ist der Vertreter der am meisten rechts stehenden Partei im Bundestag und – wer hätte es gedacht - genau eines jener Mitglieder einer der herrschenden Familien im Bundesstaat Pernambuco, Nordosten Brasiliens – und Großgrundbesitzer. Charakteristisch auch für die ganze Besetzung des Bundestags, mit welchem Argument man dort Präsident werden kann.

Jetzt wird die Regierung verstärkt Schwierigkeiten haben, noch Gesetze durch das Parlament zu bringen. Man weiß nicht, ob man das nicht sogar begrüßen sollte.

Dieser Artikel, der dritte in unserer Reihe "Lulas Brasilien", erschien am 17. Februar 2005 in 'RBI-aktuell', hier in einer vom Autor leicht redigierten Version. Bis heute haben sich die beschriebenen Zustände nicht geändert, eine Anklage gegen die Regierung Lula.

Links zum Ersten, Zweiten, Vierten, Fünften, Sechsten, Siebenten und Achten Teil der Reihe "Lulas Brasilien"

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