Montag, 14. Juli 2008

Fannie und Freddie in der Bredouille

Der nächste Schritt beim Rutsch in die Weltwirtschaftskrise

Von Karl Weiss

Hier bereits mehrfach vorausgesagt, erleben wir im Moment das Abrutschen in die Weltwirtschaftskrise, das eben in die zweite Phase eingetreten ist. Auslöser (aber nicht Ursache) war die US-amerikanische Immobilienkrise, aber die eigentliche Krise besteht im Rückgang der weltweiten Produktion, im Schließen von Fabriken und Firmen und Vernichten von Produktionskapazitäten.

USA: Foreclosure Zwangsversteigerung

Die zweite Phase begann am Freitag und hängt wiederum mit dem US-Immobilienmarkt zusammen. Die riesigen Immobilien-Finanzierer Fannie Mae und Freddie Mac seien in seriösen Finanzierungsproblemen, wurde berichtet, nachdem die US-Regierung bereits die wesentlich kleinere Immobilien-Bank Indy Mac übernahm. Die Kurse (Dow Jones) in New York reagierten mit einem Verlust von 2% an einem Tag und der Index rutschte unter die Marke von 11.000 Punkten, die eigentlich eine starke Stopp-Linie hätte darstellen sollen.

Man erinnere sich daran: Noch vor nicht allzu langer Zeit wurde die Marke von 20.000 Punkten für möglich gehalten.

Housing Slump

Indy Mac, eine Hypotheken-Bank, war praktisch Pleite gegangen und wurde von dem Hilfsfond aufgefangen, den die Regierung den Banken vorgeschrieben hatte, nachdem die Sparer insgesamt 1,3 Milliarden Dollar abgezogen hatten. Das ist der zweitgrößte (oder drittgrösste) Banken-Crash in der ganzen US-Geschichte!

Dies allein hat aber noch keine verheerenden Folgen. Die kündigen sich vielmehr an, wenn die beiden riesigen US-Immobilien-Banken „Federal National Mortgage Association“, genannt Fannie Mae, die größte Hypothekenbank der Welt, und die zweitgrößte, „Federal Home Loan Mortgage Corporation“, genannt Freddie Mac, in ernste Schwierigkeiten geraten, was für diese Woche erwartet wird.

Die beiden Banken bedienen im Moment praktisch alleine die Immobilien-Darlehen und Hypotheken in den USA, nachdem sich alles, was Beine hatte, aus diesem Markt zurückgezogen hat. Es ist undenkbar, die beiden würden Pleite gehen, denn damit wäre der gesamte Immobilien-Sektor gestoppt. Niemand könnte mehr bauen oder kaufen (es sei denn, er hätte alles Geld bereits vorher flüssig).

Immobilienkrise USA

Man kann also sicher davon ausgehen, die US-Regierung wird die beiden auffangen, sei es mit Steuergeldern und/oder mit Hilfe anderer Banken.

Trotzdem wäre eine solche Auffangaktion ein Desaster. Die Bedingungen, zu denen noch Hypotheken und Bau-Finanzierungen gewährt würden, verschlechterten sich gewaltig und die Bautätigkeit würde zusammenschnurzeln wie ein Hamburger in der Bratpfanne

Auch international hätte dies schwere Auswirkungen, denn der Hypothekenmarkt ist auch bereits globalisiert, wie sich u.a. an den Problemen der deutschen Landesbanken gezeigt hat.

Zwar ist noch nicht sicher, ob eine grosse Auffangaktion notwendig sein wird, aber die Börsen – auch ausserhalb der USA – werden bereits auf die Möglichkeit reagieren. Die Aktienkurse der beiden Institute brachen seit Beginn der Immobilienkrise bereits um etwa 90% ein. Am vergangenen Freitag verlor die Fannie-Aktie etwa 30%, die von Freddie um die 28%.

„Wir befinden uns inmitten eines Tsunamis im Finanzsektor. Dies ist ein Sturm, den die USA zuvor noch nie erlebt haben", sagte Peter Kenny, Direktor von Knight Equity Markets, laut einer Meldung der Wiener „Presse“.

In einer anderen Presemeldung wird berichtet, die Analysten erwarten in Deutschland einen Dax von 5600 für diese Woche.

Wichtig ist aber zu sehen: Die Weltwirtschaftskrise steht erst am Anfang. Bisher hat sie im engeren Sinne noch gar nicht begonnen. Das offizielle Kriterium einer Weltwirtschaftskrise ist, wenn die wesentlichen OECD-Länder zwei aufeinananderfolgende Quartale mit Verringerung des GDP (so etwas wie das das Bruttosozialprodukt) aufweisen. Das ist bisher noch in keinem Land der Fall.

Wenn das im Moment ein Tsunami ist, dann stelle man sich vor, welche Worte man verwenden wird, wenn die Weltwirtschaftskrise im engeren Sinne wirklich ausbricht.


Veröffentlicht am 14. Juli 2008 in der Berliner Umschau

Originalveröffentlichung

Zusatz zum Artikel vom 15.7.08
Wie sich die Immobilienkrise in den USA konkret auswirkt, zeigt eine Meldung, die heute um die Welt ging: In der grossen Industriestadt Cleveland, Ohio sind bereits 10% aller Häuser im Besitz der Banken, d.h. die ehemaligen Besitzer haben sie an die Bank verloren, weil die Raten zu hoch wurden. Die Banken warten auf bessere Zeiten, um die Häuser zu versteigern, denn im Moment sind die Preise auf Niedrigst-Niveau.
Wie die Wirtschaftskrise in den USA voranschreitet, sieht man an einer anderen Meldung: General Motors hat heute angekündigt, die noch vorhandenen Personalkosten um 10% vermindern zu wollen, also Massenentlassungen, nachdem man vorher bereits das Schliessen von vier der Fabriken angekündigt hatte.


Andere Artikel zur Weltwirtschaftskrise:

"Anzeichen Wirtschaftskrise?"

"Full Crash- Zweites Anzeichen Wirtschaftskrise?"

"Stehen wir am Beginn einer grossen Weltwirtschaftskrise?"

"25% Fall des Dollars?"

"Der Mini-Crash - 10 Monate zur Wirtschaftskrise?"

"Drittes Anzeichen Weltwirtschaftskrise"

"Die Zinswende der Langzeitzinsen leitet das Abgleiten in die Weltwirtschaftskrise ein."

"Viertes Anzeichen Weltwirtschaftskrise"

"Können die USA bankrott gehen?"

"Wann kommt die Wirtschaftskrise?"

"Dollar-Verfall bedroht deutschen Export – Die Krise wird fürchterlich"

"USA: Global Alpha, Red Kite, Fed-Chef, Immobilien-Crash"

"Globaler Einbruch der Börsen"

"Weltwirtschaftskrise – Der konkrete Übergang in die Barbarei"

"USA: Wirtschaftskrise beginnt"

"Hellseherei? Die Wirtschaftskrise"

"General Motors könnte pleite gehen"

"Drei EU-Länder sind bereits in der Wirtschaftskrise"

"Wirtschaftskrise in den USA"

"Europa sinkt in diesem Moment in die Wirtschaftskrise"

"Banken gerettet – Staat pleite?"

"Weitere gigantische Finanzmarkt-Risiken"

"Verdienen deutsche Banken Vertrauen?"

"Können Sie das glauben?"

Sonntag, 13. Juli 2008

Niemeyer ist 100 – 'Auf dem Höhepunkt des Schaffens'

BRASILIEN JENSEITS VON FUßBALL UND SAMBA, TEIL 4:
Niemeyer ist 100 - "Auf dem Höhepunkt des Schaffens"


Von Elmar Getto

Niemeyer – wer war das noch gleich? Oscar Niemeyer! Aaaah richtig, jener große Architekt des 20. Jahrhunderts, der Brasilia gezeichnet hat! Wann ist der eigentlich gestorben? Hat jemand irgendetwas von ihm gehört?

Niemeyer

Oscar Niemeyer lebt, ist im Dezember 2007 100 Jahre alt geworden und erklärte in einem Interview, er stehe auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Er betont, daß er Brasilianer ist. Er hält weiter seinen kommunistischen Ansichten die Treue und arbeitet intensiv, im Moment an mehreren großen Projekten, abgesehen von einigen Oberaufsichten über die Realisierung älterer Projekte. Einer seiner Mitarbeiter im Studio im obersten Stock eines Gebäudes an der Copacabana in Rio mit Blick auf eine der beeindruckendsten Landschaften der Erde, wo Niemeyer weiterhin von Montag bis Samstag arbeitet, sagt: „Ich arbeite mit Niemeyer seit 35 Jahren, aber ich habe nie eine Phase gesehen, in der er so kreativ war. Er zeichnet jeden Tag Formen, die man noch nie gesehen hat.“


Brasilien (topographisch)

Dies ins Stammbuch jener kleingeistigen Philister in den Manager-Etagen deutscher Firmen, die Menschen mit 50 Jahren bereits zum alten Eisen werfen.

Niemeyer ist mit Sicherheit das größte Phänomen der Architektur des 20., aber eben auch des 21. Jahrhunderts und ebenso ein Phänomen in seiner Aktivität mit 100 Jahren. Ein großer Teil dessen, was sich moderne Architektur nennen kann, basiert auf seinen Ideen und Werken. Er hat die moderne Architektur mehr beeinflußt als alle anderen. Für sein Lebenswerk hat er 2004 den japanischen Kaiser-Preis erhalten. Die Irakische Architektin Zaha Hadid, die in London lebt, erwähnte ihn bei der Preisverleihung des Pritzker-Preises (der 'Nobel' der Architektur) 2004 ausdrücklich als hauptsächlichen Einfluß.

Niemeyer Nationalkongress

Keine brasilianische Stadt, die etwas auf sich hält, ohne Werke Oscar Niemeyers.

In São Paulo steht bis heute das erste moderne Wohnhochhaus aus den vierziger Jahren, in Form eines S, das heute zwischen vielen anderen ähnlichen fast nicht mehr auffällt. Nur war es eben das erste und fast alles, was heute an Wohnhochhäusern gebaut wird, wird zum Abklatsch oder zu etwas weniger Gelungenem als dieses erste. Auch die Gedenkstätte für Lateinamerika (1988) von ihm in dieser Stadt bleibt ein Anziehungspunkt für Architekturstudenten.

Niemeyer

Einen seiner größten Siege feierte Niemeyer 2004, als im Ibirapuera-Park in São Paulo das Auditorium eingeweiht wird, das er in den fünfziger Jahren (!) projektierte, ein Gebäude, bei dessen Anblick jedem das Wort ‚hypermodern’ einfällt.

Der Ibirapuera-Park war in den fünfziger Jahren von Burle Marx, einem anderen berühmten Brasilianer, wohl dem besten Landschafts-Architekten des 20. Jahrhunderts, konzipiert worden und einige Gebäude wurden von Niemeyer eingefügt, doch das Auditorium war damals nicht gebaut worden. Es ist an einer Seite offen, bezieht so den Park mit ein und öffnet die Veranstaltungen für alle Parkbesucher, ein demokratisches Auditorium (was natürlich nur in einem warmen Land wie Brasilien möglich ist).

Niemeyer Palácio Planalto

In Rio de Janeiro ist es vor allem das Monument der Gefallenen des 2.Weltkriegs am Strand von Flamengo, das die Aufmerksamkeit jedes Besuchers findet. Von ihm ist auch das Gebäude des Lateinamerikanischen Parlaments und das des Museums der modernen Kunst, gleich in der Nähe. Eines der gelungesten in seiner Leichtigkeit ist aber mit Sicherheit sein Museumsbau in Niteroi, der Stadt auf der anderen Seite des Zuckerhutes, eine Art UFO, schwebend über dem Meer an einer felsigen Steilküste, genau an jenem Punkt, an dem man die schönste Sicht auf das gegenüberliegende Rio de Janeiro mit seinen runden Bergformen hat, die fast wie von Niemeyer geschaffen scheinen (in Wirklichkeit dürfte es anders herum sein: Die runden Bergformen haben zum Teil die Ideenwelt Niemeyers geprägt).

Niemeyer Museum zeitgenössische Kunst

Rio hat seinem Sohn Oscar Niemeyer auch die treffendste Huldigung dargebracht: Die Straße zwischen den Stränden São Conrado und Leblon im Stadtgebiet von Rio, über einem Felsabsturz ins Meer, einer der landschaftlich schönsten Punkte der Erde, heißt schon seit vielen Jahren Avenida Niemeyer.

In Belo Horizonte steht der erste moderne Sakralbau, das Kirchlein des heiligen Franziskus am Ufer des Pampulha-Sees mitten in der Stadt, das 1940 eingeweiht wurde. Es war das erste Mal, daß jemand geschwungene Formen in Beton in einem Gebäude eingesetzt hat. Gerade war der Stahlbeton erfunden worden und damit die Möglichkeit, einem Gebäude jede beliebige Form zu geben, rund, mit weiten Überhängen usw.

Sankt-Franziskus-Kirche von Niemeyer

Die katholische Kirche weigerte sich jahrelang, das neue Kirchlein zu weihen, das vom damaligen Bügermeister der Stadt, Juscelino Kubitschek, in Auftrag gegeben worden war. Das Werk eines Atheisten und Kommunisten, das wollte man nicht als Kirche.

Erst als Architekten und Architekturstudenten aus aller Welt begannen nach Belo Horizonte zu pilgern, nahm man das Geschenk an. Zusammen mit seiner Rückwand, völlig in blauen Fliesen, geschaffen vom brasilianischen Maler Portinari (darstellend das Leben des Heiligen), stellt das Kirchlein nicht mehr ein architektonisches Werk, sondern ein einmaliges Kunstwerk dar, etwas, das man von späteren modernen Sakralbauten nicht sagen kann. Seine Form in vier Bögen mit einem kleinen Glockenturm, der nach oben hin breiter wird, ist der eigentliche Anfang und Ausdruck aller modernen Architektur. Heute gibt es kein Brautpaar in Belo Horizonte mehr, das nicht in dieser Kirche getraut werden will.

Franziskus-Kirche Oscar Niemeyer-3

Und schließlich - Brasilia. Als Kubitschek 1955 zum Präsidenten gewählt worden war, beschloß er, das Augenmerk Brasiliens, das immer auf der Küste gelegen hatte, ins Landesinnere zu lenken. Dort sollte eine neue Hauptstadt, Brasilia, geschaffen werden, weit im Inneren des Landes, auf einer dürren Hochebene gelegen, am Rande des Bundestaats Goias, und dort ließ er – wie in den USA – einen eigenen Bundestaat schaffen und ihn ‚Föderativer Distrikt’ (Distrito Federal) nennen.

Diese neue Hauptstadt sollte vor allem die Modernität Brasiliens und den Fortschritt (der in der Fahne Brasiliens steht) dokumentieren und so gab er den Architekturauftrag an Niemeyer, der den Plan der ganzen Stadt in Form eines Flugzeugs entwarf. Auch die einzelnen Regierungsgebäude und die Kathedrale wurden von ihm gezeichnet. Niemeyer lebte drei Jahre auf der Baustelle und entschied und überwachte jedes Detail.

Kongress Brasilien Brasilia

Steht man heute auf dem ‚Platz der drei Gewalten’ in Brasilia, vor sich das Parlamentsgebäude mit der konkaven Kuppel für den Senat und der konvexen für das Abgeordnetenhaus, zur rechten den Präsidentenpalast mit einer großen Auffahrtsrampe über einem riesigen Wasserbecken, zur Linken das Gebäude des Obersten Gerichtshofs mit einer überdimensionalen modernen ‚Justitia’, dann wird einem klar, daß diese Gebäude, vor fast 50 Jahren eingeweiht, heute kein Architekt besser oder moderner konzipieren könnte. Niemeyer selbst sagt dazu im Interview: „Wenn Sie dort stehen, mögen Ihnen die Gebäude gefallen oder nicht, aber Sie können nicht sagen, Sie hätten so etwas schon einmal gesehen.“

Niemeyer Nationalkongress

Vom genannten Platz geht die große Mittelachse Brasilias aus, an der alle Ministerien stehen. Am anderen Ende der Achse war schon damals ein Kulturzentrum vorgesehen, das aber nicht zur Ausführung kam. Es ist jetzt in Planung. Das zentrale Gebäude wird ein kuppelförmiger Bau von 80 Metern Durchmesser sein, aus dem ein Beton-Halbkreis herausragt, so daß der Eindruck vom Saturn mit seinem Ring entsteht.

Niemeyer Nationalmuseum Brasilien

Sollte jemand einmal nach Brasilien reisen, wird er wohl auch in Ouro Preto halt machen, der am besten erhaltenen Barock-Stadt Brasiliens (wir hören demnächst noch von ihr, wenn es um das brasilianische Gold geht). Dort kann man im ‚Grand Hotel’ absteigen, das von niemand Geringerem als Niemeyer konzipiert wurde.

Hier zeigt er, in einem Umfeld herausragender barocker Architektur, die Lösung für das Problem jedes Architekten, der mit einem historischen Umfeld konfrontiert ist: die Bescheidenheit. Er maßt sich weder an, Barockarchitektur zu imitieren, noch stellt er modernistische Niemeyer-Architektur großkotzig gegen die historischen Kirchen. Er schafft einen niedrigen, langgesteckten Bau am Berghang, der seine Modernität nicht verleugnet, sich aber ganz zurücknimmt in modernistischen Details. Wer dort absteigt, kann sein Früstück in einem Raum mit Blick über die Stadt einnehmen, der vom Meister persönlich mit Zeichnungen auf den Wänden und einem Spruch ausgeschmückt ist.

Franziskus-Kirche Oscar Niemeyer-4

Aber Niemeyer arbeitet(e) nicht nur in Brasilien. Sein internationaler Durchbruch kam, als er 1947 den Zuschlag für sein Projekt für das UN-Gebäude in New York bekam. Danach folgten Hunderte von Projekten: Er konzipierte eine Moschee in Algerien, die den damaligen Premier Boumedienne, der gerade den langen Befreiungskrieg gegen die Franzosen gewonnen hatte, zum Ausruf hinriß: „Das ist eine revolutionäre Moschee!“

Er entwarf für die KP Frankreichs das neue Zeitungsgebäude, noch vor wenigen Jahren überraschte er erneut mit einem Observationsturm mit Hotel und Restaurant in Brighton in England und 2004 wurde eine riesige Skulptur von ihm nach Frankreich geschafft, die an der Nationalbibliothek in Paris aufgestellt wurde.

Rio de Janeiro, Zuckerhut und Corcovado von Niteroi aus

Überhaupt ist Niemeyer nicht nur Architekt, sondern auch ein Zeichner und Bildhauer von hoher künstlerischer Qualität. In Niteroi z.B., wo inzwischen 11 seiner architektonischen Werke zu bewundern sind, viele innerhalb von Gehweite (es gibt dort einen Niemeyer-Weg, der einige verbindet), wurde vor kurzem das neue Theater eingeweiht, in dem er ebenfalls die Idee des „offenen Theaters“ zur Ausführung bringt. Dort hat er die gesamte Malerei in der Innenausstattung und an der Aussenwand sowie eine Anzahl von Skulpturen selbst ausgeführt.

In einer Anzahl von Ländern, in denen der Antikommunismus Staatsreligion ist, so wie die USA und die Bundesrepublik, wird Oscar Niemeyer im allgemeinen mit Mißachtung gestraft. Wo kämen wir hin, wenn wir noch einen Kommunisten als Genie feiern würden? Wenn überhaupt erwähnt, wird er als ‚umstrittener Architekt’ bezeichnet, seine Gebäude in Brasilia als ‚pathetisch’.

Franziskus-Kirche Oscar Niemeyer-2

Auch brasilianischen reaktionären Politikern ist Niemeyer ein Dorn im Auge. Der Bürgermeister von Rio de Janeiro, Maia, ein Politiker vom Typ Stoiber, der seine Wiederwahl sichert, indem er rigoroseres Vorgehen gegen die Kriminellen verspricht, während die Kriminalität ohne Halt ansteigt, ließ eine Anzahl von Skulpturen entfernen, die Niemeyer auf eigene Kosten am Leme-Strand hatte aufstellen lassen und die von der Bevölkerung angenommen worden waren.

Eine andere Art der Mißachtung ist, speziell, wenn sich Deutsche mit ihm beschäftigen, die wiederholte Erwähnung seiner ‚deutschen Abstammung’, die ihn selbst auch in Wut bringt, so als ob ein ‚richtiger’ Brasilianer (Wer wäre das? Ein Indio, ein Schwarzer?) niemals in der Lage wäre, Herausragendes zu leisten. Hat man je gehört, daß große Geister aus den USA (ja, auch in einem Land, das von George W. Bush regiert wird, gibt es große Geister, ich erwähne nur Noam Chomsky) andauernd als ‚von irischer, italienischer, englischer, deutscher oder sonstiger Abstammung’ bezeichnet werden? Wird etwa andauernd erwähnt, daß Thomas Mann ‚brasilianischer Abstammung’ war (seine Mutter war Brasilianerin)?

Oscar Niemeyer 99

Das größte Projekt, das momentan in Bau ist, ist sein neu konzipiertes Regierungszentrum des Bundesstaates Minas Gerais auf einer Fläche von etwa 42 Fußballfeldern in einem Stadtteil von Belo Horizonte. Das verwegendste ein Museum in Fortaleza, das im Meer gebaut wird. Auch in Niteroi ist ein Merresmuseum unter dem Meeresspiegel in Planung. Eben eingeweiht wurde die neue Zentrale der brasilianischen Itaipu-Verwaltung (Itaipu ist das riesige Staudamm- und Stauseeprojekt an der Grenze zu Paraguay zusammen mit diesem Land). Neben dem Verwaltungsgebäude und einem großen Auditorium umfaßt es einen See, einen Turm, eine Brücke über den See usw. Die Paraguayaner auf der anderen Seite des Flusses waren so begeistert, daß sie das gleiche für ihre Seite bei ihm in Auftrag gaben.

Befragt, was er an seinem 100. Geburtstag machen werde, antwortete er: „Ich werde verschwinden. Nichts ist wichtig. Jeder hinterläßt eine kleine Geschichte und verflüchtigt sich.“ (Mit 100 wird wohl die Frage nach dem Geburtstag irgendwie identisch mit der Frage nach dem Todestag.)

Franziskus-Kirche Oscar Niemeyer-5

Schließen wir mit dem Satz, den Niemeyer in seinem Arbeitsraum zwischen einigen Zeichnungen an die Wand geschrieben hat: „Das wichtigste ist nicht die Architektur, sondern das Leben, die Freunde und diese ungerechte Welt, die wir verändern müssen.“


Dieser 4. Teil von Elmar Gettos Brasilien-Reihe wurde am 27.12. 2004 in "Rbi-aktuell", heute Berliner Umschau, veröffentlicht, hier vom Autor redigiert und aktualisiert.

Weitere Artikel zu Niemeyer im Blog:

- Was schert es den Mond...

- Niemeyer ist 100 - und arbeitet noch jeden Werktag


Hier die Links zu allen Teilen der Reihe „Brasilien jenseits von Fussball und Samba“

- Teil 1: „Wie der Amazonas zu seinem Namen kam“

- Teil 2: ‚Menschenfresser-Country’

- Teil 3: „Ausgerottete Künstler“

- Teil 4: Niemeyer ist 100 – ‚Auf dem Höhepunkt des Schaffens’

- Teil 5: Brasilien und Gold

- Teil 6: Die Landschaften Brasiliens – Der Amazonas-Regenwald

- Teil 7: Brasilien und der Strom

- Teil 8: Die Landschaften Brasiliens – Mata Atlântica

- Teil 9: Santos Dumont und der erste Motorflug

- Teil 10: SIVAM – Big Brother in Amazonien

- Teil 11: Sprit aus nachwachsenden Rohstoffen

- Teil 12: Regenwaldvernichtung und Trockenheit im Amazonasgebiet

- Teil 13: Wie unsere Zukunft in der beginnenden kapitalistischen Barbarei aussähe – „Ich habe kein Leben“

Montag, 7. Juli 2008

Exxon Valdez-Fall mit Taschengeldzahlung beendet

Strafe auf 500 Millionen Dollar reduziert – Exxon verbucht Gewinn im Fall

Von Karl Weiss

Die Exxon, heute Exxon Mobil, war im Jahre 1989 für das verheerendste Tankerunglück der Geschichte verantwortlich, bei dem in Alaska der Supertanker Exxon Valdez auf einen Felsen fuhr und seine gesamte Ladung von 100 000 Tonnen Rohöl (nach anderen Angaben 50 000 Tonnen) ins Meer nahe der Küste laufen ließ. 1900 km (!) der Küste von Alaska, die extrem fischreich war, wurde mit Öl und Schlamm bedeckt.

Exxon Valdez Spill

An der Katastrophe verdient

Bis heute hat sich die Meeresfauna und –flora dort nicht vollständig erholt. Doch die Exxon hat an dieser Katastrophe verdient - so unglaublich es erscheinen mag. Soeben wurde vom Obersten US-Bundes-Gerichte die Strafe auf ein Taschengeld zusammengekürzt

Die Verantwortung des Konzerns für das Unglück ergab sich aus zwei Fakten: Erstens hatte er als Kapitän auf dem Schiff einen für seine Trunksucht bekannten Mann eingesetzt. Zweitens war der Tanker (wie auch fast alle anderen Öltanker bis heute) nicht mit einer doppelten Wandung ausgestattet.

Die Exxon Valdez fuhr in jener Nacht im gut ausgeschilderten Prince William Sound, als der Kapitän seinen Posten verließ. Der als Alkoholiker bekannte Mann hatte nach einer Zeugenaussage im Prozess auch an diesem Tag zumindest vier Wodka getrunken. Obwohl das Fahren in einer landnahen Wasserstrasse (das Unglück geschah nur wenige hundert Meter vom Land entfernt) höchste Aufmerksamkeit verlangt, ging der Kapitän von der Brücke. Tatsächlich kam die Exxon Valdez dann von der Fahrrinne ab und krachte in einen Felsen.

Hätten die Supertanker wenigstens eine Unterteilung in verschiedene Tanks, sodass bei einem Loch in der Aussenhaut nur einer der Tanks ausläuft und nicht gleich die ganze Ladung, so wäre der Umfang der Schäden durch Unglücke geringer. Aber die großen Ölkonzerne sind die Besitzer der Welt und kümmern sich einen feuchten Kehricht m Umweltschäden. Zum Verhältnis der Ölkonzerne zur Umwelt siehe auch diesen Artikel: http://karlweiss.twoday.net/stories/3049483/

Jeder kleine Besitzer einer Tankstelle ist gezwungen, Tanks mit doppelter Wandung zu benutzen und zusätzlich eine automatische Warnung einzubauen, um Lecks sofort zu melden. Die Ölkonzerne dagegen dürfen Riesenmengen des extrem umweltschädlichen Rohöls durch die Weltmeere schippern ohne die geringsten Sicherheitsvorkehrungen – und sogar noch Alkoholiker als Kapitäne einstellen.

Der Exxon-Valdez-Fall war darum so desaströs, weil der Unfall in Landnähe geschah und die schmierige schwarze Pampe sich auf 1900 km der Küste von Alaska legte. Dort sind die Laichplätze der wichtigsten internationalen Fisch-Populationen. Vor allem wurden Milliarden von Heringseiern vernichtet. Aber auch die Lachse laichen in den dortigen Gewässer, in diesem Fall weiter die Flüsse hoch, in den Süsswasserbereichen, die aber ebenso von der Ölpest betroffen waren.

Exxon Valdez Spill 1

Es waren 32 000 Menschen bzw. Familien unmittelbar von den Auswirkungen betroffen, vor allem Ureinwohner (Eskimos), die vollständig von der Fischerei für ihre Ernährung abhängen, aber auch andere Fischer, die ihren Broterwerb verloren, ebenso wie Besitzer von Küstenstreifen, die nun zu nichts mehr benutzt werden konnten.

Jeder dieser 32 000 Familien (das betrifft nur jene, die sich gemeldet haben; die Schätzungen gehen auf weitere Zehntausende, die nie Gelegenheit hatten, sich zu melden) hat die Exxon einen Betrag von etwa 15 000 Dollar als Entschädigung bezahlt. Es ist offensichtlich, dass dieser Betrag, den ein normaler Unterabteilungs- oder Gruppenleiter bei der Exxon im Monat verdient, bestenfalls symbolisch genannt werden kann.

Insgesamt hatte die Exxon damals etwa 500 Millionen Dollar an Entschädigungen gezahlt und für Reinigungsmaßnahmen ausgegeben, das ist für die Exxon Mobil ein Taschengeld, denn die Gruppe macht heute einen jährlichen Reingewinn von 43 Milliarden Dollar (Milliarden, nicht Millionen! Reingewinn, nicht Umsatz!) – und das, bevor der Ölpreis begann zu explodieren! Die gesamten Entschädigungen machten also gerade 1 % eines einzigen Jahresgewinns aus, während die Fisch-Populationen sich heute, 19 Jahre später, immer noch nicht erholt haben.

Exxon behauptet, alle Küstenbereiche gesäubert zu haben, aber die Wahrheit ist weit trauriger. Nur an Küstenstrichen und Stränden, die leicht für Menschen zugänglich sind, wurde gereinigt. Alle unzugänglichen Stellen sind bis heute verschmiert.´


Tausende von Familien von Ureinwohnern mussten in die nächsten Städte ziehen und dort um Almosen betteln, wie auch die Familien von Fischern.
Es waren in jenen Gewässern auch industrielle Fischfänger unterwegs, vor allem sieben Firmen, die in Seattle ihren Sitz haben, die sogenannten „Seattle Seven“. Exxon brachte es fertig, sie mit jeweils etwa 7 Millionen Dollar abzufinden, was bestenfalls für einen Monatsfang reichte. Man schaffte dies mit der Drohung, die Firmen würden sonst überhaupt keine Geld sehen, bis das oberste US-Bundesgericht entschieden hätte.

Wie lange das dauert, konnte man nun sehen. Die New York Times berichtete am 26. Juni 2008 über das abschließende Urteil des Obersten US-Gerichtshofs zur „Bestrafung“ des Konzerns, also etwa 19 Jahre nach der Katastrophe. Die ursprünglich als Strafe für das Fehlverhalten der Firma festgesetzte Summe von 5 Milliarden Dollar wurde auf ein Zehntel gekürzt, auf 500 Millionen Dollar, das ist, wie oben schon gesagt, ein Taschengeld für die Exxon Mobil.

Das Argument der Obersten Bundesrichter für diese Kürzung war, die Bestrafung und die Entschädigungszahlen müssten in etwa im Verhältnis 1:1 stehen. Die Tatsache also, dass völlig unzureichende Entschädigungen gezahlt wurden, wird nun als Argument genommen, um auch die Bestrafungssumme zu kürzen.

Nun mag jemand sagen, zwei Mal 500 Millionen Dollar, also insgesamt 1 Milliarde Dollar, das tut doch selbst einer Exxon Mobil weh. Nun, das sind etwa 2% eines heutigen Reingewinns in einen Jahr.

Aber es fragt sich: Hatte die Exxon Mobil dies wirklich zu zahlen? Die Antwort ist nein.

Die damalige Exxon konnte gleich nach den Desaster den ursprünglich vorgesehen Bestrafungsbetrag von 5 Milliarden Dollar als erlaubte und nicht zu versteuernde Sonderrücklage anlegen. Was man damit an Steuern gespart hat und an Zinsen und Zinseszinsen eingenommen hat, übersteigt heute, nach 19 Jahren, bereits bei weitem die 1 Milliarde Dollar, die zu zahlen waren bzw. sind. Mit anderen Worten: Die Exxon Mobil hat an der von ihr verursachten Katastrophe noch verdient!

Nicht einmal den Supertanker hat die Exxon verloren: Die Exxon-Valdez wurde repariert und fährt heute unter dem von der Konzernbezeichnung bereinigten Namen „SeaRiver Mediterannean“ auf den von Unterwasser-Felsen bedrohten Gewässern. Findet sie wieder einen solchen Felsen, werden wiederum 100 000 (oder 50 000) Tonnen Rohöl auslaufen. Weder Konzerne noch Regierungen haben also auch nur versucht, aus dem Desaster zu lernen.

So ist das im staatsmonopolistischen Kapitalismus: Die Monopolkonzerne haben sich Staat und Gesellschaft vollständig untergeordnet und müssen keinerlei andere Autorität fürchten, ausser natürlich der Revolution!


Veröffentlicht am 7. Juli 2008 in der Berliner Umschau


Originalveröffentlichung

Sonntag, 6. Juli 2008

Ausgerottete Künstler

Brasilien jenseits von Fußball und Samba

Teil 3: Ausgerottete Künstler

Von Elmar Getto


Nun wieder zurück zu den Indios. Vor nicht allzu langer Zeit ging man davon aus, daß der amerikanische Kontinent erst vor etwa 10.000 bis 12.000 Jahren von Menschen besiedelt wurde, Südamerika erst vor etwa 5.000 bis 7.000 Jahren. Archäologie wurde in den Amerikas wenig bis gar nicht betrieben, denn was wollte man schon finden von den Vorfahren der Indios und Indianer, die man ja zum grossen Teil noch um das Jahr 1500 in der Steinzeit vorgefunden hatte. Allerdings hatten die doch schon sehr entwickelten Kulturen der Azteken, Mayas und Inkas da schon einige Fragezeichen gesetzt. So wurde denn auch die Archäologie praktisch ausschließlich in den Gebieten dieser Kulturen betrieben.

Erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts begann man, zunächst sehr sporadisch, auch außerhalb dieser engen Bereiche nach Spuren der ersten Bewohner der Amerikas zu graben, zunächst mit spärlichen Erfolgen.

Eine erste Sensation stellte sich ein, als man einige Hügel an den Stränden im südlichen Brasilien näher untersuchte.

Es stellte sich heraus, daß die Hügel künstlich aus Sand, Muscheln und Tonerde aufgeschüttet und mit einem bisher unbekannten Verfahren verfestigt worden waren. Diese sogenannten Sambaquis dienten Wohn-, Verteidigungs- und/oder Kultzwecken.

Die Sensation waren die dort gefundenen ‚Zoolithen’, geschliffenen Steinfiguren, die Tiere darstellen, Vögel, Fische usw. In anderen Steinzeit-Ausgrabungen hatte man schon behauene Steine gefunden, die bestimmte Tiere darstellten, aber nie vorher mit einer perfekt geschliffenen Oberfläche und auf einem künstlerischen Niveau, das einen modernen Bildhauer vor Neid erblassen läßt. Der Grad des Realismus der Darstellung wie auch der Grad der Abstraktion von der genauen natürlichen Form läßt auf ein künstlerisches Niveau schließen, die bisher für Steinzeitkulturen absolut unbekannt war.

Diese Kunstwerke konnte man im Original sehen in der Ausstellung ‚Antes’ , die 2004 in Rio de Janeiro gezeigt wurde.

Im Grunde mußte bereits zu jenem Zeitpunkt die gesamte Vorstellung der südamerikanischen Indios als „primitive Wilde“ einer Revision unterzogen werden, was aber noch nicht getan wurde. Doch dann, als die Grabungen auf verschiedene Gegenden Brasiliens ausgeweitet wurden, in den 90er Jahren und den ersten Jahren des neuen Jahrtausends, kamen immer mehr Zeugen hoher künstlerischer Vollendung ans Tageslicht und die Ergebnisse der C14-Analysen verlegten die Besiedlung Südamerikas immer weiter in die Vergangenheit. Über 20 000 Jahre und 30 000 Jahre kam man so schließlich zu den letzten Funden in einem Nationalpark im brasilianischen Bundesland Piauí, wo letztes Jahr Reste eines menschlichen Skeletts eindeutig als 50 000 Jahre alt identifiziert wurde.

Damit ist die gesamte bisherige Auffassung über die Ausbreitung der Menschen über die Kontinente widerlegt und es müssen neue Ansätze verfolgt werden und die Folgen dieser neuen Erkenntnisse für die gesamten bisherige Konzeption der menschlichen Vorgeschichte untersucht werden.

Es wurden in Brasilien Keramiken, z.B. der Santarém-Kultur, gefunden, die bis zu 30 000 Jahre alt sind. Die frühesten Steinzeitkeramiken in Europa sind 32 000 Jahre alt, also eine fast simultane Entwicklung.

Im Moment wird in Brasilien fieberhaft gegraben und es kommen fast wöchentlich neue phantastische Dokumente von fortgeschrittenen kulturellen Erzeugnissen ans Tageslicht. Die oben genannte Ausstellung zeigte einige der letzten Funde und Erkenntnisse. Die Sensation der Archäologie im Moment ist Brasilien!

Die Keramiken der Santarém-Kultur sind von einer feinen Ausarbeitung und haben Ziselierungen, wie sie bei Keramiken extrem ungewöhnlich sind. Auch sie können kaum als Kunsthandwerk betrachtet werden. Sie müssen in einer Reihe von Stücken als Kunstwerke angesehen werden. Diese Kultur verschwand aus unbekannten Gründen, bevor die Europäer Brasilien eroberten.

Etwas ähnliches gilt für die Marajoara-Kultur. Ihre Überreste wurden und werden auf der Insel Marajó ausgegraben, das ist die Insel von der Größe der Schweiz im Delta des Amazonas. Sie trennt die beiden wesentlichen Flußarme, allein der südliche, der an Belém, der Hauptstadt des Bundesstaates Pará (da kommen die Para-Nüsse her) vorbeifließt, über 50 km breit. Auch ihre Keramiken sind von künstlerischem Niveau. Sie kannten bereits eine weiße Glasur, ebenfalls ungewöhnlich bei Steinzeit-Keramiken, auf der sie dann nach dem Brennen mit roten und schwarzen Farbstoffen Keramikmalereien anbrachten, die in voller Schönheit erhalten sind. Sie begruben u.a. ihre Toten in Keramiktöpfen von Menschengröße mit solchen Ausschmückungen.

Was aber wirklich ‚das Aktuellste’ ist in der Archäologie, sind die Ausgrabungen und Entdeckungen in jenem Nationalpark im Bundesstaat Piauí, der schon erwähnt wurde. Dort tauchen fast monatlich unerwartete Neuigkeiten auf. Dort wurden Höhlen- und Felszeichnungen gefunden, die alle in Europa bekannten an Quantität und teilweise auch an Qualität übertreffen. Sie sind aus dem gleichen Zeitraum wie z. B. die von Altamira in Südfrankreich. Ob es sich bei diesen Steinzeitkulturen um Vorfahren der Indios handelt, die später angetroffen wurden, ist noch nicht bekannt. Auch diese Zeichnungen, darunter eine imposante Anzahl von Sex-Darstellungen in verschiedensten Stellungen, konnten in der oben genannten Ausstellung besichtigt werden.

Auch findet man immer wieder neue Muiraquitãs, von denen wir im letzten Teil bei Mario de Andrades ‚Macunaíma’ schon gehört haben. Sie repräsentieren ein Niveau der Jade-Schnitzereien, wie man es vorher nur in entwickelten Kulturen Chinas gesehen hat. Daß viele von ihnen, wie schon erwähnt, die Form eines Frosches haben, erklärt sich nach den neuen Erkenntnissen der Naturmedizin.

Aus bestimmten Fröschen haben die Indios eine Substanz gewonnen, die gute antibiotische Eigenschaften hat. Wenn indianische Medizinmänner also „Zaubergetränke“ brauten, hatte dies Sinn und es konnten tatsächlich Infektionen geheilt werden. Der Frosch symbolisiert deshalb schon lange bei den Indios die Gesundheit und ist damit die beliebteste Form der Muiraquetãs, die ja Amulette darstellen und Gesundheit bringen sollen.

Als ob das noch nicht reichen würde, hat man im brasilianischen Bundesstaat Paraíba auch noch Felsgravuren mit bisher ungeklärtem Alter gefunden (Pedra do Ingá), die einmalig sind. Es handelt sich nicht um Gravuren mit bildlichen Darstellungen, wie man sie bei Steinzeitkulturen erwartet, sondern um Symbole, Muster und Zeichen, die in die Felswand gegraben sind. Andere Steinzeitkulturen haben nach den bisherigen Kenntnissen so etwas noch nicht hervorgebracht. Eine Replika der gesamten Felswand war ebenfalls auf der oben genannten Ausstellung zu sehen.

Zusammengefaßt kann man schon jetzt sagen, daß noch weitere archäologische „Leckerbissen“ zu erwarten sind und daß feststeht, daß die frühen Bewohner Südamerikas z.T. ein künstlerisches Niveau erreichten, das man sonst nur aus „Zivilisationen“ kennt.

Unklar bleibt, ob die Indios, die 1500 von den europäischen Eroberern angetroffen wurden, auch Künstler dieser Qualität waren oder ob alle diese Kulturen zu diesem Zeitpunkt bereits ausgestorben waren. Da sich die Eroberer nie die Mühe gemacht haben, die künstlerischen Ausdrucksformen der Indios auch nur zur Kenntnis zu nehmen, kann man wenig darüber sagen.

Die heute übrig gebliebenen Indios sind mit Sicherheit nicht mehr als ein müder Abglanz von allem, was sie damals darstellten. Entwurzelt, dezimiert, eine geschlagene, untergehende Kultur – und selbst untergehen läßt man sie nicht in Würde.

Als im Jahre 2000 die fünfhundert Jahre seit der „Entdeckung“ Brasiliens gefeiert wurden, protestierten die Indios gegen die einseitige Geschichtssicht, die die Eroberung als „Entdeckung“darstellt und den Aspekt der fast völligen Ausrottung der Indios nicht einmal mit einem Nebensatz erwähnt. Der damalige Präsident Cardoso von Brasilien sprach die unsäglichen Worte: „Die Indios haben schon viel erhalten. Wenn sie heute demonstrieren, so weil sie mehr wollen....“

Man stelle sich vor, ein deutscher Bundeskanzler würde angesichts einer Demonstration von Juden sagen: " Die Juden haben schon sehr viel erhalten. Wenn sie heute demonstrieren, dann weil sie mehr wollen."

Hier ist der Eindruck einer brasilianischen Besucherin der genannten Ausstellung im Moment des Verlassens des Gebäudes:

„Ich war verwirrt, als ich aus den abgedunkelten Räumen der Ausstellung ins Tageslicht hinaustrat, an einem regenverhangenen Sonntag. Wie konnten die Indios jahrhundertelang als primitive Wilde behandelt und ‚verkauft’ werden und haben doch so phantastische Kunstwerke hervorgebracht? Ich stand einen Moment sinnend am Haupteingang des Gebäudes und sah auf den Platz, den Candelária-Platz, gleich links von mir die große Candelária-Kirche. Da fiel mein Blick auf ein kleines, schlichtes Holzkreuz, das dort vor der Kirche steht. An diesem Ort hatte 1993 ein Exekutions-Trupp von Polizisten 6 Straßenkinder erschossen und weitere 5 schwer verletzt, das bekannte ‚Candelária-Massacre’. Ich war wieder auf dem Boden des heutigen Brasiliens, des Brasiliens, das Millionen von Indios auf dem Gewissen hat und darauf besteht, weiterhin massenhaft Menschen zu töten. Sind es doch im Moment etwa 40 000 Brasilianer pro Jahr, die gewaltsam ums Leben gebracht werden.“

Wieviele Indios und Indianer wirklich zum Zeitpunkt der europäischen Eroberung in den Amerikas lebten, ist bis heute umstritten. Niedrige Schätzungen gehen von etwa 5 Millionen in Nord- und 4 Millionen in Südamerika aus. Die letzte Schätzung spricht dagegen von zwischen 50 und 100 Millionen in den Amerikas. Genauso wenig weiß man genau, wieviel davon direkten Massakern zum Opfer fielen, wie viele als Folge der Versklavung starben, wieviele von den von Weißen eingeschleppten Krankheiten dahingerafft wurden, wie viele Selbstmord begingen und wie viele an Hunger und Unterernährung und den damit zusammenhängenden Erkrankungen zugrunde gingen, weil sie nicht mehr den Lebensraum hatten, den ihre Weise zu leben braucht. Sicher ist nur, daß für alle diese Todesarten die Europäer verantwortlich waren.

Will man die Weißen ein wenig von Schuld freisprechen, so schätzt man den Anteil der Toten durch Krankheiten auf mehr als die Hälfte und das mag stimmen, nur kann man nicht davon ausgehen, daß diese Art der Ausrottung immer unbeabsichtigt war.

Besonders die Pocken (englisch: „Smallpox“) haben eine famose Rolle bei den Eroberungen gespielt. Man weiß heute, dass die Truppen des Aztekenkönigs Montezuma durch die Pocken fast halbiert wurden, bevor es die Spanier mit dem Rest aufnahmen. Das gleiche wiederholte sich kurz danach bei der Eroberung des mächtigen und wehrhaften Inkareichs. Die Ureinwohner der Amerikas hatten keinerlei Abwehrkräfte gegen Krankheiten, die gesunde junge Europäer normalerweise überlebten. Pocken und Masern waren für sie immer tödlich, andere typische Krankheiten wie der normale Schnupfen verliefen weit schwerer. Es liegen keine Beweise vor, daß die Spanier dies bereits zu diesem Zeitpunkt bewußt als Waffe einsetzten, aber es kam ihren Absichten sicherlich sehr entgegen. Später wußte man aber mit Sicherheit, daß die Pocken eine tödliche Biowaffe waren.

Es gibt dazu einen Brief aus dem Jahre 1763, geschrieben vom damaligen Oberkommandierenden der Britischen Truppen in Nordamerika, Feldmarschall Sir Jeffrey Amherst, als Antwort auf die Frage eines seiner Kommandeure, eines gewissen Bouquet, der angefragt hatte, ob man nicht die Pocken unter den ‚illoyalen’ Stämmen der Indianer mit Hilfe des Verteilens infizierter Decken verbreiten könne.

Zeichnung von der Übergabe der mit dem Pockenvirus infizierten Decken an die Indianer

Amherst to Bouquet, 17th of July 1763: „You will do well to try to inoculate the Indians by means of Blanketts as well as to try Every other method that can serve to Extirpate this Execrable Race. “ [Großschreibung im Original]

Amherst hatte zu diesem Zeitpunkt gerade siegreich den sieben Jahre dauernden Krieg gegen die Franzosen um die Herrschaft in Kanada abgeschlossen (1756 – 1763) und war nun mit dem ‘Pontiac Aufstand’ der Ottawa-Indianer konfrontiert. Pontiac war der Häuptling der Ottawa-Indianer.

Ist es nicht Ironie, daß ‚Pontiac’ heute eine der großen Automarken in den Vereinigten Staaten ist? Ob da wohl jedes Auto mit einer Decke kommt?

All dies läßt sich leicht verifizieren, wenn man „Jeffrey Amherst“ googelt.

Aber selbst wenn man davon ausginge, daß der krankheitsbedingte Teil der Ausrottung immer unabsichtlich geschehen wäre, sind auch die Massaker, die Versklavung und die die bewußte Beschneidung des Lebensraumes schon genügend, um den ach so christlichen Europäern den bewußten und massenhaften Genozid vorzuwerfen – und das über mehrere Jahrhunderte hinweg.

Und um speziell vom Christentum zu reden, die Missionare waren zu allen Zeiten und sind es noch heute Hauptträger und Mittäter dieses wahrscheinlich größten und langdauernsten Genozids der Menschheitsgeschichte. Sie kamen üblicherweise mit oder kurz nach den Eroberern, sie setzten sich dort fest und gaben damit allen eventuell einschleppbaren Krankheiten die beste Chance, die Ureinwohner zu infizieren. Sie setzten alles daran, sie von ihren Gewohnheiten abzubringen und halfen dadurch, sie ihrer Lebensgrundlage zu berauben. Sie versuchten, die Medizinmänner, die nach heutigen Erkenntnissen weit fortgeschrittenes Wissen über Naturmedizin hatten, zu desavouieren und raubten den Indios und Indianern damit eine andere Grundlage zum Überleben, vor allem aber segneten sie und die Kirchen, die sie gesandt hatten, alle einzelnen Genozid-Maßnahmen ab, seien es die Massaker, die Versklavung oder der Landraub. Der Papst verkündete auf Anfrage ausdrücklich, daß diese Indios keine unsterbliche Seele hätten und damit wie Tiere behandelt werden durften. Als die Jesuiten einmal gegen die Behandlung der Indios protestierten, ließ der Papst die Jesuiten aus Südamerika abziehen. (Diese Fakten kommen u.a. im Film „Mission“ vor, der im Gebiet der Grenze zwischen Brasilien und Paraguai spielt.)

Die missionarische Tätigkeit war (und ist), bestens belegt, eines der wichtigsten Probleme, das die amerikanischen Ureinwohner hatten (und haben). In dieser Erkenntnis haben heute die meisten Staaten in Südamerika, speziell Brasilien, Paraguai und Bolivien, die Missionstätigkeit bei Stämmen, die noch im Regenwald und entfernt von den Weißen leben, unter Strafe gestellt. Ungeachtet dessen gibt es weiterhin gewisse religiöse Organisationen, die unter höchster Geheimhaltung solche Stämme suchen und ‚missionieren’.

Ein Beispiel dafür kann man in einem Bestseller des US-amerikanischen Autors John Grisham, „Das Testament“ nachlesen, in dem er u.a. von einer Missionarin im Pantanal im Grenzgebiet zwischen den drei genannten Staaten erzählt. Während der Roman natürlich erfunden ist, stellt er in einer Anmerkung des Autors am Schluß des Buches fest, daß er seine Kenntnisse dieser Gegend, in der es noch Indio-Stämme gibt, die keinen oder wenig Kontakt zu Weißen hatten, von einem baptistischen Missionar hat, der ihn auf eine Tour ins Innere des Pantanal mitgenommen hat. Im Buch selbst wird auch über die strenge Geheimhaltung dieser baptistischen Missionstätigkeit berichtet.

Wenn heute gewisse Politiker von unserer ach so hehren westlich-christlichen Zivilisation und ihren hohen Werten schwafeln, (die es gegen die Angriffe durch die so weit unter unserer stehenden muselmanischen Kultur zu verteidigen gelte), so sollten wir uns immer daran erinnern, was die Träger dieser westlich-christlichen Zivilisation schon angerichtet haben und, wenn man nur in den Irak sieht, weiter anrichten. Wann hätten je islamische Eroberer auch nur annähernd Vergleichbares getan?


Dies ist der dritte Teil der Brasilien-Serie von Elmar Getto. Er erschien in "Rbi-aktuell", heute Berliner Umschau, am 8. Dezember 2004, hier in einer vom Verfasser redigierten und aktualisierten Version.


Hier die Links zu allen Teilen der Reihe „Brasilien jenseits von Fussball und Samba“

- Teil 1: „Wie der Amazonas zu seinem Namen kam“

- Teil 2: ‚Menschenfresser-Country’

- Teil 3: „Ausgerottete Künstler“

- Teil 4: Niemeyer ist 100 – ‚Auf dem Höhepunkt des Schaffens’

- Teil 5: Brasilien und Gold

- Teil 6: Die Landschaften Brasiliens – Der Amazonas-Regenwald

- Teil 7: Brasilien und der Strom

- Teil 8: Die Landschaften Brasiliens – Mata Atlântica

- Teil 9: Santos Dumont und der erste Motorflug

- Teil 10: SIVAM – Big Brother in Amazonien

- Teil 11: Sprit aus nachwachsenden Rohstoffen

- Teil 12: Regenwaldvernichtung und Trockenheit im Amazonasgebiet

- Teil 13: Wie unsere Zukunft in der beginnenden kapitalistischen Barbarei aussähe – „Ich habe kein Leben“

Donnerstag, 3. Juli 2008

General Motors könnte pleite gehen

Herabgestuft von Merryll Lynch

Von Karl Weiss

General Motors, basiert in den USA (GM, in Deutschland Opel), bis vor kurzem noch größte Automobilfabrik der Welt und vor drei Jahren noch größtes Industrie-Unternehmen der Welt, könnte nach Angaben eines Sprechers der Merryll-Lynch-Bank Pleite gehen. Gleichzeitig hat Merryll Lynch die Empfehlung von GM-Aktien von „kaufen“ gesenkt auf „unter Marktdurchschnitt“ und den erwarteten Aktienkurs von 28 Dollar auf 7 Dollar.



Solche offenen Worte in Verlautbarungen von Banken an Nachrichtenagenturen sind extrem ungewöhnlich. Da dies in bestimmten Fällen sogar zu Schadenersatzforderungen führen könnte, wird dieses Mittel nur in extremen Ausnahmefällen verwendet, wenn zu befürchten ist, die Manager eines betroffenen Unternehmens könnten bereits ihre Schäfchen ins Trockene bringen, während Aktionäre, Kunden und Beschäftigte im Regen stehen gelassen werden.

Die Verkäufe von Fahrzeugen im allgemeinen und von Pkw im besonderen sinken in den USA seit Monaten. Die Ursachen sind die steigende Arbeitslosigkeit und die steigende Zahl von prekären Arbeitsverhältnissen an der Gesamtzahl der Beschäftigten, die Millionen von Familien, welche die Monatsraten der Hypotheken nicht mehr aufbringen konnten und ihr Häuschen verloren haben oder kurz davor stehen, es zu verlieren und die Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abrutschen.

„Wenn die Bedingungen sich weiter verschlechtern für GM, ist ein Vergleichs- oder Insolvenzantrag im Bereich des möglichen.“ sagte der Analyst von Merryll Lynch, Murphy.

Die Aktien von GM haben in den letzten Monaten bereits die Hälfte ihres Wertes verloren. Am 1. Juli sanken sie noch einmal 7% im Wert. Merryll Lynch hat außerdem bereits zum dritten Mal in diesem Jahr die Schätzungen über die Verkäufe von Pkw in den USA nach unten korrigiert. Nach Meinung der Bank wird die Schwäche im Absatz sich auch 2009 fortsetzen.

Der Analyst stellte fest, es gäbe eine rasche Verminderung des Auto-Absatzes in Menge und Zusammensetzung und dies liesse GM rasch Kapital verlieren. Im Moment hält er etwa 15 Milliarden Dollar als zusätzliches Finanzpolster für GM für nötig, um Schlimmeres zu vermeiden, was allerdings auch zusätzliche Sicherheiten nötig machen würde. Auch andere Analysten hatten bereits auf zusätzlichen Finanzbedarf von GM hingewiesen, aber niemand hatte eine so grosse Summe genannt.

Ein Sprecher der GM reagierte hierauf, indem er sagte, bei einer weiteren Verschlechterung der Konditionen werde man neue „operationelle Massnahmen“ ins Auge fassen. Für 2008 sei die Liquidität gesichert.

Diese Meldung macht einmal mehr deutlich: Die Wirtschaftskrise hat gerade erst begonnen und wird sich weiter vertiefen. Wohin das am Ende geht, ist heute noch nicht abzusehen. Auf jeden Fall sind alle Pfeiffereien im dunklen Wald, die behaupten, „das Schlimmste sei überstanden“, reines Wunschdenken.

Viele kleine und mittlere Anleger haben sich von den beruhigenden Worten einlullen lassen und ihre Aktien nicht abgestossen. Jetzt beginnen sie, massiv Geld zu verlieren.

Es sei noch einmal darauf hingewiesen, dass Einschätzungen, die auf Tatsachen und nicht auf Wünschen basieren, übereinstimmend von dem Abrutschen in eine schwere Weltwirtschaftskrise ausgehen, die sich von den USA über die anderen Länder ausbreiten wird, wobei der Grad der Betroffenheit durchaus unterschiedlich sein mag.


Veröffentlicht am 3. Juli 2008 in der Berliner Umschau


Andere Artikel zur Weltwirtschaftskrise:

"Anzeichen Wirtschaftskrise?"

"Full Crash- Zweites Anzeichen Wirtschaftskrise?"

"Stehen wir am Beginn einer grossen Weltwirtschaftskrise?"

"25% Fall des Dollars?"

"Der Mini-Crash - 10 Monate zur Wirtschaftskrise?"

"Drittes Anzeichen Weltwirtschaftskrise"

"Die Zinswende der Langzeitzinsen leitet das Abgleiten in die Weltwirtschaftskrise ein."

"Viertes Anzeichen Weltwirtschaftskrise"

"Können die USA bankrott gehen?"

"Wann kommt die Wirtschaftskrise?"

"Dollar-Verfall bedroht deutschen Export – Die Krise wird fürchterlich"

"USA: Global Alpha, Red Kite, Fed-Chef, Immobilien-Crash"

"Globaler Einbruch der Börsen"

"Weltwirtschaftskrise – Der konkrete Übergang in die Barbarei"

"USA: Wirtschaftskrise beginnt"

"Hellseherei? Die Wirtschaftskrise"

"Fannie und Freddie in der Bredouille"

"Drei EU-Länder sind bereits in der Wirtschaftskrise"

"Wirtschaftskrise in den USA"

"Europa sinkt in diesem Moment in die Wirtschaftskrise"

"Banken gerettet – Staat pleite?"

"Weitere gigantische Finanzmarkt-Risiken"

"Verdienen deutsche Banken Vertrauen?"

"Können Sie das glauben?"

Montag, 30. Juni 2008

Hartz IV: Nieder auf die Knie!

Fast täglich werden neue Schikanen erfunden

Von Karl Weiss

Eine neue Schikane, um die sowieso schon gebeutelten Empfänger von Arbeitslosengeld 2 noch weiter auf die Knie zu zwingen, hat die Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Bochum erfunden: Man kürzt die Zuschüsse zu den Heizkosten willkürlich mit dem Hinweis, nur zwei Drittel der Wohnung bräuchten beheizt werden. Dadurch müssen die Betroffenen von ihrem Regelsatz von 347 Euro monatlich auch noch einen Teil der Heizkosten bestreiten.

Sozialprotest DGB

Auch dies macht deutlich: Es geht bei Hartz IV tatsächlich darum, eine möglichst hohe Zahl von Arbeitslosen in Obdachlosigkeit (wenn man die Miete nicht mehr zahlen kann oder mit Nebenkosten in Rückstand gerät) und in Hunger zu zwingen (wenn die „Tafel“ längst überfüllt ist). Dadurch sollen jene, die noch Arbeit haben, in Angst und Schrecken versetzt werden, um jegliche Verschlechterung hinzunehmen

Den Hartz-IV-Geschädigten sollten eigentlich die Heizkosten einer „angemessenen Wohnung“ in der tatsächlich angefallenen Höhe ersetzt werden. In der Praxis werden aber immer wieder Vorwände gefunden, dies nicht zu tun. So wurden schon mehrfach „Anhaltswerte“ angegeben, wieviel pro Quadratmeter eine Heizkostenrechnung betragen dürfe. Bei Überschreitung werden solche Erstattungen gekürzt. Die neueste Superleistung auf diesem Gebiet hat nun die ARGE Bochum geboten: Man pauschaliert anhand von „ Erfahrungswerten“ der Quadratmeterzahl der Wohnung die Höchst-Heizkosten und kürzt die Ersatzleistungen auf die entsprechenden Beträge.

Hartz-Protest 02

Wer also das Pech hat, nur eine Mietwohnung in einem schlecht isolierten Gebäude und /oder mit schlecht schließenden Fenstern gefunden zu haben, muss einen Teil seiner Regelleistung von 347 Euro auch noch für die Heizkosten ausgeben. Dabei ist dieser Betrag, wie Wissenschaftler nachgewiesen haben, sowieso schon nicht ausreichend, um sich z.B. ausgewogen zu ernähren

Und woher soll ein Hartz-IV-Geschlagener Geld nehmen, um isolieren zu lassen oder für neue Fenster? Hätte er noch Ersparnmisse, wäre sowieso nichts gezahlt worden. Er hätte sie erst aufbrauchen müssen. Einmal mehr wird die ganze Absurdität der Hartz-IV-Gesetze deutlich. Es ist nicht weit her geholt, wenn manche deren Erfinder, die Politiker von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen, als Hartz-Verbrecher bezeichnen.

Hartz-Protest 01

Reklamationen wehrt die ARGE Bochum mit dem Hinweis ab, man solle sich eben mit dem Heizen von nur Zwei Dritteln der Wohnung begnügen. Auch bei Gemeinschaftheizungen, bei denen der einzelne Mieter sowieso kaum Einfluss hat, werden Höchstbeträge festgesetzt, die kaum je ausreichen.

Zwar kann man Einspruch gegen diese Zumutung erheben, aber der wird in allen Fällen pauschal zurückgewiesen. Dann bleibt nur der Weg zu den Gerichten. Dabei wird einem zwar geholfen (bei der Montagsdemo in Bochum, anderen Montagsdemos oder auch hier, ausserdem wurden bei den zuständigen Gerichten der ersten Inztanz diese Praktiken auch regelmässig zurückgewiesen, aber die ARGE Bochum geht immer in die nächste Instanz, was bekanntermassen lange dauert. Die Kosten dieser Gerichtsverfahren für den Steuerzahler sind weit höher als die eventuell im Einzelfall eingesparten Beträge.

Hartz ueber Hartz IV. Dass die Arbeitslosen nur ein Jahr Arbeitslosengeld bekommen, 'ist ein grosser Fehler, ein Betrug ... an denen, die jahrelang eingezahlt haben.'

Kein Wunder, dass heute Hartz IV weit mehr kostet als damals das Arbeitslosenhilfe. Da Hartz angeblich Kosten sparen sollte, müsste es also jetzt wegen völliger Erfolglosigkeit abgeschafft werden, aber es ist genauso wie mit dem Irak-Krieg: Wenn die ursprünglich angegeben Gründe nicht mehr zutreffen, erfinden wir eben neue. Auf keinen Fall ändern wir aber die Politik. Ein paar Milliarden zusätzlich gibt der nette Politiker von nebenan dafür schon mal aus. Siehe zur Frage der Kosten auch den Artikel: „Grundversorgung von 1600 Euro käme billiger als heute“.

Laut dem Hartz-IV-Gesetz bleiben Bescheide der Leistungsbehörde immer bestehen, bis ein rechtsgültiges Urteil vorliegt. Selbst dann zahlen manche Agenturen bzw. ARGEn nicht. In einem Fall in Bonn wurde erst bezahlt, als der Gerichtsvollzieher bereits auf dem Weg war, den BMW der Bürgermeisterin zu pfänden.

Es bestünde natürlich auch die Möglichkeit, Gelder wegen besonderer Bedürftigkeit auszuzahlen, wenn jemand von Obdachlosigkeit bedroht ist oder von Hunger, aber bekanntermassen tun dies die Leistungsbehörden kaum einmal. Die Handhabungen sind fast immer die meist restriktiv möglichen, gehen manchmal sogar ins kriminelle. Zu kriminellen Praktiken der Leistungsbehörden siehe auch diesen Artikel: „Arbeitslosigkeit ist zum Delikt geworden“.

Erneut wird klar: Die damaligen Vorhersagen über die katastrophalen Auswirkungen von Hartz IV für Millionen von Menschen haben sich bewahrheitet, während die Beschwichtigungen von Politikern und Medien nichts als leeres Geschwätz waren.

Veröffentlicht am 30. Juni 2008 in der Berliner Umschau

Originalveröffentlichung


Andere Artikel zur Hartz IV im Blog:

"Dossier Hartz IV – Hindernisrennen ins Elend"

"19 Fälle – Die Realität von Hartz IV"

"Nicht genug zu essen – Hartz IV – Realität in Deutschland 2007"

"Die neuesten Hartz-Sauereien – Das Mass ist voll!"

"Hartz IV – Absurd, absurder, am absurdesten – Das Chaos war geplant!"

"Hartz IV – Berliner Zeitung schert aus dem Chor der Missbrauchsankläger aus"

"5 Millionen Arbeitslose einstellen"

"Grundversorgung von 1600 Euro käme billiger als heute."

"Arbeitslosigkeit ist zum Delikt geworden"

"Hartz IV führt in Obdachlosigkeit"

"Hartz IV–Empfänger müssen kalt duschen, im Dunkeln sitzen und Wasser trinken"

"Hartz IV: Vertreibung von Mietern"

"Hartz IV–Betroffene: Daumenschrauben anziehen!"

"Kein Anspruch auf fabrikneue Kleidung"

"Hartz IV: Unter den Brücken schlafen?"

"Hartz-IV: Jetzt auch noch Sippenhaft"

Sonntag, 29. Juni 2008

'Menschenfresser Country'

Brasilien jenseits von Fußball und Samba

Teil 2: Menschenfresser Country

Von Elmar Getto

Brasilien (topographisch)

Im ersten Teil haben wir berichtet, woher der Name Amazonas kommt und von einem Teil der Indios, welche die portugiesischen und spanischen Eroberer in jenem Land antrafen, das kurze Zeit später Brasilien heißen sollte, jenem Teil nämlich, der noch in der Urgemeinschaft lebte.

Aber viele indianische Stämme waren schon weiter entwickelt und waren auch recht wehrhaft.

(...) Es gab auch Begegnungen, die nicht so freundlich abliefen. Der spanische Seefahrer Pinzón, einer der Kapitäne der Kolumbus-Reise von 1492, wurde Ende des Jahres 1499 von der spanischen Krone mit einer weiteren Expedition beauftragt. Er erreichte den amerikanischen Kontinent im Januar 1500, abgetrieben durch einen Sturm, in Südamerika (die Seefahrer mußten damals bei jeder Atlantiküberquerung mit der Strömung von den Kanarischen oder Kapverdischen Inseln aus nach Westen segeln und kamen damit immer genau in die dort bis heute bestehende „Küche der Hurrikans“).

Später konnte rekonstruiert werden, daß Pinzón, entgegen seiner Annahme, in der Nähe der heutigen Stadt Fortaleza, Hauptstadt des brasilianischen Bundeslandes Ceará, anlandete, am Cap Ponta de Mucuripe, wo ein kleiner Fluß ins Meer mündet, der heute noch den Namen trägt, den die Indios ihm gegeben haben: Curú. Damit hatten eigentlich die Spanier Brasilien entdeckt, denn Cabral machte seine Entdeckung ja erst im April des gleichen Jahres, aber dies hatte keine praktischen Konsequenzen.

Pinzón, offenbar ein Mann vom Typ George W. Bush, wurde bekannt dafür, daß er alle Indios, die er antraf, versuchte gefangenzunehmen und als Sklaven auf die Schiffe laden zu lassen. Er selbst beschreibt die Begegnung mit dem Stamm der Potiguar, die ihn dort am Strand des heutigen Ceará erwarteten, so als ob die Indios angegriffen hätten. Wir können aber getrost davon ausgehen, daß er es war, der die Gefangennahme versuchte und die Wehrhaftigkeit der Indios kennenlernen mußte.

Potiguar war der Überbegriff für eine Gruppe von Indio-Stämmen, die zu jener Zeit die gesamte Küste vom Norden Cearás bis hinunter zum heutigen Bundesland Paraíba bewohnten, eine Strecke von 600 Kilometern. Sie waren bereits fortgeschrittener in der Entwicklung, kannten erste und einfache Formen von Ackerbau (Manniok-Wurzeln), hatten schon eine entwickelte Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau und erste frühe Formen einer Familienbildung. Dort am Strand traten den Spaniern nur die Männer, die Krieger des Stammes entgegen, vorsichtig auskundschaftend, was die fremdartigen Männer von den scheinbar riesigen Schiffen, in schillerndes Metall gekleidet, im Schilde führten.

Außerdem hatten die Potiguars eine kleine Unart, die damals viele Indios in Südamerika hatten, sie aßen Menschen.

Aber bevor wir berichten, wie die Eroberer diese ‚Unart’ kennen lernen sollten, sind wir ja noch in Ceará in und an der Flußmündung des Curu.

Als sie (wahrscheinlich) von den Leuten Pinzóns angegriffen wurden, nahmen die Potiguar mit einem Trick einen blitzschnell gefangen und töteten ihn. Offensichtlich zogen sich die europäischen Eroberer daraufhin auf ihre Landungsboote in der Flußmündung zurück.

Die folgende Szene dort in der Flußmündung in Ceará im Januar 1500 ist schon fast Legende. Die Indio-Krieger griffen die Spanier in ihren Booten an, nur mit steinzeitlichen Pfeil und Bogen und Lanzen gegen die waffenklirrenden und Rüstung tragenden Europäer, im Wasser watend gegen die von oben aus den Booten kämpfenden Spanier. Das Resultat dieses ungleichen Gefechts kann sich jeder ausmalen.

Hören wir den Bericht von Pinzón selbst über diesen ungleichen Kampf:

„Im Fluß verteilen sich jene wehrhaften Männer rund um die Boote, klammern sich an die Bootsränder und versuchen uns vom Flußufer zu erreichen. Unsere Lanzen und Schwerter schlachteten sie wie Schafe, denn sie waren nackt. Doch selbst so zogen sie sich nicht zurück. Sie können eines unserer Boote erobern, selbst nachdem ihr Anführer von einem Pfeil durchbohrt und getötet worden war. Der Rest konnte sich retten. Um es kurz zu machen (...): Sie töteten acht von unseren Männern mit Pfeilen und Wurfspeeren und es gab fast keinen von uns, der nicht eine Verletzung aufzuweisen hatte. Wenn ihre Pfeile vergiftet gewesen wären, keiner von uns würde mehr existieren.“

Fast alle Indios wurden also abgeschlachtet. Einer der ersten Momente des Kontakts von Europa und Südamerika wurde zum Menetekel: Die Europäer würden die Indios ausrotten.

Der atlantische Regenwald, der damals noch fast die gesamte Küste des heutigen Brasiliens bedeckte (heute gibt es nur noch 8% davon), hat zwar die höchste Zahl von Spezies pro Quadrat-Kilometer von allen bekannten Habitats, kannte aber nicht jene Art von Baumfröschen, deren hochwirksames Gift viele Indiostämme sich zunutze machten (Gerade vor kurzem wurde berichtet, daß man herausgefunden hat, daß es ein Käfer ist, der dieses Gift produziert und der eine Nahrung für jene Frösche darstellt). So hatten die Potiguar keine Pfeilgifte und das spanische Landungsteam überlebte zum großen Teil.

Ein Jahr später, 1501, ebenfalls beim ersten Kontakt mit dem südamerikanischen Festland, traf eine portugiesische Expedition unter Coelho (wir berichteten schon im 1. Teil von ihr) auf eine andere Gruppe von Potiguar-Indios, ein Stück weiter südlich, im heutigen brasilianischen Bundesland Rio Grande do Norte, nahe dem Cap, das man als ‚Horn von Südamerika’ bezeichnen kann, das am weitesten nach Osten vorspringt.

Die dortigen Potiguar-Indios hielten sich in sicherer Entfernung und Coelho sandte einen Trupp von sechs Männern zur Erkundung aus. Doch die sechs kehrten nicht zurück. Nach einer Woche war der Strand plötzlich voll von Indio-Frauen. Einer der Schiffsjungen wurden von einem Landungsboot zu ihnen geschickt. Sie betasteten ihn von allen Seiten, erschlugen ihn dann und verschwanden in höchster Geschwindigkeit mit seinem Leichnam zur Kuppe eines nahegelegenen Hügels. Gleichzeitig tauchten die Männer auf, die sich bisher versteckt hatten und setzten die Portugiesen (und Americo Vespucci, der uns diese Szene schildert) unter einen Pfeilhagel. Kanonenschüsse verjagten zwar die Männer, aber nun mußten die erstarrten Eroberer mit ansehen, wie die Potiguars den Leichnam des Schiffsjungen in Stücke schnitten, an einem großen Feuer grillten und verzehrten. Die Männer machten gleichzeitig Handzeichen, die nur so verstanden werden konnten, daß das gleiche auch mit den sechs Männern geschehen war.

Diese Szene, geschildert in allen Details, war Teil eines der Briefe von Americo Vespucci an seine Florentiner Auftraggeber und wurde später in die Broschüre aufgenommen, die in ganz Europa Verbreitung fand. Die Folgen waren verheerend und sind es bis heute. Brasilien wurde seit der Zeit, als es noch nicht einmal einen Namen hatte, zum Land der ‚Menschenfresser’ und ist es im Grunde bis heute.

Allerdings muss man, um den Indios Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, auch erwähnen: Menschen zu essen war eine Kulthandlung, nicht etwas, das den Hunger stillen sollte. Die Indios hatten sehr wohl schon den gleichen Respekt vor dem menschlichen Körper, wie wir ihn heute haben, auch wenn er tot ist. Sie assen Menschen, um sich deren Kraft, deren Intelligenz, deren Kenntnisse und Fertigkeiten anzueignen. Niemals wurden Menschen nur darum getötet, um sie zu essen.

Vier Jahrhunderte später, in den zwanziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts, formierte sich eine kleine Gruppe von brasilianischen Intellektuellen und Künstlern zu einer Gruppe (in Europa hätte man gesagt „ ... von Expressionisten“), nannte sich ‚Modernisten’ und veranstaltete 1922 in São Paulo die ‚Woche der modernen Kunst’, was einen heftigen Skandal auslöste. Wurden die Expressionisten in Europa beschimpft, verspottet und angepöbelt und ein wenig später als „entartet“ bezeichnet, warum sollte es ihren Freunden in Brasilien besser ergehen?

Die wichtigsten Exponenten dieser Bewegung des ‚Modernismus’ in Brasilien waren der geniale Musiker, Dichter und Schriftsteller Mario de Andrade (1893 – 1945), der (nicht mit ihm verwandte) Poet, Schriftsteller, Dramaturg, Anwalt und Journalist Oswald de Andrade (1890 – 1954) und dessen spätere Frau, die Malerin und Bildhauerin Tarsila de Amaral (1886 – 1973). Sie kamen aus wohlhabenden Familien und kannten Paris und die dortigen Expressionisten. Tarsila war schon mit Picasso zusammengetroffen.

Mario de Andrade hatte bereits als Jugendlicher Gedichte verfaßt, in denen er Worte erfand, deren ‚Bedeutung’ aus den Assoziationen hervorging, die ihr Klang hervorrief. Sein wichtigster Roman ‚Macunaíma’ dürfte das wichtigste Dokument des brasilianischen Modernismus in der Schriftstellerei darstellen, wurde aber in Europa nie wirklich zur Kenntnis genommen. Bis heute rätseln Experten über die Bedeutung einiger Stellen im Roman.

Er handelt u.a. von der Suche des Titelhelden, der ‚keinerlei Charakter’ habe, in allen Gegenden Brasiliens nach einem Muiraquitã, einem Amulett mit Zauberkräften in Gestalt eines Frosches, das einer der Frauen des indianischen Cumurí-Stammes gehört hatte, nach denen der Amazonas benannt worden war. Muiraquitãs sind aus Jade geschnitzte Amulette in Form von Tieren, denen auch heilende Eigenschaften zugeschrieben wurden.

Mario mischt die Stile, wie Mythologie, Geschichtsschreibung und Folklore mit Parodie, Chronik und lyrischem Epos, das Ganze in brasilianischem Portugiesisch mit vielen regionalen Slang-Ausdrücken und kommt immer wieder auf die indianischen Wurzeln zurück.

Macunaímas Suche stellt wohl die Suche des Brasilianers nach seiner Identität zwischen Portugiesen, Indios und Schwarzen dar. Keine Frage, daß ausführlich Menschen(-teile) verspeist werden, gibt es brasilianischeres?

Immerhin gibt es ‚Macunaíma’ seit 2001 als Suhrkamp Taschenbuch Nr. 3198. Es wird bei „buch.de“ für € 3,95 verkauft. Muß wohl auf kein großes Interesse gestoßen sein, daß man es jetzt verramscht.

Mehrfach hatten die ‚modernistischen’ Brasilianer von europäischen Intellektuellen hören müssen, sie kämen ja aus einem Land, wo man Menschen ißt.

O Abaporu - Tarsila de Amaral

Als nun Tarsila 1928 eines ihrer Meisterwerke gelungen war, das Gemälde ‚O Abaporu’, gaben sie und ihr Mann Oswald ihm diesen Namen, der ‚Menschenfresser’ in der indianischen Sprache Tupi-Guarani bedeutet.

In trotziger Reaktion auf die arroganten Sprüche der europäischen Intellektuellen, in bewußter Annahme ihrer ‚Brasilianität’ (das ist die Übersetzung eines der von Mario de Andrade erfundenen Worte) und in einer symbolischen Anspielung auf die verschiedenen Einflüsse, die sie ‚verschlangen’ und zu etwas Neuem umgestalteten, nannten sie ihre Gruppe jetzt „Bewegung der Antropofagen“ (Menschenfresser in der griechischen, wissenschaftlichen Bezeichnung) und Oswald gab das ‚Anthropofagische Manifest’ heraus.

Hier ein Zitat aus der Schrift der Kunstdirektorin eines Museums in Südafrika anläßlich der südafrikanischen Beteiligung an der Kunst-Biennale 2004 in São Paulo, Brasilien, in Bezug auf dieses Manifest:

„Das ‚Manifesto Anthropófago’ des brasilianischen Schriftstellers Oswald de Andrade, 1928 geschrieben, erklärte „Menschenfresserei“ als Prozeß des Absorbierens und Mischens anderer Kulturen. In Brasilien ist „Anthropofagia“ (Menschenfresserei) ein ‚transhistorisches’ Kunst-Konzept, das die eurozentrische Konzeption der Geschichte der Kunst herausfordert.“

Tarsila de Amaral kann ohne weiteres in einem Atemzug genannt werden mit Franz Marc oder Wladimir Kandinski, ist hier aber weithin unbekannt, von Mario de Andrade und seinem Macunaíma ganz zu schweigen.

Die europäische Kunstszene ignoriert fast völlig diese bedeutenden brasilianischen Beiträge zur Kunstrichtung, die hier generalisierend als ‚Expressionismus’ (die brasilianischen Künstler haben sich dieses ‚Etikett’ nie zu eigen gemacht) bezeichnet wird und das ist charakteristisch. Es reicht, aus ‚Menschenfresser Country’ zu kommen und man wird in Europa von oben herab angesehen.

Der Eurozentrismus ist eine generelle Eigenschaft der europäischen Kultur, nicht nur in der Kunstszene. Man macht sich hier leicht lustig über die Unkenntnis vieler US-Amerikaner über Dinge außerhalb ihres Landes, hat aber selbst tiefsitzende Vorurteile. Man beginnt dies als Europäer erst zu bemerken, wenn man eine Zeit in einem Entwicklungsland gelebt hat. Das Gefühl, ‚etwas Besseres zu sein’ als jemand aus einem Entwicklungsland wird uns in Europa mit der Muttermilch eingetrichtert und es gelingt selbst in einem bewußten Prozeß kaum, sich davon zu befreien.


Heute der zweite Teil von Elmar Gettos Brasilien-Serie, erschienen ursprünglich in "Rbi-aktuell", heute Berliner Umschau, am 1. Dezember 2004, hier in redigierter und aktualisierter Fassung


Hier die Links zu allen Teilen der Reihe „Brasilien jenseits von Fussball und Samba“

- Teil 1: „Wie der Amazonas zu seinem Namen kam“

- Teil 2: ‚Menschenfresser-Country’

- Teil 3: „Ausgerottete Künstler“

- Teil 4: Niemeyer ist 100 – ‚Auf dem Höhepunkt des Schaffens’

- Teil 5: Brasilien und Gold

- Teil 6: Die Landschaften Brasiliens – Der Amazonas-Regenwald

- Teil 7: Brasilien und der Strom

- Teil 8: Die Landschaften Brasiliens – Mata Atlântica

- Teil 9: Santos Dumont und der erste Motorflug

- Teil 10: SIVAM – Big Brother in Amazonien

- Teil 11: Sprit aus nachwachsenden Rohstoffen

- Teil 12: Regenwaldvernichtung und Trockenheit im Amazonasgebiet

- Teil 13: Wie unsere Zukunft in der beginnenden kapitalistischen Barbarei aussähe – „Ich habe kein Leben“

Samstag, 28. Juni 2008

2 Jahre Blog Karl Weiss Journalismus

In eigener Sache

Vor 2 Jahren, am 28.6. 2006, wurde dieses Blog eröffnet.

Am Anfang war die Idee lediglich, die Artikel, die von mir und Elmar erschienen waren, weiterhin zur Verfügung zu stellen. Inzwischen hat sich das Blog aber zu einer kleinen Institution gemausert und wird schon mit einer gewissen Häufigkeit gelesen.

Allerdings kann es noch keinen Vergleich mit den vielgelesenen Blogs bestehen.

In diesem Blog werden jetzt auch Erstveröffentlichungen gebracht, aber weiterhin im wesentlichen die Artikel, die in der Berliner Umschau erscheinen.

Rechtzeitig zum Geburtstag hat „Blogcounter“ 700 000 Besuche auf diesem Blog gezählt. „Sitemeter“ zählt allerdings erst 690 000.

In Blogcounter erreicht dieses Blog praktisch täglich die Liste der 100 meist gelesenen Blogs. In „Bloggerei“ kommt es ständig unter die ersten 150.

Die meist angeklickten Artikel sind die zu Kinderporno-Verfolgungen, christlich-extremistischen Absurditäten und Sexualsrafrechtsverschärfungen, die hier deshalb noch einmal verlinkt sein sollen:

- USA: Absurditäten des
religiösen Extremismus


- Schnüffeln im Sexualleben der Bundesbürger

- ...promt ging die Sache in die Hose –Rasterfahndung hätte um ein Haar eine Firma gekostet

- Schon in den USA, bald auch bei uns – Gefängnis für Sex unter 18

- Die Zukunft der USA unter den extremistischen Christen

- Sex?? Gefängnis!!

- Operation Ore, Teil 1: Der grösste Polizei-, Justiz- und Medien-Skandal des neuen Jahrtausends

- Operation Ore, Teil 2: Die Berühmtheiten unter den Verdächtigten, die Rolle der Polizei

- Operation Ore, Teil 3: Die Rolle der Politik und der Medien

- Dossier Verschärfung Sexualstrafrecht, Teil 1

- Dossier Verschärfung Sexualstrafrecht, Teil 2

- Die Dossiers Verschärfung Sexualstrafrecht

- Sex unter 18? – 10 Jahre Gefängnis!

- Schärferes Sexualstrafrecht soll Donnerstag durch den Bundestag

- Hurra! Sie haben es gestoppt

- Justiz im US-Bundesstaat New Jersey: Kein Internet für „Sex Offenders“

- Dossier Verschärfung Sexualstrafrecht, Teil 3


Dies ist auch ein Bereich, in dem das Blog wohl zusammen mit anderen Veröffentlichungen einen kleinen Teilerfolg erzielen konnte. Die ursprüngliche Fassung des neuen Sexualstrafrechts in Deutschland ist vom Tisch. Es wird jetzt nur noch eine abgeschwächte Version verfolgt. Dazu kommt demnächst auch wieder ein Artikel. Im Moment wird noch recherchiert.

Eine Besonderheit dieses Blogs ist seine Foto- und Bildersammlung, speziell unter „Nachrichtenbilder“. Fast ein Drittel aller Klicks kommt über „images.google“. Es seien hier deshalb auch noch einmal eine Anzahl von häufig angeklickten Bildern des Blogs gezeigt:

(Anmerkung: Es gibt eine kleine Anzahl von Nudistenfotos, Bravo-Aufklärungsbildern und Wikipedia-Sexual-Abbildungen unter den viel angeklickten. Diese Bilder wurden hier ausschliesslich als Beleg für die im Internet frei zugänglichen Bilder und als Beispiele für die Absurditäten des beabsichtigten neuen Sexualstrafrechts eingestellt.)

Bild aus Abu Ghraib mit Wärterin (Frau England), die auf kleinen Penis zeigt und lacht

Bild des "Berges der nackten Gefangenen"

Kohlendioxid-Anstieg: Dies ist eine so überzeugende Kurve über das, was im Moment geschieht, dass sich jeder Kommentar erübrigt.

Treffende Karikatur

Ausschnitt aus Sexfolterphoto Abu Ghraib

Energieverbrauch Deutscland

Die völlige Zerstückelung des palästinensischen Territoriums wird hier deutlich. Das ist keine Besatzung, das ist Annektion.

Wikipedia Commons - Penis mit Skala

Bravo - Selbstbefriedigung 1

Bravo - Stellungen

Die fünf wärmsten Jahre seit 1890

Karikatur Selbstmord Guantánamo

Nudist foto 199

nudist foto 831

Abu Ghraib 1-1

Pete Townshend

Irak-Krieg US-Aggression

Verbeamtete Mafia - Polizisten misshandeln Demonstranten

Als Geburtstagsüberraschung für die Leser habe ich begonnen, Elmars Brasilien- Serie "Brasilien jenseits von Fussball und Samba" hier erneut in aktualisierter Form in das Blog zu stellen. Am letzten Sonntag kam schon der erste Teil. Diesen Sonntag soll der zweite folgen - usw.

Freitag, 27. Juni 2008

Entsetzliches Ende für drei junge Leute

Einsatz des Militär im Inneren: Hier sieht man die Resultate

Von Karl Weiss

Drei junge Männer, eigentlich noch Heranwachsende, wurden von Truppen, die in einer Favela in Rio de Janeiro eingesetzt waren, gefangen genommen und an die gegnerische kriminelle Organisation der Nachbarfavela ausgeliefert, die sie zu Tode folterten. Ihre Leichen wurden im Abfall gefunden.

Favela in Belo Horizonte

Die drei jungen Leute wurden eventuell von der kriminellen Organisation, die diese Favela beherrscht, zu Diensten gezwungen. Von der konkurrierenden Kriminellen-Organisation des anderen Hügels wurden sie als Feinde angesehen. Zu Tode foltern ist in der kapitalistischen Barbarei, die in Rios Favelas bereits herrscht, das, was jedem „Feind“ passiert.

Insofern ähneln sich die großen imperialistischen kriminellen Organisationen, wie der Staatsapparat der USA, und die kleineren regionalen kriminellen Organisationen, die nur ein paar Hügel unter sich haben. Die einen sagen Feind, die anderen "feindliche Kombattanten", die einen foltern gleich zu Tode, die anderen dafür umso länger.

Guantánamo Wagen

Das Ganze hat Zusammenhänge, die bis zum Präsidenten Lula gehen.

Es begann mit einer sozialen Aktion, die ein Kandidat für die Bürgermeisterwahlen im Oktober in Rio, Crivella, in der Favela Providência durchführen lassen wollte. Es ging um Renovierungsarbeiten von Fassaden und Dächern der Häuser in der Favela.

Lula, mit dem Crivella politisch verbunden ist, erklärte, man müsse zur Sicherung der sozialen Aktionen in den Favelas Truppen dort hineinschicken. So standen plötzlich für den Krieg ausgebildete Männer mitten in einer Favela, die von einer mafiaähnlichen kriminellen Gross-Organisation beherrscht wird.

Das konnte natürlich nicht gut gehen.

Die Soldaten hatten dort gar nicht den Auftrag, für gesetzmässige Verhältnisse zu sorgen. Sie sollten lediglich die Sicherheit der Renovierungs-Arbeiten gewährleisten. So wurde dann auch schnell eine Vereinbarung mit der Mafia-Organisation der Favela geschlossen: Ihr lasst uns hier in Ruhe das Renovieren überwachen und wir lassen euch in Ruhe euren „Geschäften“ nachgehen.

Aber es gab irgendwelche Probleme mit der konkurrierenden kriminellen Organisation des Nachbar-Favela-Hügels Mineira. Welcher Art diese genau waren, ist bis heute nicht an Tageslicht gekommen. Jedenfalls hat der Kommandant der Truppe (oder ein Unter-Kommandant) offenbar mit den Kriminellen des Nachbar-Hügels eine Vereinbarung getroffen, die beinhaltete, dass man drei junge Männer aus der Providência-Favela zum Abschlachten erhält. Gesagt – getan!

Allerdings kam alles schnell heraus, nachdem die Leichen in Müllbehältern gefunden worden waren. Zeugen hatten gesehen: Die drei waren vom Militär fstgenommen worden. Als die Bewohner erfuhren, was die Soldaten mit ihren Kindern/Verwandten/Kameraden gemacht hatten, rebellierten sie gegen die Militärs und es kam zu hässlichen Zusammenstössen.

Dann griff wieder Präsident Lula ein und verurteilte die Tat der Truppe. Ein Gericht entschied, sie muss die Favela sofort verlassen. Aber das Militär steht in Brasilien über dem Gesetz. Die Soldaten blieben trotzdem da.

Tausende erschienen zur Beerdigung der Folteropfer und die ganze Sache bekam soviel Gewicht, dass der Verteidigungsminister nun wirklich die Truppen abzog. Damit waren aber auch die Renovierungsarbeiten beendet – halb fertig. Nun streitet man sich darum, wie man die Arbeiten beenden will.

So vermischt sich in Gegenden mit einer Doppelherrschaft von einerseits der Regierung und andererseits kriminellen Profi-Organisationen vom Mafia-Stil viel Blut mit Schweiss, wenn man gleichzeitig an Orten Präsenz zeigen will, die gar nicht unter der eigenen Oberhoheit stehen und dabei auch noch mit Steuermitteln Wahlkampf betreibt.

Hier kann man in etwa erkennen, was kapitalistische Barbarei bedeutet – und die ist ja erst am Beginn. Man male sich aus, wie die in voller Entwicklung aussieht.

Auf jeden Fall zeigt sich auch an diesem Beispiel: Der Einsatz vom Truppen im Inneren wird immer mit grausamem Blutvergiessen verbunden sein.

New Torture Photo1

Übung von KSK-Truppe gegen Zivilisten

Für die Beibehaltung des Verbots des Einsatzes der Bundeswehr gegen die eigene Bevölkerung!


Veröffentlicht am 27. Juni 2008 in der Berliner Umschau

Originalveröffentlichung


Zusatz zum Artikel

Ein brasilianisches Sensationsblatt hat darüber berichtet, wie die drei zu Tode gefoltert wurden. Man habe angeblich indirekten Zugang zum Obduktionsbericht der drei Ermordeten gehabt. Allerdings hat die Polizei diese Meldung dementiert. Da man aber schon Einzelheiten der Ermordung eines Journalisten vor drei Jahren erfahren hat, kann sie absolut wahr sein. Mit allem Vorbehalt also - und deshalb auch nur als Zusatz:
Die drei seinen am ganzen Körper übersät mit Brandwunden gewesen. Man habe sie offenbar stundenlang mt einem Schweissbrenner oder einer Lötlampe verletzt. Allen dreien sei bei lebendigem Leib der Penis vollständig abgebrannt worden. In den After habe man grosse Holzpflöcke eingeschlagen, die schwere Verletzungen hervorgerufen hätten. Danach habe man ihnen die Hoden abgeschossen. Am Ende seinen allen dreien bei lebendigem Leib mit Salven von Schüssen beide Beine vollständig abgetrennt worden. So habe man sie dann verbluten lassen.
Selbst wenn die Meldung so nicht oder nicht vollständig wahr ist - sie gibt doch einen Einblick, was man sich unter kapitalistischer Barbarei vorzustellen hat, die uns alle treffen wird, wenn wir nicht mit diesem System aufräumen.

Donnerstag, 26. Juni 2008

Hartz IV: Jetzt auch noch Sippenhaft

Wettbewerb um den Gerhard-Schröder-Preis der niederträchtigsten Behandlung der Arbeitslosen

Von Karl Weiss

Die ARGEs, die Arbeitsgemeinschaften zwischen Bundesagentur ohne Arbeit und den Landkreisen bzw. kreisfreien Städten sollten eigentlich die Arbeitslosen betreuen und alle anderen, die Anspruch nach Hartz IV auf Arbeitslosengeld 2 (ALG 2) haben. Stattdessen sind sie in einen Wettkampf getreten, wer am häufigsten, am brutalsten, am intensivsten und am mörderischsten den Arbeitslosen selbst das wenige Geld noch vorenthalten kann, das Hartz IV vorsieht. Es scheint ein Gerhard-Schröder-Preis für die niederträchtigste Behandlung von Arbeitslosen ausgeschrieben worden zu sein.

Hartz-Protest 02

Einer der aussichtsreichsten Kandidaten in diesem Sinne ist die ARGE Bonn. Sie hat in Anlehnung an die faschistische Sippenhaft nun die Sippenhaftung eingeführt. Wird ein Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft sanktioniert (sprich: Geld gestrichen), bestraft man gleich den (oder die) anderen mit. Wird einer, der Miete zahlt, mit Sanktionen belegt, erhalten auch die anderen Mietzahler weniger

Der aktuelle Fall in Bonn: Die Mutter, nennen wir sie Erna, lebt mit ihrer Tochter Marie zusammen in einer Wohnung und beide beziehen ALG 2. Jeder der beiden bekommt die Hälfte der Miete überwiesen. Nun ging die Tochter nicht zu Terminen, die ihr die ARGE gesetzt hatte und wurde zunächst mit Verringerung der Auszahlung bestraft, dann mit Streichen des Geldes und schliesslich auch mit dem Nichtbezahlen ihres Mietanteils. Doch die Miete wurde ganz überwiesen, aber dann der Betrag, den die Tochter nicht mehr am Mietbetrag bekommen soll, BEI DER MUTTER vom Regelsatz, also von den 347 Euro, abgezogen. Es wurden ihr nur 83 Euro überwiesen und nun steht die Frau ohne Geld da.

Hartz ueber Hartz IV. Dass die Arbeitslosen nur ein Jahr Arbeitslosengeld bekommen, 'ist ein grosser Fehler, ein Betrug ... an denen, die jahrelang eingezahlt haben.'

Die Bonner Arge hat sich diesen Fall offenbar mit Bedacht ausgesucht, denn Erna, die Bürokauffrau gelernt hat, ist nicht nur arbeitslos, sondern auch seit Jahren schwer krank. Als sie sich um Hilfe an das Erwerbslosen Forum Deutschland (http://www.erwerbslosenforum.de/ ) wendete, hatte sie nur noch 5 Euro zum Leben und war völlig verzweifelt.

Der Betreiber des Erwerbslosenforums, Martin Behrsing, sagte zu dem Fall laut „Gegen Hartz“ (http://www.gegen-hartz.de/ ): „Es ist das Problem des Konstrukts Bedarfsgemeinschaften und jungen erwachsenen Menschen, die eine Zwangsstallpflicht bei den Eltern haben. Erneut zeigt sich, dass die Hartz IV-Gesetzgebung erhebliche verfassungsbedenkliche Mängel aufweist. Eine sippenhaftige Bestrafung darf es gar nicht geben. Hartz IV macht es aber ohne große Probleme möglich.“

Hartz-Protest 01

Der Leiter der ARGE hatte auf Anfrage zugesagt, sich um den Fall zu kümmern. Stattdessen hat er den Vorgang an den Sachbearbeiter zurück geleitet. Der erklärte, dies sei „völlig normal“.

Wohin sind wir in Deutschland gekommen, wenn dies völlig normal ist?

Der Hinweis auf die Verfassung verfängt auch nicht. Auf vielen Wegen wurde schon versucht, das Verfassungsgericht wegen Hartz IV anzurufen. Die Herren dort haben bisher nicht einmal einen Prozess auch nur eröffnet. Nein, von den ausrangierten Politkern im Verfassungsgericht haben wir nichts zu ewarten.

Elmar auf Stuttgarter Modemo Jan 06, Polizeifahrzeuge

Nur der Massenprotest gegen Hartz IV kann diese Zumutung für ein ganzes Volk kippen! Stärkt die Montagsdemos!


Veröffentlicht am 26. Juni 2008 in der Berliner Umschau

Erstveröffentlichung

Andere Artikel zur Hartz IV im Blog:

"Dossier Hartz IV – Hindernisrennen ins Elend"

"19 Fälle – Die Realität von Hartz IV"

"Nicht genug zu essen – Hartz IV – Realität in Deutschland 2007"

"Die neuesten Hartz-Sauereien – Das Mass ist voll!"

"Hartz IV – Absurd, absurder, am absurdesten – Das Chaos war geplant!"

"Hartz IV – Berliner Zeitung schert aus dem Chor der Missbrauchsankläger aus"

"5 Millionen Arbeitslose einstellen"

"Grundversorgung von 1600 Euro käme billiger als heute."

"Arbeitslosigkeit ist zum Delikt geworden"

"Hartz IV führt in Obdachlosigkeit"

"Hartz IV–Empfänger müssen kalt duschen, im Dunkeln sitzen und Wasser trinken"

"Hartz IV: Vertreibung von Mietern"

"Hartz IV–Betroffene: Daumenschrauben anziehen!"

"Hartz IV: Nieder auf die Knie!"

"Kein Anspruch auf fabrikneue Kleidung"

"Hartz IV: Unter den Brücken schlafen?"

Dienstag, 24. Juni 2008

Streik der Lehrer an Staatsschulen in São Paulo

Niedrige Lehrerbesoldung ist charakteristisch für Entwicklungsländer

Von Karl Weiss

Die geringe Bezahlung von Lehrern ist ein typisches Anzeichen von Entwicklungsländern. Während in den entwickelten Industriestaaten die Lehrerbesoldung auf der gleichen Ebene liegt wie die von Richtern oder von Ärzten im Staatsdienst, sind die Personen, die am meisten die Zukunft des Landes bestimmen, die Lehrer, in Entwicklungsländern durchweg chronisch unterbezahlt. In São Paulo, Brasilien, wehren sich nun die Lehrer an den Schulen des Staates (Bundeslandes) mit einem Streik und Demonstrationen gegen die ständig sinkende Realbezahlung.

São Paulo, grösste Stadt der südlichen Hemisphere

In Brasilien war die Bezahlung der Lehrer immer schon weit unterhalb von allem, was Studierte an anderen Arbeitsplätzen verdienen, aber die 8 Jahre Neoliberalismus des Präsidenten Cardoso haben dies zum offenen Skandal werden lassen. Er hat während der ganzen 8 Jahre seiner Herrschaft keine einzige Lohnerhöhung im öffentlichen Dienst zugelassen (mit der Ausnahme einiger kleiner Gruppen), was für die Lehrer bei 50% Inflation während dieser 8 Jahre ihre sowieso schon kleinen Gehälter zu einem Hungerlohn gemacht hat. Dies betrifft sowohl Grundschul- und Hauptschul- als auch Lehrer des 2. Grades (was unseren Gymnasiallehrern entspricht).

Man sehe sich an, was die Lehrer verdienen, die im Streik stehen:

Ein Lehrer der Klassen 1 bis 4 bekommt monatlich bei einer 40-Stunden-Woche 1167 Reais (467 Euro), einer der Klassen 5 bis 8 1351 Reais (540 Euro), Schuldirektoren bekommen 1409 Reais (564 Euro), Schulräte 1638 (655 Euro). Das Hilfspersonal der Schulen (Hausmeister, Bibliothekar usw. ) erhält im Monat 635 Reais (254 Euro), die Mitarbeiter im Schulsekretariat 882 Reais (353 Euro).
Wer schon einmal mit Hartz-IV 347 Euro plus Miete auskommen musste, hat eine Vorstellung, was eine solche Bezahlung bei Vollzeitarbeit bedeutet (die Lehrer müssen natürlich ihre Miete von diesem Gehalt aufbringen).

Jeder kann sich vorstellen, wer unter diesem Bedingungen noch Lehrer wird, nur Idealisten und Leute, die als Lehrer ungeeignet sind.

Die Regierung Lula hat soeben den Bundes-Lehrern – wie auch anderen Bundes-Beschäftigten im öffentlichen Dienst - eine Erhöhung über der Inflationsrate zugestanden. Der Bundesstaat São Paulo aber wird von einem Vertreter der neoliberalen Oppositionspartei PSDB geleitet, der Partei des früheren Präsidenten Cardoso, deren Motto ist: „Keinerlei Erhöhung für öffentliche Bedienstete, Privatisieren von allem und der Markt richtet dann alles.“

Diesmal wird jener Gouverneur aber nicht darum herumkommen, denn der Streik hat offensichtlich eine hohe Beteiligung. Auch wenn der zuständige Staatssekretär behauptete, nur 2% der Schulen seien vollständig geschlossen, so zeigte sich bei der Demonstration und Kundgebung am Freitag im Zentrum von Saõ Paulo, wie gross die Beteiligung ist.

Kundgebung der streikenden Lehrer des Staates São Paulo in der Hauptstadt

Die „ Avenida Paulista“, der traditionelle Ort für Feiern und Demonstrationen in der grössten Stadt der südlichen Hemisphäre, war schwarz vor Menschen. Der Gouverneur hat inzwischen bereits 12% Erhöhung angeboten.


Veröffentlicht am 24. Juni 2008 in der Berliner Umschau


Originalveröffentlichung

Sonntag, 22. Juni 2008

Wie der Amazonas zu seinem Namen kam

Brasilien jenseits von Fußball und Samba

Teil 1: Wie der Amazonas zu seinem Namen kam

Von Elmar Getto

Brasilien (topographisch)

Brasilien, das bleibt für viele neben dem Fußball die Vorstellung von leicht bekleideten dunkelhäutigen Schönheiten. Eine Befragung von Fremdenführern in Rio de Janeiro ergab die Einschätzung, daß etwa 80% der Touristen aus Europa und den USA, die nicht in Geschäften in Brasilien sind, Männer mit klaren sexuellen Absichten sind.



Das Bild der halbnackten dunkelhäutigen Schönen aus Rios Karneval ist fast zum Symbol des Landes geworden, eine schwere Hypothek, die speziell Brasiliens Frauen zu tragen haben.

Rio de Janeiro Botanischer Garten 1

Aber Brasilien ist viel mehr als Fußball, braune Haut und Samba.

- Es ist das Fünfte in der Liste der bevölkerungsreichsten Länder der Erde und ebenso das fünftgrösste in Ausdehnung.

- Es ist das Entwicklungsland mit dem höchsten Brutto-Sozialprodukt (China und Indien können heute nicht mehr als Entwicklungsland betrachtet werden. Heute werden die vier Länder Brasilien, Russland, Indien und China als BRIC-Länder bezeichnet und gelten als Schwellenländer, als Länder an der Schwelle zu einem entwickelten Land.

- Es ist Nr. 11 in der Liste der Industriestaaten weltweit (GNP=Gross National Product), noch vor Spanien. In der Zählung nach Kaufkraft - ohne Verwendung der Wechselkurse, die von verschiedensten Faktoren abhängen - ist Brasilien auf dem 9. oder 10. Platz, etwa gleichauf mit Russland.

- Es besitzt bei weitem die größten Süßwasservorkommen aller Länder.

- Es ist das Land mit der größten Rassenmischung. Mehr als ein Drittel der Brasilianer haben Vorfahren aus mehr als einer der drei grossen Gruppen von Rassen. Das, soweit man die Existenz von Rassen als gegeben betrachtet, was nach heutigen Kenntnisen der menschlichen DNA aber nicht der Fall ist.

- Es besitzt die extremste Ungleichverteilung des Einkommens zwischen Arm und Reich außerhalb Afrikas.

- Es hat eine Anzahl der beeindruckendsten landschaftlichen Schönheiten der Erde, wie das Amazonasbecken, der Küstenregenwald Mata Atlântica, Rio de Janeiro, der Pantanal und die Iguaçu-Wasserfälle.

Rio de Janeiro, Zuckerhut und Corcovado von Niteroi aus

- Es dürfte inzwischen eines der Länder mit der größten Zahl an Gewaltverbrechen sein.

- Es hat nach einer Umfrage unter Touristen die freundlichste Bevölkerung.


Hieronymus Bosch Der Garten der Lüste

Hier beginnen wir die Serie über Brasilien mit einem Blick zurück in die Anfänge des Landes mit diesem Namen. Brasilien wurde - es geht die Sage, durch Zufall - von der Schiffsexpedition unter Pedro Alvares Cabral, einem portugiesischen Seefahrer und Eroberer, im Jahre 1500 entdeckt ("entdeckt" aus der Sicht Europas, in Wirklichkeit erobert), als er vom König Dom Manuel I. ausgeschickt worden war, den Weg Vasco da Gamas zu folgen, der ein Jahr vorher den Seeweg nach Indien um das Kap der Guten Hoffnung (die Südspitze Afrikas) entdeckt hatte.

Vasco hatte Cabral den Rat gegeben, die windarme Zone vor der Westküste des südlichen Afrika in weitem Bogen zu umfahren. Cabral hätte den Bogen etwas zu groß geschlagen, so geht die Sage, so daß er plötzlich Südamerika in der Form eines Berges zu sehen bekam und dann darauf zu hielt, um diese „Insel“ in portugiesischen Besitz zu nehmen, „wenn man schon mal da war“.

Viel wahrscheinlicher ist allerdings, daß der portugiesische König Anweisung gegeben hatte, in diesem Land auf dem Weg nach Indien ‚vorbeizuschauen’, denn zu diesem Zeitpunkt hatte Kolumbus bereits drei seiner vier Reisen in die „Neue Welt“ absolviert und dabei auch einmal südamerikanischen Boden betreten (3. Reise, 1498, auf der Höhe des heutigen Venezuela). Man wußte also, daß da weiter im Süden ebenfalls Land anzutreffen war. Ebenso hatte man bereits im Jahre 1494 im Vertrag von Tortillas mit den Spaniern die „Neue Welt“ in zwei Teile aufgeteilt (zu diesem Zeitpunkt noch ohne Gewissheit, ob es sich um die östlichen Teile Asiens handelt, wie Columbus meinte, oder ob man einen neuen Kontinent entdeckt hatte) und eine imaginäre Nord-Süd-Linie 370 Meilen westlich der Kapverdischen Inseln als Teilung festgelegt (alles östlich ging an Portugal, alles westlich an Spanien).

Die grossen Entdeckungs- und Eroberungsfahrten der Seefahrer (Kolumbus, Vasco da Gama, Magellan und andere) in der Renaissance (die Renaissance ist ja geradezu durch sie definiert) wurden nicht aus Entdeckungsdrang, sondern aus ganz kühlen wirtschaftlichen Gründen in Angriff genommen. Im Jahre 1453 hatten die Türken Konstantinopel erobert, das seitdem Istambul heißt und damit den Europäern den Landweg nach Indien abgeschnitten, das heißt zu den Kräutern und Gewürzen sowie den Textilfarbstoffen, die die Araber dort verkauften (eigentlich stammten diese Waren von den ‚Mollukken’, d.h. aus den Philippinen). Die wichtigsten Seemächte jener Zeit, Spanien und Portugal, sahen sich also herausgefordert, den Seeweg nach Indien zu finden und damit zu Weltmächten aufzusteigen.

Der Handel mit den Gewürzen, Kräutern und Farbstoffen aus Indien war zu jenem Zeitpunkt die größte Quelle des Reichtums in Europa, denn diese wurden fast in Gold aufgewogen (Pfeffer als das damals wertvollste Gewürz wurde sogar buchstäblich in Gold aufgewogen, Zimt stand dem nicht viel nach). Da sage noch jemand, aller Fortschritt der Menschheit käme nur aus dem Krieg – dieser kam aus dem Magen (Gewürze) und der Eitelkeit (Textilfarbstoffe)!

Kopernikus hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die tatsächlichen Verhältnisse festgestellt: Die Erde ist keine Scheibe, sondern eine Kugel und kreist um die Sonne. Gutenberg hatte die Buchdruckerei erfunden (1455) und damit konnte alle Welt von den Neuigkeiten erfahren. Portugiesische Schiffsbauer hatten die hochseegängigen ‚Naus’ entwickelt, die zwar langsam und keineswegs riesig waren, aber wenig Tiefgang hatten und damit ideal für unbekannte Gewässer waren. Die Spanier setzten auf die ‚Caravellen’, die größten und schnellsten Schiffe der Zeit, wenn auch immer bedroht von Felsen und Korallenriffen unter Wasser wegen ihres hohen Tiefgangs.

Damit waren die Voraussetzungen der Renaissance, der Neuzeit, gegeben.

Die Neuzeit unserer Geschichte begann, wie man weiß, mit einem Irrtum: Die Entdeckung Amerikas 1492 wurde von Kolumbus bis zu seinen Tod (1506) als der Seeweg nach Indien gepriesen, den aber in Wirklichkeit Vasco da Gama 1499 entdeckte, indem er Afrika umrundete.

Wer damals große Vermögen machte mit diesem Handel der Güter aus Indien, waren die italienischen Stadtstaaten und die Fugger in Augsburg. Diese waren damit auch am Seeweg nach Indien interessiert. Die einzige Ausnahme war Venedig, das einen Exklusivvertrag mit den Türken hatte und als einzige weiterhin Zugang zu den „Spezereien des Orients“ hatte. Sein Monopol war aus offensichtlichen Gründen den anderen italienischen Stadtstaaten und den Fuggers ein Dorn im Auge.

Die Fugger sandten einen Spion, dem es gelang, einen der Kapitäne von Kolumbus auszufragen. Die Herrscher in Florenz, die Medici, gründeten eigens eine Bank in Sevilla und sandten einen ihrer Teilhaber, einen gewissen Berardi, als Bankdiretor dorthin, um mitzuhelfen, Schiffsexpeditionen zu finanzieren, die den Seeweg nach Indien auftun könnten. Auch Mächtige aus Genua beteiligten sich an den Finanzierungen (Kolumbus war ja Genueser).

Americo Vespucci war Angestellter der Bank der Medici in Florenz (seine Familie war eine der noblen Familien von Florenz) und wurde 1491 nach Sevilla zur dortigen Bankfiliale entsandt. Im darauffolgenden Jahr war Berardis Bank eine der hauptsächlichen Finanzierer der Expedition des Christophorus Kolumbus, den Seeweg nach Indien in Richtung Westen zu suchen. Kurz nach dessen Rückkehr von der historischen Reise 1492 wurde Americo Vespucci Agent von Kolumbus und dessen Repräsentant am spanischen Hof. Drei Schiffe für die dritte Reise von Kolumbus, die 1498 in See stechen sollte, waren Teil eines Riesenauftrags von 12 Schiffen, den der spanische König Ferdinand bei Berardi in Auftrag hatte geben lassen. Die Medicis finanzierten die spanischen Eroberungsreisen, zu diesem Zeitpunkt noch auf der Suche nach einem Seeweg nach Indien nach Westen.

Bevor die 12 Schiffe übergeben werden konnten, starb Berardi und nun war Vespucci der Bankdirektor der Medicis in Sevilla. Er war es, der die Schiffe – verspätet – übergab. So wurde er Freund, Mitarbeiter und Finanzier Kolumbus. Es gelang ihm, auf eine der nächsten Reisen (des Hauptrivalen von Kolumbus) selbst mitgeschickt zu werden. Später trat er in die Dienste des portugiesischen Königs und ging mit auf zwei portugiesische Entdeckungsreisen in die südamerikanischen Besitzungen Portugals, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht Brasilien hießen, sondern „Vera Cruz“ und als Insel betrachtet wurden. Als getreuer Gefolgsmann seiner Auftraggeber aus Florenz sandte er über alle seine Beobachtungen Briefe an Lorenco de Medici.

Americo war vorher eigentlich nur bekannt als kleiner Bruder der schönen Simonetta Vespucci, die von Botticelli in seinem Meisterwerk „Die Geburt der Venus“ verewigt wurde und tragisch bereits 1476 an Tuberkulose starb.

Boticelli Geburt der Venus Ausschnitt

Seine Briefe an das Haus Medici wurden veröffentlicht, zusammengefaßt in einer Broschüre, die durch die neue Druckmethode weit verbreitet wurde. Da wurde u.a. die Schönheit und Exotik des neuen Kontinents und seiner Bewohner sowie ihre Gesellschaft geschildert. Diese Broschüre wurde durch die Fugger und andere finanziert und das in einem solchen Umfang, daß sie praktisch jeder in Europa las, der überhaupt lesen konnte. Ursprünglich in Latein geschrieben, wurde sie in Deutsch, Französisch, Italienisch, Holländisch, Spanisch und Tschechisch übersetzt. Die Broschüre fiel auch – wohl in der lateinischen Form – in die Hände von Thomas Morus, der damals Kanzler des englischen Königs war (man stelle sich vor, zu jener Zeit war es noch möglich, daß wirklich große Geister Kanzler wurden). Angeregt von der Beschreibung einer Gesellschaft in Harmonie und Frieden, schrieb er „Utopia“, das erste Werk in der Menschheitsgeschichte, das eine ‚utopische’ Vorstellung eines idealisierten menschlichen Gesellschaft verbreitet. Es wurde von Erasmus von Rotterdam herausgegeben.

Folgerichtig wurde der neue Kontinent dann auch nach Americo benannt – von einem Kolumbus hatte niemand je gehört (Americo wußte besser als jeder andere, wer den neuen Kontinent entdeckt hatte, erwähnte aber Kolumbus in seinen Briefen nicht ein einziges Mal), aber alle (die lesen konnten) hatten ‚den Americo’ gelesen. So wurde er zum einzigen Menschen, nach dem je ein Kontinent benannt wurde.

Weder der spanische noch der portugiesische König waren an der Entdeckung eines neuen Kontinents als solchem interessiert. Sobald klar war, daß es sich bei den „Inseln“, die man im Westen entdeckt hatte, nicht um Indien oder Asien handelte, sondern um einen neuen Kontinent (und das hatte Americo als erster erkannt und bereits in einem Brief an die Medici im Jahre 1501 belegt), war das einzige, was interessierte, ob es dort Gold und Edelsteine gab. Die Indios in Südamerika hatten wenig Goldschmuck, also ließ man Südamerika zunächst „links“ liegen. Die Spanier hatten aber auf dem nordamerikanischen Festland eine Kultur mit viel Goldschmuck entdeckt, die Azteken, und suchten die ergiebigen Goldminen, aus denen das stammen könnte. So drangen sie über Mittelamerika bis nach Südamerika vor und trafen dort auf die Inkas, ebenfalls mit Goldschmuck, und die Suche nach der Quelle des Goldes wurde intensiviert. Die Jagd nach „Eldorado“ hatte begonnen.

Gold

1540 sandte Spanien auf der Suche nach Eldorado eine Expedition von den Besitzungen der Inkas (heute: Peru), die man kurz zuvor erobert hatte, die Anden hinab in die Ebene, die heute als Amazonien oder Amazonasbecken bekannt ist – und damit kommen wir zu unserem Thema im engeren Sinne.

Der Leiter der Expedition war ein gewisser Francisco de Orellana, der alles minutiös von einem Mönch aufschreiben ließ. Allerdings hatte er (oder der Mönch) offenbar einige Probleme mit der Wahrheit oder sagen wir, er hatte eine selektive Erfassung der Wirklichkeit. Dies bereitete so manchen seiner Nachfolger Schwierigkeiten.

Orellana behauptete nämlich, Eldorado gefunden zu haben. Es sei gelegen auf einer Insel in einem riesigen See, der angeblich an einer Stelle im äußersten Norden des heutigen Mato Grosso, Bundesland Brasiliens, gelegen sei. Er habe lediglich nicht dorthin übersetzen können wegen des heftigen Widerstands des dortigen Indio-Stammes. Tatsächlich gibt es keinen solchen See und nicht Eldorado (Eine ganze Zeit später sollten die Portugiesen im Südosten Brasiliens, im heutigen Bundesland Minas Gerais, tatsächlich die größten bis dahin bekannten Goldvorkommen entdecken, aber das ist heute nicht das Thema, siehe hierzu den Teil 5 der Reihe).

Der Eindruck eines riesigen Sees mit Inseln darin kann am Amazonas in der Hochwasserzeit schon einmal aufkommen. Der Amazonas hat auf der Höhe von Manaus (wo er sich aus dem Zusammenfluss des Rio Negro und des Rio Solimões bildet und bereits eine Breite von mehreren Kilometern erreicht) einen Pegelunterschied von bis zu 15 Metern(!) zwischen der relativ trockenen Periode (September bis Dezember) und der noch viel feuchteren Periode als normal (Januar bis August), allerdings mit starken Schwankungen zwischen den Jahren. In der Hochwasserzeit sind auch viele Gebiete zwischen den Flußarmen überschwemmt und ein grosser Teil der Bäume des Urwalds stehen im Wasser. Bei Niedrigwasser fährt man mit Booten auf tief eingeschnittenen Flußarmen zwischen meterhohen Schlammufern.

Amazonas

Die riesige Schwankung in der Wasserführung des Amazonas führt zu der einmaligen Erscheinung, daß im Oberlauf des Rio Negro (Teilfluß des Amazonas) die Flußgebiete des Orinoko (Venezuela) und des Rio Negro ineinander übergehen. Bei Amazonas-Hochwasser fließt Amazonaswasser in den Orinoko, bei Niedrigwasser umgekehrt.

Was aber besonders die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen fand, war die Beschreibung Orellanas des Indio-Stammes, den er dort angetroffen hatte, die Cumurí: Der hätte nur aus Frauen bestanden und das seien Kriegerinnen gewesen. Und dieser Frauenstamm verteidige „Eldorado“. Orellana war offenbar ein gebildeter Mann. Er kannte griechische Mythologie. Er wußte, das die kriegerischen Frauen, die (fast) ohne Männer auskommen, Amazonen heißen. Er nannte daher das ganze Gebiet, in das er gekommen war „das amazonas“ (also Genitiv „der Amazonen“ in Spanisch). Mit der Zeit verlor sich dann das „das“ und der Begriff ‚Amazonas’ wurde auf den Fluß und dann auch auf die ganze Region angewandt.

Nur fand niemand später an der von ihm angegebenen Stelle den See und Eldorado, aber sehr wohl den Stamm der Cumuri, nur war der keineswegs nur von Frauen gebildet. Offensichtlich war Orellana (oder sein Mönch) so beeindruckt von der Tatsache gewesen, daß bei diesen Indios die Frauen genauso Krieger waren wie die Männer, daß er überhaupt nur noch Frauen gesehen hatte. In der ursprünglichen menschlichen Urgesellschaft gab es noch keine Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern.

Orellana durchquerte das gesamte Amazonasbecken bis zum Atlantik in mehr als zwei Jahren mit seiner Expedition. Einmal bis „Eldorado“ vorgedrungen (fast eine Jahresreise flußabwärts von Machu Picchu), sah er keine Möglichkeit mehr, gegen die Strömung flußaufwärts zurückzukehren, obwohl sein "Chef", Pizarro, dies angeordnet hatte. Später zurück in Spanien wurde er deshalb wegen Hochverrat angeklagt. Man weiß weiter nichts von seinem Schicksal. Er dürfte wohl enthauptet worden sein.

Tatsächlich war das Zusammentreffen der spanischen und portugiesischen Eroberer mit den Indios Brasiliens ein wahrer ‚Crash’ der Kulturen, gegen den die linden Unterschiede zwischen Muslims und europäischen Kulturen, die wir im Moment in Europa als abgrundtief empfinden, eine Kleinigkeit sind.

Auf der einen Seite die Eroberer, die eigentlich in dieser ihrer Eigenschaft die europäische Renaissance, den am weitesten fortgeschrittenen Teil der Menschheit darstellen sollten. In Wirklichkeit waren sie aber bis auf wenige (wie Americo Vespucci) noch Menschen des Mittelalters, unfähig, sich aus den engen Grenzen des Denkens herauszubewegen, die ihnen die Religion und die strengen mittelalterlichen Bräuche auferlegt hatten.

Auf der anderen Seite die Indios Brasiliens, die - nach bisheriger Annahme - allesamt noch in der Steinzeit lebten, ein Teil von ihnen sogar der frühen Steinzeit. Ob das wirklich so ist, muß inzwischen angezweifelt werden, aber darauf kommen wir in einer späteren Folge zurück.

Viele der Indio-Stämme in Brasilien zeichneten sich dadurch aus, daß sie noch keinen Ackerbau und Viehzucht kannten, sondern noch Jäger und Sammler waren (Urgesellschaft).

Die Regenwälder des Amazonas und der brasilianischen Atlantikküste boten so viel Überfluß an leicht zugänglicher Nahrung, daß die Entwicklung zu Bauern und Hirten zum Teil sehr langsam vor sich ging. Es gab so viele Früchte, die man nur zu pflücken brauchte und Wurzeln, die man essen konnte und auch die Jagd offerierte keine besonderen Schwierigkeiten. Die Flüsse (und das Meer) waren voll von Fischen, die Baumkronen voll von Äffchen und Papageien und andere Tiere konnte man auf dem Erdboden jagen. Wenn man gut mit Pfeil und Bogen oder dem Blasrohr umgehen konnte, war der Lebensunterhalt ohne großen Aufwand zu sichern. Dies galt natürlich nur solange, wie eine kleine Anzahl Menschen auf einem riesigen Gebiet lebte. Die Indios mußten nämlich in regelmäßigen Abständen ihr Dorf in jungfräuliche Gebiete verlegen.

Regenwald

Die Beschreibungen der Indios durch die damaligen Eroberer, wie auch die späterer „Besucher”, stimmen in einigen Punkten weitgehend überein: Die Zustände werden mit dem Begriff „paradiesisch” oder „Paradies“, die Indios immer wieder als „unschuldig” oder im „Stand der Unschuld” beschrieben, hervorgehoben wird, wie fröhlich und freundlich sie sind und wie bereitwillig sie Gäste aufnehmen. Auch der Begriff ‚friedlich’ wird weithin verwendet, auch wenn, wie sich heraustellte, die Indios absolut wehrhaft waren.

Sie werden auch als „naiv“, „leichtgläubig“ und „einfältig“ beschrieben. Und – was immer wieder Verwunderung hervorrief: Die Frauen waren geachtet und geehrt („als ob sie gleichwertig mit Männern wären“), in einigen Stämmen war auch noch keinerlei Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen eingeführt. Die Frauen waren genauso Krieger und Jäger wie die Männer – das mag Orellano getäuscht haben, als er Frauen als Kriegerinnen sah.

Und tatsächlich, die meisten Indios in Brasilien lebten noch im Paradies. Die Vorstellung eines Paradieses, in dem die ersten Menschen lebten und aus dem sie später vertrieben wurden, gibt es nicht nur in der christlichen Überlieferung, sondern in allen wesentlichen Kulturen der Menschheit. Es handelt sich schlicht um die durch Überlieferung weitergegebene Tatsache, daß die Menschen die ersten Zehntausende (oder Hunderttausende) von Jahren ihrer Geschichte (oder besser Vorgeschichte) in jenem gesellschaftlichen Zustand lebten, die die spanischen und portugiesischen Eroberer hier zum Teil noch antrafen: Die Urgemeinschaft, manchmal auch der Urkommunismus genannt.

Es gab noch kein Privateigentum, keine Familien und keinen Staat und damit gab es auch noch keine Ausbeutung und Unterdrückung. Das natürliche Gefühl der Solidarität mit anderen Menschen gebot die Gastfreundschaft und man sagte noch die Wahrheit und war damit leicht zu täuschen (Vielleicht mag man schon die kleinen Not- und Freundlichkeitslügen gekannt haben, die uns allen geläufig sind, aber in allen ins Gewicht fallenden Dingen wurde die Wahrheit gesagt). Es gab noch keine ökonomischen Gründe, jemanden zu täuschen. Und – nicht zuletzt – es gab noch keine Unterdrückung der Frau, es gab ja keine ökonomischen Gründe für eine solche Unterdrückung.

Wer sich genauer und auf wissenschaftlicher Ebene mit den damaligen gesellschaftlichen Zuständen auseinandersetzen will, kann dies bei Friedrich Engels in „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ nachlesen.

Demgegenüber war im Mittelalter in Europa die Frau eine Mischung von Haustier und Sklavin. Sie war in jeder Beziehung ‚dem Manne Untertan’. Nicht nur, daß die Mädchen der Leibeigenen dem Adelsherren in der ‚ersten Nacht’ zu Willen sein mußten, die Frauen hatten zum Mann zu nehmen, wer ihnen ausgesucht wurde, die Bauersfrauen und Mägde mußten neben der schweren Feldarbeit die gesamte Hausarbeit tun. Die adeligen Frauen hatten ebenfalls keine gleiche Stellung wie der Mann. Wie wir von den mittelalterlichen Burgen wissen, durften sie nicht einmal im gleichen Gebäude leben wie die Männer, sondern waren in ‚Frauenhäuser’ ausgelagert.

Das wirkliche Leben damals kannte - bis auf Ausnahmefälle – keine romantische Liebe zwischen Mann und Frau. Es gab natürlich die Lieder und Gedichte der Minnesänger und die Idee der romantischen Liebe war bekannt, eine Generation später würde Shakespeare in England diese Idee auf das höchste künstlerische Niveau bringen, aber die Realität war sehr prosaisch.

Eine Frau, die war zum Vögeln und zum Arbeiten da, ein Mann, das war der, dem man zu gehorchen hatte und den man nach Möglichkeit bei guter Laune halten sollte, sonst hagelte es Schläge.

Zum Begriff der „Unschuld“ der Indios hat sicher auch die Tatsache beigetragen, daß fast alle diese Stämme nackt herumliefen. Das Klima machte keine Kleidung notwendig, warum hätten sie sich also kleiden sollen – und schmücken konnte man sich auch ohne Kleidung. Alle Arten von Körperbemalung waren üblich und die vielen phantasiereichen Kopf-, Hals-, Taillen-, Arm- und Bein-Schmuckstücke, meist mit bunten Papageienfedern, kann der Tourist noch heute in Amazonien für wenige Cents erstehen.

Hieronymus Bosch, Garten der Lüste, Ausschnitt 17

Die Nacktheit war für jene Eroberer natürlich viel exotischer als sie es für uns heute wäre. Zwar gab es um die Zeit der Renaissance in Europa noch weithin das gemeinsame Schlafen der einfachen Bevölkerung auf dem Lande in Heu, das natürlich die Kenntnis anderer nackter Personen beinhaltete, aber unter den städtischen Kreisen war bereits die absolute Verpöntheit von Nacktheit und unverhüllten Brüsten vor anderen Personen üblich. Die damaligen Männer der Oberschichten bekamen außer bei ihrer Frau – und eventuellen Geliebten – nie eine zu sehen.

Da standen also Männer, die in mittelalterlicher Strenge, Zucht und Schamhaftigkeit erzogen waren, plötzlich Gruppen von Indios gegenüber, Männlein und Weiblein bunt gemischt und es sprangen ihnen die Brüste der Frauen und auch deren Schamlippen ins Auge (es war meist üblich, die Schamhaare zu entfernen). Auch die Tatsache, daß die Männer ihre Penisse zur Schau stellten, oft bunt angemalt, manchmal extra mit einem kleinen Bändchen an der Taille befestigt, damit ‚er’ auch in schlaffem Zustand nach oben zeigt, muß ihnen extrem fremdartig vorgekommen sein. Schließlich und endlich vermelden die Berichte, daß diese Frauen keine Scham kannten (!), einige forderten die stattlichen Europäer in ihren schillernden Rüstungen sogar erkennbar zu Sex auf!

Kurz, vom ersten Moment an stand Sex in der Luft, wenn diese Begegnungen an den Stränden oder im Urwald stattfanden – immerhin waren die Männer ja wochenlang oder sogar monatelang unterwegs gewesen ohne eine weibliche Seele zu sichten – Frauen an Bord waren grundsätzlich verboten (von Ausnahmen hören wir unten noch).

Karneval in Rio - Tänzerin fast nackt

So berichten denn auch die Chronisten von diesen Begegnungen häufig, daß man – von den Indios eingeladen – für eine Zeit bei ihnen blieb. Teilweise lebte man direkt mit den Indios im Dorf, in anderen Fällen zwang der Kommandant die Männer, auf den Schiffen zu bleiben. Sie konnten aber von dort aus immer wieder „Kundschafteraufträge“ bei den Indios durchführen.

Cabral z.B. hatte ausdrücklich das „Vermischen“ mit den Indios verboten und unter Strafe gestellt, aber die Chronisten lassen keinen Zweifel, daß die Männer trotzdem heimlich in die Dörfer gingen und dort mit offenen Armen - und wohl auch offenen Beinen - empfangen wurden.

Bosch, Garten der Lüste, Ausschnitt 18

Die erste große portugiesische Expedition nach Cabral unter Coelho, 1501 (an Bord: Americo Vespucci) mit dem Auftrag , die vermeintliche Insel näher zu untersuchen (Goldschmuck!), die die gesamte Küste des heutigen Brasiliens hinunterfuhr, was allerhöchstens einen Monat gebraucht hätte, dehnten diese Reise auf fast ein Jahr aus. Sie blieben über einen Monat vor Anker auf der Höhe der Mündung des San Francisco-Flusses, ohne daß sie irgendeine Erklärung dafür gegeben hätten. Etwas weiter südlich, auf der Höhe des heutigen Salvador, blieben sie noch länger und gaben zu, daß dort ein großer Teil der Männer mit Indios in deren Dorf gelebt hatten.

Tänzerin beim Karneval in Rio

Der Sex mit Indio-Frauen mußte aber auch aus anderen Gründen attraktiv für sie gewesen sein. Die mittelalterlichen Frauen zu Hause mußten ständig auf die Scham achten, die auch beim Sex mit dem Ehemann (oder Liebhaber) nicht übertreten werden durfte. Es war absolut undenkbar, in irgendeiner Weise zum Ausdruck zu bringen, daß für die Frau dabei Lust involviert sein könnte. Sex war etwas, was die Frau zu erdulden hat und sie sollte auch noch stolz darauf sein, daß sie absolut nichts dabei empfand. Diejenigen, die doch etwas empfanden, mußten dies gut verbergen.

Bosch, Garten der Lüste, Ausschnitt 7

Hier aber waren Indio-Frauen, die keinerlei Inhibierung kannten, für sie war Sex so fundamental und natürlich wie Essen. Keine von ihnen brauchte vorzuspielen, daß sie eventuell den Sex nicht genoß, keine konnte in Sex etwas anderes erblicken als Lust und Freude.

Auch gab es viele Stämme, in denen es noch keine Art von Verheiratung gab. Oft blieben Paare für lange Zeit zusammen, manchmal sogar fürs Leben, aber die weit überwiegnde Mehrzahl der Frauen und Männer machten Sex mit wechselnden Partnern, so wie es Lust und die Stunde ihnen eingaben. Zwar gab es Tabus, mit wem keine Sex gemacht werden dufte, aber das betraf immer nur eine Hälfte es Stammes. Mit allen anderen durfte man - und man tat es. Es gab keinerlei Regeln, nicht promisk sein zu dürfen (mit Ausnahmen).

Bosch, Garten der Lüste, Ausschnitt 2

Die Männer des Stammes hat also keinerlei Besonderheit darin gesehen, dass die Frauen auf Sex mit den hochgewachsenen "Dicknasen" aus waren - galt doch die Dicke der Nase auch als Anzeichen für ein anderes dickes Organ.

Kurz, die Europäer mussten sich vorkommen, als seien sie in einem Freudenhaus gelandet. Der wesentliche Unterschied aber war - und das wurde in einigen der Aufzeichnungen von damals hervorgehoben - dass die Frauen extreme Freude am Sex hatten und dies oft auch laut hinausschrieen.

Es wird auch tadelnd in den Aufzeichnungen festgestellt, dass dort "Perversionen" an der Tagesordnung waren. Das bezieht sich auf alles, was über die normale Missionarsstellung im Sex hinausgeht, also Oralsex, Analsex, andere Stellungen, Finger im Hintern, Sex vor anderen, Zusehen und Masturbieren, Gruppensex, gleichgeschlechtlicher Sex usw.

Gay-Sex war diesen Männern keineswegs unbekannt. Die spätere völlige Dämonisierung davon gab es noch nicht, ebensowenig die absurde Diskriminierung von Gays. Es gab zu diesem Zeitpunkt noch die Institution von "Lustknaben", ebenso wie die allgemeine Kenntnis, man könne auch mit Männern (Jungen) Sex machen.

Auf den Schiffen schliefen die einfachen Matrosen zusammen mit den Schiffsjungen auf Holzflächen, die etwas mit Pflanzenteilen abgepolstert waren. Das monatelange Zuammenschlafen von Männern dürfte zweifellos in einigen Fällen zu verschiedenen Arten von Sex geführt haben, zumindest des gegenseitigen Stimulierens und Lutschens bis hin zum Analsex. Es gibt eindeutige Zeugnisse, dass die Schiffsjungen teilweise in diesem Sinne missbraucht wurden.

Kein Wunder, daß alle möglichen Vorwände herhalten mußten, um den Aufenthalt an den Küste Südamerikas und in den Indiodörfern zu verlängern. Schließlich entwickelten die Portugiesen sogar einen Spruch, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen: „Não existe pecado embaixo do equador.“ „Es gibt keine Sünde unter dem Äquator“.

Es gibt ebenfalls Anzeichen, daß bei einem Teil der Reisen an den Küsten entlang auch Indio-Frauen mit auf die Schiffe genommen wurden, um sich so auch während der Reise vergnügen zu können. Allerdings war nicht daran zu denken, eventuell eine mit zurück nach Europa zu nehmen, dazu war das Frauenverbot auf den Schiffen viel zu streng. Wenn man Indios mit nach Europa nahm, zuerst Einzelne als eine Art von Trophäe, später ganze Gruppen als Sklaven, waren dies Männer (im zweiten Teil hören wir noch von den Ausnahmen).

Man ließ bei fast allen Expeditionen eine Anzahl von Männern der Schiffsbesatzung zurück, in Palisaden-Forts, fand diese Forts aber später oft verlassen vor und die Männer in den Indio-Dörfern.

Es gab auch auffallend viele Fälle von Desertion. Männer der Schiffsbesatzung verschwanden einfach in den Wäldern und wurden nie mehr gesehen. Einige dieser Deserteure tauchten Jahre später wieder auf, einer als Häuptling eines ganzen Indio-Stammes, ein anderer in einem Indio-Dorf, wo er stolz berichtete, bereits über hundert Indio-Kinder zu haben.

Die ersten Deserteure, über die berichtet wurde, waren zwei Schiffsjungen der Cabral-Expedition. Schiffsjungen waren damals Jungen aus der armen Bevölkerung, die in einer Art von Sklavenzustand auf den Schiffen gehalten wurden und die schwersten, gefährlichsten und unbeliebtesten Arbeiten verrichten mußten.

In der ‚neuen Welt’ war man zwar weit von zu Hause und Desertion bedeutete Todesstrafe – man konnte also nie zurück – aber hier konnte man im Paradies leben, während das Leben auf den Schiffen die Hölle war.

Es gab auch Männer, die darum baten zurückgelassen zu werden und später wieder abgeholt zu werden. Dem wurde am Anfang wenig stattgegeben – man wußte meist gar nicht, ob und wann eine neue Expedition diesen Punkt erreichen würde. Dann aber begann man, den Brasil-Baum (daher der Name Brasil = Brasilien) in beträchtlichen Ausmaß nach Portugal zu schaffen. Aus ihm konnte man einen roten Farbstoff gewinnen, der vorher zu den Seltenheiten gehört hatte, die aus Indien kamen. Nun kam man oft solchen Bitten nach, denn nun wurde ein regelmäßiger Schiffsverkehr zwischen Portugal und Brasilien eingerichtet. Viele der so Zurückgelassenen wurden aber nie wieder gesehen.

Hört man heute, daß nach einer Umfrage unter Fremdenführern von Rio de Janeiro etwa 80% des Tourismus, der nicht Geschäftsreise ist, von Männern mit eindeutig sexuellen Absichten gestellt wird, so muß man dies als geschichtliche Ironie ansehen (Marx: Geschichte wiederholt sich nicht, es sei denn als Farce). Vielleicht sind wir gar nicht so weit von mittelalterlichen Männern entfernt, wie man meint.

Attraktive Exotin

War Sex sicherlich einer der Hauptgründe, warum man – zumindest eine Zeit lang oder sogar auf Dauer– bei den Indios bleiben wollte, so darf man doch die Attraktivität der ganzen Lebensweise, das paradiesische dieses Lebens, nicht unterschätzen.

Man höre nur, was Americo Vespucci z.B. Über die Bucht von Angra dos Reis schreibt: „Einige Male steigerte ich mich hinein in den Duft der Bäume und der Blumen und den Geschmack dieser Früchte und Wurzeln, so sehr, daß ich bei mir dachte, ich sei im Paradies auf Erden. Und was soll ich sagen über die Vielfalt der Vögel, die Farbenpracht ihrer Gefieder und Gesänge, wie viele es sind und von welcher Schönheit? Ich will gar nicht weiter sprechen, denn ich befürchte, ihr werdet mit nicht glauben.“

Angra dos Reis ist genau jene Stelle, an die die Militärjunta Brasiliens beschloß die brasilianischen Atomkraftwerke zu plazieren - mit heftiger deutscher Unterstützung.

Das Leben im 16. Jahrhundert in Europa war hart und entbehrungsreich, die Rückreise voller Gefahren. Hier dagegen traf man eine Gesellschaft, die Teile des Tags mit Spielen, Malen, Bildhauern, Handwerken, Musizieren und Tanzen verbrachte – man mußte lediglich ein oder zweimal am Tag für das leibliche Wohl sorgen, d.h. Früchte pflücken gehen und Tiere oder Fische erlegen und grillen.

Von Zeit zu Zeit mußte das Dorf verlegt werden. Die Tiere im Umkreis lernten, sich entfernt zu halten und die früchtetragenden Bäume waren „abgegrast“. Dann war schwere Arbeit angesagt: Ein neues Haus für den Stamm mußte aus Holz, Blättern und Pflanzenfasern errichtet werden.

Es gab auch Begegnungen, die nicht so freundlich abliefen. Der spanische Seefahrer Pinzón, einer der Kapitäne der Kolumbus-Reise von 1492, wurde Ende des Jahres 1499 von der spanischen Krone mit einer weiteren Expedition beauftragt. Er erreichte den amerikanischen Kontinent im Januar 1500, abgetrieben durch einen Sturm, in Südamerika (die Seefahrer mußten damals bei jeder Atlantiküberquerung mit der Strömung von den Kanarischen oder Kapverdischen Inseln aus nach Westen segeln und kamen damit immer genau in die dort bis heute bestehende „Küche der Hurrikane“).

Später konnte rekonstruiert werden, daß Pinzón, entgegen seiner Annahme, in der Nähe der heutigen Stadt Fortaleza, Hauptstadt des brasilianischen Bundeslandes Ceará, anlandete, am Cap Ponta de Mucuripe, wo ein kleiner Fluß ins Meer mündet, der heute noch den Namen trägt, den die Indios ihm gegeben haben: Curu. Damit hatten eigentlich die Spanier Brasilien entdeckt, denn Cabral machte seine Entdeckung ja erst im April des gleichen Jahres, aber dies hatte keine praktischen Konsequenzen.

Pinzón, offenbar ein Mann vom Typ G.W. Bush, wurde bekannt dafür, daß er alle Indios, die er antraf, versuchte gefangenzunehmen und als Sklaven auf die Schiffe laden zu lassen. Er selbst beschreibt die Begegnung mit dem Stamm der Potiguar, die ihn dort am Strand des heutigen Ceará erwarteten, so, als ob die Indios angegriffen hätten. Wir können aber getrost davon ausgehen, daß er es war, der die Gefangennahme versuchte und die Wehrhaftigkeit der Indios kennenlernen mußte.

Potiguar war der Überbegriff für eine Gruppe von Indio-Stämmen, der zu jener Zeit die gesamte Küste vom Norden Cearás bis hinunter zum heutigen Bundesland Paraíba bewohnten, eine Strecke von 600 Kilometern. Sie waren bereits fortgeschrittener in der Entwicklung, kannten erste und einfache Formen von Ackerbau (Manniok-Wurzeln), hatten schon eine entwickelte Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau und erste frühe Formen einer Familienbildung. Dort am Strand traten den Spaniern nur die Männer, die Krieger des Stammes entgegen, vorsichtig auskundschaftend, was die fremdartigen Männer von den scheinbar riesigen Schiffen, in schillerndes Metall gekleidet, im Schilde führten.

Außerdem hatten die Potiguars eine kleine Unart, die damals viele Indios in Südamerika hatten, sie aßen Menschen.

(wird fortgesetzt)


Die Brasilien-Serie von Elmar Getto. Dieser erste Teil erschien am 24.11.2004 in "Rbi-aktuell", heute Berliner Umschau, hier akualisiert von Verfasser.


Hier die Links zu allen Teilen der Reihe „Brasilien jenseits von Fussball und Samba“

- Teil 1: „Wie der Amazonas zu seinem Namen kam“

- Teil 2: ‚Menschenfresser-Country’

- Teil 3: „Ausgerottete Künstler“

- Teil 4: Niemeyer ist 100 – ‚Auf dem Höhepunkt des Schaffens’

- Teil 5: Brasilien und Gold

- Teil 6: Die Landschaften Brasiliens – Der Amazonas-Regenwald

- Teil 7: Brasilien und der Strom

- Teil 8: Die Landschaften Brasiliens – Mata Atlântica

- Teil 9: Santos Dumont und der erste Motorflug

- Teil 10: SIVAM – Big Brother in Amazonien

- Teil 11: Sprit aus nachwachsenden Rohstoffen

- Teil 12: Regenwaldvernichtung und Trockenheit im Amazonasgebiet

- Teil 13: Wie unsere Zukunft in der beginnenden kapitalistischen Barbarei aussähe – „Ich habe kein Leben“

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